Alexander Kent
Die Feuertaufe
Richard Bolitho — Fahnrich zur See
Fur
John und Betty Hamilton
I SM Linienschiff Gorgon
Es war zwar erst um die Mittagszeit, aber die dunklen Wolken jagten so tief uber den Hafen von Portsmouth hinweg, da? man hatte meinen konnen, es sei bereits Abend. Seit Tagen wehte ein heftiger Ostwind, und drau?en an der Reede, wo die Schiffe dicht beieinander vor Anker lagen, war das Wasser kabbelig und hatte wei?e Schaumkronen; und in dem ungemutlichen Regen glitzerten die schaukelnden Schiffs-rumpfe und die massigen Mauern der Hafenbefestigungen wie Metall.
Direkt auf dem Portsmouth Point erhob sich der festgefugte Bau des Blue Post's Inn, dem weder Regen noch Wind etwas anhaben konnten. Wie alle Kneipen und Gasthauser in geschaftigen Hafenstadten war er im Lauf der Jahre mehrfach vergro?ert und umgebaut worden, aber er sah immer noch wie eine richtige Seemannskneipe aus. Allerdings wurde er mehr als von anderen Seefahrern von den jungen Midshipmen frequentiert, die wie Ebbe und Flut kamen und gingen; daher hatte er seine eigene Atmosphare. Die Gaststube war niedrig und nicht besonders sauber, aber schon mehr als ein zukunftiger Admiral war durch ihre zerkratzten Turen ein- und ausgegangen.
Es war Mitte Oktober 1772, und Richard Bolitho sa? eingeklemmt an einem der Tische im Speiseraum und horte mit halbem Ohr das Stimmengewirr um ihn herum, das Geklapper der Teller und Glaser, den Regen, der an die kleinen Fenster prasselte. Die Luft war schwer von allerlei Geruchen — Essen und Bier, Tabak und Teer, und dazu kam jedesmal, wenn sich die Turen offneten, mit einem Chor von Fluchen und Schimpfworten ein Schwall salziger Luft hinein, der von drau?en, wo die Schiffe lagen, heruberwehte.
Richard Bolitho streckte die Beine von sich und seufzte. Nach der langen und knochenbrecherischen Postkutschenfahrt von Falmouth, wo sein Elternhaus stand, und nach einer gro?en Midshipmen hie?en damals die Offiziersanwarter der englischen Kriegsflotte, also die Seekadetten und Fahnriche zur See, die auf den Kriegsschiffen ausgebildet wurden. Heute bezeichnet» Midshipman «die Rangstufe zwischen Naval Cadet (Seekadett) und SubLieutenant (Unterleutnant); die Ausbildung findet vorwiegend an Land statt (d. Ubs.).
Portion Kaninchenpastete (ein Stammgericht des Blue Post's Inn fur die» jungen Gentlemen«) war ihm schlafrig zumute. Neugierig blickte er sich nach den anderen Midshipmen in seiner unmittelbaren Nahe um. Einige waren wirklich sehr jung, praktisch noch Kinder, hochstens zwolf Jahre alt. Trotz der Reserviertheit, die in Bolithos Charakter lag, mu?te er lacheln. Auch er selbst war mit zwolf Jahren als Midshipman auf sein erstes Schiff gekommen. Und wie hatte ihn das Leben bei der Flotte seither verandert! Er konnte sich kaum noch vorstellen, wie er damals gewesen war. Vermutlich nicht viel anders als einer der Knaben dort an den Tischen; und denen wurde es genauso ergehen, wie es ihm damals ergangen war: angstlich wurden sie sein, eingeschuchtert von der rauhen, fast feindseligen Atmosphare an Bord eines Kriegsschiffes, und doch irgendwie entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen; und stets fest davon uberzeugt, da? die Existenz eines Midshipman allen anderen an Bord hochst gleichgultig sei.
Vier Jahre war das her. Es war immer noch schwer, damit fertig zu werden. Vier Jahre, in denen er reif geworden war und sich von dem Schiff, das ihn umgab, hatte formen lassen. Zuerst hatte er geglaubt, er wurde all das, was da von ihm verlangt und gefordert wurde, niemals lernen. Den ganzen verwirrenden Komplex von Takelung, Wanten und Rahen. Die Meilen von Tauwerk jeder Starke und Lange, die notig sind, um ein Schiff in Bewegung zu bringen und es zu beherrschen. Segeldrill hoch oben auf den wie trunken schwankenden Rahen in Regen und Hagel, oder wenn es so hei? war, da? er manchmal fast ohnmachtig geworden und in die Tiefe, auf das Deck unten, hinabgesturzt ware. Er hatte die ungeschriebenen Gesetze jener Welt zwischen den Decks gelernt, die Hierarchien und Regeln, die das Leben in dem uberfullten, turbulenten Milieu eines Kriegsschiffs uberhaupt erst moglich machen. Er hatte nicht nur uberlebt, er war sogar besser durchgekommen, als er es fur moglich gehalten hatte. Allerdings nicht, ohne da? einige Beulen und Tranen den Weg markierten.
Heute, an diesem trubseligen Oktobertag, war er im Begriff, sich auf seinem zweiten Schiff zum Dienst zu melden. Es war die Gorgon, 74 Geschutze, und sie lag irgendwo im Solent[1] vor Anker.
Er beobachtete mit grimmigem Lacheln, wie ein kleinerMidshipman ein riesiges Stuck gekochtes Schweinefleisch hinunterschlang. Das wurde dem Kleinen noch leid tun. Bei diesem Wind hatte er bis zu seinem Schiff eine lange und hochst bewegte Bootsfahrt zuruckzulegen.
Plotzlich mu?te Bolitho an sein Elternhaus in Cornwall denken, an das gro?e Haus aus grauem Stein unterhalb Pendennis Castle, wo er mit seinem Bruder und seinen beiden Schwestern aufgewachsen war. Ubrigens lebten die Bolithos schon seit Generationen in diesem Haus. Als er auf Urlaub kam, war es anders gewesen, als er erwartet hatte, anders, als er es sich in Sturm und Hitze ertraumt hatte. Erstens waren nur die Mutter und die Schwestern dagewesen, um ihn zu begru?en. Sein Vater, Kapitan eines der Gorgon ungefahr ahnlichen Schiffes, segelte irgendwo im Indischen Ozean. Hugh, sein Bruder, war Senior Midshipman[2] auf einer Fregatte[3] im Mittelmeer. Nach dem Leben auf dem Linienschiff war Richard das Haus sehr still vorgekommen.
Seine neue Einberufung war ihm an seinem sechzehnten Geburtstag zugestellt worden: Er hatte sich auf dem allerschnellsten Wege nach Spithead zu begeben und sich dort an Bord Seiner Britannischen Majestat Schiff Gorgon, unter Kapitan Beves Conway, zum Dienst zu melden. Das Schiff wurde zur Zeit neu ausgerustet.
Seine Mutter hatte versucht, ihren Kummer zu verbergen. Seine Schwestern reagierten mit Lachen und Weinen wie es ihnen gerade in den Sinn kam.
Auf dem Weg zur Haltestelle der Postkutsche hatten ihm die Landarbeiter, an denen er vorbeikam, gru?end zugenickt. Aber zu wundern schienen sie sich nicht. Seit vielen, vielen Jahren ging immer wieder ein Bolitho aus dem Haus und an Bord dieses oder jenes Schiffes. Und mancher war nie zuruckgekehrt.
Jetzt fing das alles fur Richard Bolitho zum zweitenmal an. Er hatte sich geschworen, da? er gewisse Fehler nicht mehr machen wurde, da? er gewisse Dinge, die er gelernt hatte und die wichtiger waren als alles andere, nie vergessen wurde. Ein Midshipman war weder Fisch noch Fleisch. Er stand zwischen den Leutnants und dem eigentlichen Ruckgrat der Besatzung, den Deckoffizieren.[4] An einem Ende des Schiffes, unnahbar und fern, gottahnlich, logierte der Kapitan. Mitten im standigen Strom hin- und hereilender Mannschaften lag das enge, vollgestopfte Midshipmen-Logis. Die Mannschaft — Matrosen und Seesoldaten, Freiwillige und Gepre?te waren zwischen die Decks gepfercht und doch zu jeder Zeit durch Rang und Dienstalter voneinander getrennt. Harte Disziplinarstrafen bildeten eher die Regel als die Ausnahme; der Dienst am Schiff bei jedem Wetter war gefahrlich und forderte manches Menschenleben — das war selbstverstandlich, man sprach nicht daruber.
Wenn die Landratten ein Schiff des Konigs sahen, das von der Kuste ablegte, alle Rahen frisch getakelt und von Matrosen wimmelnd, wenn sie das Krachen der Salutgeschutze horten, dazu die lustigen Stimmen der Manner am Ankerspill, die einen alterprobten Shanty sangen, dann hatten sie keine Ahnung von jener anderen Welt tief unten im Schiffsraum. Und das war wahrscheinlich auch ganz gut so.