«Passap.»
Es stellte sich heraus, daß Monsieur Arnolph den weltberühmten Maler verehrte, doch war es Georgette immer noch ein Rätsel, was denn das Bild darstellen sollte.
«Das richtige Leben«, behauptete Archilochos.
«Da unten steht aber >Chaos<«, rief Georgette und wies in die rechte untere Ecke des Bildes.
Archilochos schüttelte den Kopf.»Große Künstler schaffen unbewußt«, meinte er.»Ich weiß einfach, daß dieses Bild das richtige Leben darstellt.»
Doch nützte es nichts, was Archilochos dermaßen kränkte, daß er drei Tage nicht mehr erschien. Dann kam er wieder, und Madame Bieler lernte mit der Zeit das Leben des Monsieur Arnolph kennen, soweit man überhaupt von einem Leben reden konnte, so pünktlich, wohlgeordnet und schief war alles. So gab es beispielsweise in der Weltordnung des Archilochos noch die Nummern fünf bis acht.
Nummer fünf war Bob Forster-Monroe, der Ambassador der Vereinigten Staaten, zwar nicht ein Altneupresbyteraner der vorletzten Christen, sondern ein Altpresbyteraner der vorletzten Christen, ein schmerzlicher, doch nicht hoffnungsloser Unterschied, über den der in religiösen Dingen gar nicht untolerante Archilochos stundenlang reden konnte. (Er lehnte außer den anderen Kirchen nur noch die Neupresbyteraner der vorletzten Christen entschieden ab.)
Nummer sechs der Weltordnung war Maître Dutour.
Nummer sieben Hercule Wagner, der Rector magnificus der Universität.
Dutour hatte einen längst geköpften Lustmörder verteidigt, einen Hilfsprediger der Altneupresbyteraner (nur das Fleisch vergewaltigte den Geist des Hilfspredigers, die Seele blieb außerhalb, unbesudelt, gerettet); der Rector magnificus dagegen hatte das Studentenheim der vorletzten Christen besucht und sich fünf Minuten mit Nummer zwei der Weltordnung (Bischof) unterhalten.
Nummer acht war Bibi Archilochos, sein Bruder, ein guter Mensch, wie Arnolph betonte, arbeitslos, was Georgette verwunderte, war doch dank Petit-Paysan das Land beschäftigt.
Archilochos wohnte in einer Mansarde nicht weit von >Chez Auguste<, wie die kleine Wirtschaft des Champions hieß, und brauchte über eine Stunde, bis er seinen Arbeitsplatz im weißen, zwanzigstöckigen, von Corbusier konstruierten Verwaltungsbau der Petit-Paysan Maschinenfabrik AG erreichte. Was die Mansarde betrifft: Fünf Stockwerke hoch, übelriechender Korridor, klein, schräg, unbestimmte Tapete, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett, eine Bibel, hinter einem Vorhang sein Sonntagskleid. An der Wand: erstens Staatspräsident, zweitens Bischof, drittens Petit-Paysan, viertens Reproduktion eines Bildes von Passap (viereckige Dreiecke) und so weiter bis zu Bibi hinunter (Familienbild mit Kinderchen). Aussicht: Blick auf eine schmutzige Fassade, zwei Meter vom Fenster entfernt, Abortwand, abenteuerliche Flecke, weiß, gelb und grün, in regelmäßigen Reihen offene stinkende Fensterchen, die Wand nur manchmal im Hochsommer gegen Mittag von oben verklärt, dazu der Lärm der Wasserspülungen. Was den Arbeitsplatz betrifft: mit fünfzig anderen Buchhaltern in einem großen, mit Glas unterteilten Raum, labyrinthartig, nur Zickzackgänge ermöglichend, im siebenten Stock, Abteilung Geburtszangen, Ärmelschoner, Bleistift hinter dem Ohr, grauer Arbeitskittel; Mittagessen in der Kantine, wo er unglücklich war, weil weder der Staatspräsident noch der Bischof dort hingen, nur Petit-Paysan (Nummer drei). Archilochos war nicht ein eigentlicher Buchhalter, nur ein Unterbuchhalter. Vielleicht noch genauer: Der Unterbuchhalter eines Unterbuchhalters. Kurz, einer der untersten Unterbuchhalter, soweit man von einem untersten sprechen konnte: die Zahl der Buch- und Unterbuchhalter in der Petit-Paysan AG war praktisch unendlich; doch wurde er auch in dieser bescheidenen, beinahe letzten Stellung weit besser bezahlt, als dies wiederum die Mansarde zu verkünden schien. Der Grund, der ihn in die dunkle, von Aborten umstellte Höhle bannte, war Bibi.
Nummer acht (Bruder) lernte Madame Bieler ebenfalls kennen.
An einem Sonntag. Arnolph hatte Bibi Archilochos zum Mittagessen eingeladen. >Chez Auguste<.
Bibi kam mit Weib, zwei Mätressen und den sieben Kinderchen, von denen die ältesten, Theophil und Gottlieb, beinahe erwachsen waren. Magda-Maria, dreizehn Jahre, brachte einen Verehrer mit. Bibi erwies sich als ein gottvergessener Säufer, die Frau war vom >Onkel< begleitet, wie man ihn nannte, einem ausgedienten Kapitän, nicht umzubringen. Es war ein Mordsspektakel, der selbst den Radsportfreunden zuviel wurde. Theophil prahlte von seinem Zuchthausaufenthalt, Gottlieb von einem Bankeinbruch, Matthäus und Sebastian, zwölf und neun Jahre, stachen mit Messern, und die beiden Jüngsten, Zwillinge, sechsjährig, Jean-Christoph und Jean-Daniel, rauften sich um eine Absinthflasche.
«Welche Menschen!«rief Georgette entsetzt, als sich das Teufelspack verzogen hatte.
«Es sind eben Kinder«, begütigte sie Archilochos und beglich die Rechnung (einen halben Monatslohn).
«Hören Sie«, entrüstete sich Madame Bieler.»Ihr Bruder scheint eine Räuberbande zu unterhalten. Und dem geben Sie noch Geld? Fast alles, was Sie verdienen?»
Archilochos' Glaube war jedoch nicht zu erschüttern.»Man muß den Kern sehen, Madame Bieler«, sagte er,»und der Kern ist gut. Bei jedem Menschen. Der Schein trügt. Mein Bruder, seine Frau und seine Kinderchen sind vornehme Wesen, nur diesem Leben vielleicht nicht so ohne weiteres gewachsen.»
Jetzt aber, wieder an einem Sonntag, doch schon um halb zehn, betrat er aus einem anderen Grunde die kleine Wirtschaft, eine rote Rose im Knopfloch und von Georgette mit Ungeduld erwartet. An allem waren eigentlich nur der endlose Regen, der Nebel, die Kälte, die stets feuchten Socken schuld und die Grippeepidemie, die sich mit der Zeit in eine Darmgrippe verwandelte, bewirkend, daß Archilochos, wir kennen ja sein Zimmer, infolge des nun ständigen Getöses nicht schlafen konnte. Dies alles hatte Arnolph umgestimmt, allmählich, mit den steigenden Fluten in den Straßengräben, und so hatte er nachgegeben, als Madame Bieler wieder an jenem besonderen Punkt ansetzte, der sie ärgerte.
«Sie sollten heiraten, Monsieur Arnolph«, hatte sie gesagt.»Das ist doch kein Leben in Ihrer Mansarde, und immer unter Radsportfreunden zu sitzen, geht doch auch nicht für einen Menschen mit höheren Interessen. Eine Frau sollten Sie haben, die für Sie sorgt.»
«Sie sorgen für mich, Madame Bieler.»
«Ach was, wenn Sie sich eine Frau nehmen, ist das noch ganz anders. So eine mollige Wärme, Sie werden sehen.»
Endlich hatte sie seine Zustimmung erlangt, eine Annonce in >Le Soir< aufzugeben, und gleich Papier, Feder und Tinte geholt.
«Junggeselle, Buchhalter, fünfundvierzig, Altneupresbyteraner, feinfühlend, sucht Altneupresbyteranerin…«schlug sie vor.
«Das ist nicht nötig«, sagte Archilochos.»Ich bekehre meine Frau dann schon zum richtigen Glauben.»
Georgette sah dies ein.»Sucht eine liebe, frohe Frau seines Alters, Witwe nicht ausgeschlossen…»
Ein Mädchen müsse es sein, behauptete Archilochos.
Georgette blieb fest.»Schlagen Sie sich ein Mädchen aus dem Kopf«, meinte sie energisch.»Sie waren noch nie mit einer Frau, und jemand muß wissen, wie man das macht.»
Er stelle sich die Annonce ganz anders vor, wagte Monsieur Arnolph einzuwenden.
«Wie denn?»
«Grieche sucht Griechin!»
«Mein Gott«, staunte Madame Bieler,»sind Sie ein Grieche?«und starrte die eher dicke, ungefüge und nördliche Gestalt des Herrn Archilochos an.
«Wissen Sie, Madame Bieler«, sagte er schüchtern,»ich weiß, daß man sich unter einem Griechen etwas anderes vorstellt, als ich nun einmal bin, und es ist ja auch lange her, seit mein Urahne in dieses Land wanderte, um an der Seite Karls des Kühnen bei Nancy zu sterben. Und so sehe ich denn auch nicht mehr so recht wie ein Grieche aus. Das gebe ich zu. Aber nun, Madame Bieler, in diesem Nebel, in dieser Kälte und in diesem Regen sehne ich mich zurück, wie meistens im Winter, in meine Heimat, die ich nie gesehen habe, nach dem Peloponnes mit seinen rötlichen Felsen und seinem blauen Himmel (ich las einmal im >Match< darüber), und so will ich denn nur eine Griechin heiraten, denn sie wird in diesem Lande ebenso verlassen sein wie ich.»
«Sie sind der reinste Dichter«, hatte darauf Georgette geantwortet und sich die Augen getrocknet.
Und wirklich hatte Archilochos eine Antwort bekommen, schon am übernächsten Tag. Ein kleiner duftender Briefumschlag, ein blaues Kärtchen wie der Himmel des Peloponnes. Chloé Saloniki schrieb ihm, sie sei einsam, und wann sie ihn denn sehen könne.
Auf Anraten Georgettes hatte er darauf mit Chloé schriftlich ausgemacht: >Chez Auguste<, Sonntag, den soundsovielten Januar. Kennzeichen: Eine rote Rose.
Archilochos zog sein dunkelblaues Konfirmandenkleid an und vergaß den Mantel. Er war unruhig. Er wußte nicht, ob er doch lieber umkehren solle, sich in seine Mansarde zu verkriechen, und zum ersten Male war es ihm nicht recht, als vor >Chez Auguste< Bibi wartete, kaum zu erkennen im Nebel.
«Gib mir zwei Lappen und einen Heuer«, sagte Bibi und hielt seine hohle Bruderhand hin:»Magda-Maria hat Englischstunden nötig.»
Archilochos wunderte sich.
«Sie hat einen neuen Freier, hochanständig«, erklärte Bibi,»aber er spricht nur Englisch.»
Archilochos mit seiner roten Rose zahlte.
Auch Georgette war aufgeregt, nur Auguste saß wie immer, wenn keine Gäste da waren, in seinem Radfahrerkostüm beim Ofen, die nackten Beine reibend.
Madame Bieler räumte die Theke auf.»Nimmt mich wunder, was da kommt«, sagte sie.»Schätze was Dickes, Liebes. Hoffentlich nicht zu alt, weil sie nichts davon schreibt. Aber wer tut dies schon gern.»
Archilochos, frierend, bestellte eine Tasse heiße Milch.
Und während er sich die Brille wieder einmal reinigte, die vom Milchdampf angelaufen war, betrat Chloé Saloniki das Lokal.
Archilochos, kurzsichtig, sah Chloé zuerst nur schemenhaft, mit einem großen roten Punkt irgendwo rechts unterhalb der Eiform des Gesichts, die Rose, wie er ahnte, doch das Schweigen, das in der Kneipe mit einem Male herrschte, diese gespenstische Stille, in der nicht ein Glas klirrte, in der kein Atemzug zu hören war, beunruhigte ihn so, daß er seine Brille nicht gleich aufsetzen konnte. Kaum hatte er dies jedoch getan, setzte er sie noch einmal ab, um aufgeregt aufs neue an ihr herumzureinigen. Es war nicht zu glauben. Ein Wunder war geschehen, in einer kleinen Pinte, bei Nebel und Regen. Zu diesem dicklichen Junggesellen und scheuen Menschenfreund, eingesperrt in eine stinkende Mansarde, verschanzt hinter seiner Milch und seinem Mineralwasser, zu diesem mit Prinzipien beladenen und mit Hemmungen befrachteten Unterbuchhalter eines Unterbuchhalters mit seinen ewig feuchten und zerrissenen Socken und seinem ungebügelten Hemd, mit den viel zu kurzen Kleidern, den ausgetretenen Schuhen und verkehrten Meinungen, kam ein so zauberhaftes Wesen, ein so reines Märchen an Schönheit und Grazie, eine so echte kleine Dame, daß sich Georgette nicht zu rühren wagte und Auguste die Radrennfahrerbeine geniert hinter dem Ofen versteckte.