Er kroch tiefer in seinen Bootsmantel. Plotzlich konnte er es kaum noch erwarten, an Bord zu kommen. Der Mantel war neu und stammte von einem guten Londoner Schneider. Der Freund von Konteradmiral Winslade war mit ihm in der Werkstatt gewesen und hatte dabei so viel Takt entwickelt, da? sich Bolitho wenigstens nicht ganz ahnungslos vorkam. Er war so unsicher in diesen Dingen. Und doch mu?te er lacheln, als er an die Zeit in London dachte. Er wurde sich nie an London gewohnen konnen. Es war zu gro?, zu hektisch. Niemand hatte Zeit und Luft zum Atmen. Kein Wunder, da? die Leute in den gro?en Hausern um den St. James Square alle paar Stunden ihre Dienstboten hinausschicken mu?ten, um frisches Stroh auf die Stra?e zu breiten. Das Knarren und Rumpeln der Wagen konnte wahrhaftig Tote erwecken. Das Haus seiner Gastgeber war wunderschon gewesen, und sie selbst waren reizende Leute, auch wenn sie sich manchmal uber seine Fragen milde amusiert hatten. Noch jetzt wurde er aus ihren seltsamen Lebensformen nicht ganz klug. Es genugte anscheinend nicht, in einem so vornehmen, modernen Haus mit prachtigen Treppen und riesigen Kronleuchtern zu wohnen. Um zu den wirklich feinen Leuten zu zahlen, mu?te man an der richtigen Seite des Platzes wohnen, der Ostseite, wie Winslades Freunde.

Bolitho hatte allerlei einflu?reiche Leute kennengelernt; seine Gastgeber hatten bei ihren Diners dafur gesorgt. Er hatte in dieser Hinsicht genugend Erfahrungen gesammelt, um genau zu wissen, da? er ohne ihre Hilfe nie mit solchen Menschen zusammengekommen ware. An Bord seines Schiffes kam ein Kapitan gleich nach dem lieben Gott, aber in der Londoner Gesellschaft war er ein ganz kleines Licht.

Doch das alles lag jetzt hinter ihm. Er war wieder zu Hause. Seine Segelorder wartete schon auf ihn, nur der genaue Zeitpunkt des Ankerlichtens war noch unbestimmt.

Er spahte nochmals um die Mauer. Der Wind schlug ihm ins Gesicht wie eine Peitsche. Der Signalturm hatte die Undine uber seine Ankunft informiert; und schon bald wurde ein Boot fur ihn am holzernen Pier unterhalb der Mauer festmachen. Wie mochte wohl sein personlicher Bootsfuhrer Allday an Bord zurechtkommen? Es war seine erste Reise als Kapitansbootsmann, aber Bolitho kannte ihn genau genug, um zu wissen, da? er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Es war schon, ihn wiederzusehen: ein vertrautes Gesicht, ein Mann, auf den er sich verlassen konnte.

Er blickte zum George Inn hinuber, dem Wirtshaus an der Endstation der Postkutsche, wo ein paar Bediente sein Gepack bewachten, und dachte an die Garderobe, die er sich angeschafft hatte. Vielleicht war er doch nicht ganz unbeeinflu?t von London geblieben.

Als Bolitho wahrend des amerikanischen Unabhangigkeitskrieges sein erstes Kommando als Kapitan der Schaluppe Sparrow innehatte, war wenig Zeit gewesen, sich mit den Luxusgutern dieser Erde vertraut zu machen. Aber in London, mit dem Rest seiner Prisengelder in der Tasche, hatte er das nachgeholt: neue Hemden, bequemes Schuhwerk. Dazu der weite, lange Bootsmantel, der auch dem heftigsten Regen widerstehen wurde. Das war bestimmt zum Teil Winslades Verdienst. Sein Gastgeber hatte gelegentlich erwahnt, da? Bolithos Mission mit der Undine nicht nur einen tuchtigen Kapitan erforderte, sondern auch einen Mann, der etwas darstellte, wenn er mit den Reprasentanten fremder

Regierungen verhandelte. Da ware zum Beispiel, meinte er beilaufig, die Frage des Weines.

Miteinander waren sie in einen niedrigen, holzgetafelten Laden in der St. James' Street getreten, der vollig anders aussah, als Bolitho sich das gedacht hatte. Die Ladentur trug als Symbol eine Kaffeemuhle, und daruber stand in Goldschrift der Firmenname: Pickering & Clarke. Der Laden wirkte gemutlich, sogar intim, und hatte sich ebensogut in Falmouth befinden konnen.

Hoffentlich war der Wein bereits an Bord. Wenn nicht, wurde er wahrscheinlich ohne ihn absegeln mussen, aber mit einem gro?en Loch in seiner Geldborse. Es mu?te ein fremdartiges und aufregendes Erlebnis sein, allein in der Kajute zu sitzen und diesen wundervollen Madeira zu probieren. Das wurde ihm London ins Gedachtnis zuruckrufen, die feinen Hauser, die schlagfertigen, witzigen Gesprache und die Frauen, die einen so merkwurdig anschauten. Ein paarmal war ihm das letztere direkt unangenehm gewesen. Sie hatte ihn an die Zeit in New York wahrend des Krieges erinnert, diese Dreistigkeit in den Gesichtern, die selbstbewu?te Arroganz, die ihnen zur zweiten Natur geworden zu sein schien.

Ein Eckensteher rief ihn an:»Da kommt Ihr Boot, Kapt'n! Ich helfe mit Ihrem Gepack!«Er fa?te an den Hut und rannte zum Gasthaus, um die Hausdiener zu benachrichtigen, wobei er sich vermutlich uberlegte, wieviel Trinkgeld von einem Fregattenkapitan zu erwarten war.

Bolitho druckte sich den Hut fest in die Stirn und trat in den Wind hinaus. Es war die Barkasse der Undine, ihr gro?tes Boot. Die Riemen hoben und senkten sich wie Mowenschwingen, als sie auf den Pier zusteuerte. Es mu?te ein schweres Rudern sein, uberlegte er; sonst ware Allday mit der Gig, dem kleineren Boot, gekommen.

Freudige Erwartung erfullte ihn, und beinahe hatte er uber das ganze Gesicht gelacht. Das dunkelgrun gestrichene Boot, die Rudergasten in ihren karierten Hemden und wei?en Hosen — alles war wieder da. Es war wie eine Heimkehr.

Die Riemen flogen hoch und standen senkrecht wie zwei Reihen wei?er, schwingender Barten, wahrend der Mann im Bug festmachte und einem eleganten Midshipman beim Aussteigen half. Der zog schwungvoll den Hut:»Zu Ihren Diensten, Sir.»

Das war Midshipman Valentin Keen, ein junger Mann, dessen Kommandierung auf die Undine wohl, wie Bolitho mutma?te, in erster Linie erfolgt war, um ihn von England wegzubringen, und nicht so sehr, um seine maritime Karriere zu beschleunigen. Er war dienstaltester Midshipman an Bord; und wenn er die Reise uberlebte, wurde er wahrscheinlich als Leutnant zuruckkehren — auf alle Falle wurde er ein Mann geworden sein.

«Meine Kisten sind da druben, Mr. Keen.»

Reglos stand Allday in der Achterplicht; sein blauer Rock und seine wei?e Hose flatterten im Wind, und nur mit Muhe gelang es ihm, ein dienstlich starres Gesicht zu behalten.

Die Beziehung zwischen ihnen beiden war seltsam. Allday war als gepre?ter Matrose an Bord der Phalarope gekommen. Als sie bei Kriegsende stillgelegt wurde, blieb Allday bei ihm in Falmouth: als Diener, Leibwachter und Freund, auf den er sich verlassen konnte. Jetzt, als Kapitansbootsmann, wurde er standig um ihn und manchmal der einzige Kontakt zu jener anderen Welt jenseits des Kajutschotts sein. Allday war sein Leben lang Seemann gewesen; nur kurze Zeit lebte er als Schafer in Cornwall, und ausgerechnet da hatte Bolithos Pre?kommando ihn geschnappt: ein seltsamer Anfang. Bolitho mu?te an Mark Stockdale, Alldays Vorganger, denken: einen ehemaligen Faustkampfer, der wegen seiner beschadigten Stimmbander kaum richtig sprechen konnte. Er war in der Seeschlacht bei den Saintes gefallen, als er Bolitho den Rucken deckte. Armer Stockdale… Bolitho hatte nicht einmal gesehen, wie er starb.

Allday kletterte an Land.»Alles klar, Captain. Ein feines Abendbrot wartet in der Kajute. «Er schnauzte einen Matrosen an:»Schnapp dir die Kiste da, du Idiot, oder ich fre? deine

Leber!»

Grinsend nickte der Matrose. Bolitho war beruhigt. Alldays bemerkenswerte personliche Ausstrahlung schien sich bereits durchgesetzt zu haben. Er konnte fluchen und prugeln wie ein Wilder, wenn es notig war. Aber Bolitho hatte gelegentlich zugesehen, wie er Verwundete versorgte, und kannte auch seine andere Seite. Kein Wunder, da? die Madchen auf den Farmen rund um Falmouth ihn vermi?ten. Aber nach Bolithos Meinung war es besser fur Allday, zur See zu fahren. In letzter Zeit war zu viel uber seine Amouren geredet worden. Endlich war das Boot beladen, die Bedienten und der Eckensteher hatten ihr