Er offnete die Tur, und etwa sechs Offiziere, die drau?en gewartet hatten, sprangen hoffnungsvoll auf.

Browne erhob sich muhsam von einer Bank, das Gesicht aschfarben.»Ich habe die Adresse, Sir. «Er beschleunigte seinen Schritt, um mit Bolitho mitzukommen.»War es zufriedenstellend, Sir?»

«Wenn Sie es zufriedenstellend nennen, sich wie ein Schuljunge abkanzeln zu lassen, dann kann ich sagen: ja. Und wenn es Sie befriedigt, jeden schriftlichen Befehl zu befolgen, selbst wenn er von einem Esel mit verbundenen Augen ausgestellt wurde, dann mu? ich noch einmal bejahen.»

Browne sagte:»Dann war es also kein Erfolg, Sir?»

«Nein. «Bolitho wandte sich ihm am Fu? der Treppe zu.»Wollen Sie noch immer bei mir bleiben?»

Vor Brownes bedrucktem Gesicht konnte Bolitho ein Lacheln nicht unterdrucken. Seine Tischdame mu?te ihn bis zur Erschopfung beansprucht haben.

Browne ri? sich zusammen.»Das will ich, Sir. «Er schielte auf ein Stuck Papier.»Unser Quartier ist nicht allzuweit weg, Sir. Ich kenne mich am Cavendish Square ziemlich gut aus. «Gequalt setzte er hinzu:»Wir wohnen nicht auf der vornehmen Seite, furchte ich.»

Allday wartete drau?en am Wagen, klopfte den Pferden die Halse und schwatzte mit dem Kutscher.

Bolitho kletterte hinein und zog seinen Umhang aus. Dabei erinnerte er sich an die Frau, die er in seinen Armen gehalten hatte, als sie zu Lord Swinburne fuhren.

Die Kutsche schwang in ihrer guten Federung, als Browne neben ihm Platz nahm.

«Erinnern Sie sich an die junge Dame, Browne?»

Browne sah ihn direkt an.»An Mrs. Laidlaw, Sir?»

«Ja. «Fast hatte er >naturlich< gesagt.»Haben Sie herausgefunden, wo sie wohnt?»

«Das Haus gehort einem alten Richter, Sir. Er hat, soweit ich erfuhr, eine ebenso alte Frau, die au?erdem ziemlich unangenehm sein soll.«»Und weiter?»

Browne fand offenbar zu sich selbst zuruck. Er spreizte die Hande.»Das ist alles, Sir. Der Richter ist oft im Gericht und auch sonst viel von zu Hause weg. «Er schluckte unter Bolithos fragendem Blick.»Mrs. Laidlaw ist Gesellschafterin der Richtersgattin, Sir.»

«Gro?er Gott!»

Browne fuhr zuruck.»Ich… Tut mit leid, Sir. Habe ich etwas Falsches gesagt oder getan?»

Bolitho horte ihn nicht. Also Gesellschafterin. Viele Witwen waren in dieser Zeit genotigt, derartige Stellen anzunehmen, aber sie doch nicht? So jung, so vital und begehrenswert? In seinen Gedanken mischten sich Arger und Besorgnis. Rupert Seton hatte ihr Hilfe angeboten und fur ihre Heimfahrt gesorgt. Seton war reich und hatte muhelos auch fur ihren Unterhalt und Schutz Sorge tragen konnen. Was Bolitho jetzt erfuhr, klang so gar nicht nach dem Seton, den er kannte, dessen Schwester er geliebt hatte. Er konnte es kaum glauben. Aber was sollte er tun? Eines war sicher: Er wurde die Dinge nicht auf sich beruhen lassen, und wenn er sich in den Augen anderer damit wieder zum Narren machte.

Der Wagen hielt vor einem eleganten Gebaude mit breitem, saulenumrahmten Eingang: Wieder ein nur vorubergehender Wohnsitz. Wenn er auch, laut Browne, nicht auf der >vornehmen< Seite des Platzes lag, so war er doch recht eindrucksvoll.

Browne nickte mude zwei Dienern zu, die herbeieilten, um ihnen zu helfen. Zu Bolitho sagte er:»Benotigen Sie mich noch, Sir?»

«Ruhen Sie sich aus. Wenn Sie erfrischt und nach Ihrer Orgie einigerma?en wiederhergestellt sind, mochte ich Sie bitten, einen Brief fur mich zu besorgen.«»Einen Brief?«Brownes Augen blickten ins Leere.»Ja. Ins Haus des Richters, das Sie erwahnten. «Browne schluckte.»Ist das klug, Sir?»

«Wahrscheinlich nicht. Aber im Augenblick scheint Klugheit sowieso wenig gefragt zu sein.»

Allday beobachtete von der Tur aus, wie die Diener ihre Seekisten in die warme Diele trugen. So gefiel ihm Bolitho schon besser. Sie wollten Zunder haben, also gab er ihnen welchen. Er wandte sich um, als eine Frau fragte:»Mochten Sie etwas essen, Sir?»

Allday lie? seinen Blick wohlgefallig auf ihr ruhen. Sie hatte eine vollschlanke Figur, und ihre drallen, runden Arme waren zur Halfte wei? von Mehl. Aber ihr Gesicht war freundlich und klar. Lassig erwiderte er:»Nennen Sie mich einfach John, meine Liebe. «Ihre nackten Arme streichelnd, fugte er hinzu:»Ich helfe Ihnen auch gern dabei, wenn Sie wollen. Sie wissen doch, was man uber Seeleute sagt.»

Die Kuchentur schlug hinter den beiden zu.

Kapitan Herrick nippte an einem Krug Starkbier und lie? den Blick uber die restlichen Abrechnungen und Akten schweifen, die seiner Beachtung harrten.

Es war ungewohnlich, die Benbow so ruhig zu erleben, und das — zusammen mit der vielen Arbeit und dem starken Bier — machte ihn ziemlich schlafrig.

Im geschutzten inneren Hafenbecken von Portsmouth zu liegen war doch etwas anderes, als im lebhaften Solent oder in der rauhen Bucht unterhalb von Skagen zu ankern.

Er ging die Liste der erforderlichen Reparaturen und Ersatzlieferungen wohl zum hundertstenmal durch, immer in der Erwartung, doch noch einen Fehler, einen vergessenen Posten zu entdecken.

Herrick war mit Recht stolz auf das, was er und seine Besatzung geschafft hatten. Fur die meisten war es bestimmt nicht leicht gewesen, fast ununterbrochen zu arbeiten und dabei zu wissen, da? in der Stadt und rundum im Lande andere mit gro?em Aufwand Weihnachten feierten.

Aus eigener Tasche hatte Herrick so etwas wie ein Festmahl fur seine Seeleute und Soldaten spendiert. Einige hatten sich dabei derart betrunken, da? man sie mit Gewalt an Bord festhalten mu?te. Aber es hatte sich trotzdem gelohnt, denn als sie dann wieder zur Arbeit kamen, hatte er eine Veranderung bei den Leuten gespurt, die wie ein munterer Shanty durch das Schiff lief.

Er dachte an seine Frau, die darauf wartete, da? er an Land kam, wenn er seine Arbeit fur diesen Tag erledigt hatte. Es war alles so neu und wunderbar: der nette kleine Gasthof, der von einem freundlichen Wirt und seiner Frau geleitet wurde; ihr eigenes Zimmer, in dem er mit Dulcie Plane schmieden und gemeinsam traumen konnte.

Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich wieder seinen Listen und Buchern zu: dem Arbeitsbuch, der Personalliste, der Vorratsliste mit Angaben uber Munition, Ersatzsegel und all die anderen Dinge, die auf einem vollgetakelten Linienschiff vorhanden sein mu?ten.

Herrick hatte viel an Bolitho gedacht und sich gefragt, wie dieser wohl in London zurechtkam. Er wu?te, da? Bolitho sich in der Hauptstadt noch nie wohl gefuhlt hatte. Stra?en voller Pferdemist, ein Ort, der sich mit seinem eigenen Gestank vergiftet, hatte er einmal gesagt. London war inzwischen derart mit Fahrzeugen aller Art uberfullt, da? die vermogenden Leute Stroh auf das Kopfsteinpflaster vor ihren Turen streuen lie?en, um den Larm der eisenbeschlagenen Rader zu dampfen.

Mehr als einmal versuchte Herrick, sich seiner Gefuhle wahrend des Kampfes mit dem franzosischen Admiral Ropars zu erinnern. An der Seite Bolithos hatte er dem Tod mehr als einmal ins Auge geschaut, aber jedesmal schienen sie naher daran zu sein als zuvor. Er sah Bo-litho wieder auf der Laufbrucke der Benbow stehen und — die feindlichen Scharfschutzen mi?achtend — seinen Hut schwenken, um seinen Leuten fur den aussichtslos scheinenden Kampf Mut zu machen.

Viele Manner waren an jenem Tag gefallen oder verwundet worden. Herricks Offiziere hatten schon die Gassen von Portsmouth und die umliegenden Dorfer der Grafschaft Hampshire nach Ersatzleuten abgegrast. Herrick hatte sogar Flugblatter drucken und auf die Gasthofe und Rathauser verteilen lassen, wo sie des Lesens unkundigen Leuten vorgelesen werden sollten, in der Hoffnung, da? der eine oder andere daraufhin zu den Fahnen eilte.

An diesem Vormittag hatte auch die Relentless im Hafen geankert. Sie war auf ihrem Posten von der schnell reparierten Styx abgelost worden. Nachrichten waren ausgetauscht worden, neue Leute verpflichtet. Die Marine erlaubte nur wenig Zeit fur eine Erholung. Herrick betrachtete die gro?e neue Landesflagge, die der Bootsmann nach achtern gebracht hatte, die Flagge mit dem zusatzlichen St.-Patricks-Kreuz. Fur Herricks praktischen Sinn schien es verschwendete Muhe, eine Flagge zu andern, wenn die ganze Welt darauf aus war, sich selber zu vernichten.