Er horte Achates' Ruder knarren, als das Schiff vor ihnen weiter nach Lee abfiel.
Noch einmal spahte er scharf hinuber, denn er glaubte zunachst, seine uberanstrengten Augen hatten ihm einen Streich gespielt. Aber nein, zu beiden Seiten des Ruders druben hob sich der Deckel einer Stuckpforte, und noch wahrend er hinsah, begann das Licht auf den langen Rohren der beiden Heck-Kanonen zu spielen.
Quantock explodierte.»Holle und Teufel, er wird es doch nicht wagen, auf ein englisches Kriegsschiff zu feuern!»
Aber da erzitterte die Luft schon vom Doppelknall der Kanonen, und als der Rauch in dicken Wolken leewarts trieb, spurte Bolitho die Eisenkugeln in Achates' Bug schlagen, da? sie erzitterte wie unter dem Hieb einer Riesenfaust.
Befehlsgebrull kampfte gegen den plotzlichen Hollenlarm an, Gesichter wandten sich dem Achterdeck zu, als seien die Manner vor Verbluffung bewegungsunfahig geworden.
«Laden und ausrennen, Kapitan Keen«, befahl Bolitho knapp.
Der andere Kommandant mu?te toll geworden sein, einen 64er anzugreifen. Gleich wurde Keen abdrehen und ihm eine volle Breitseite in den Rumpf schie?en. Das mu?te Tote geben — aber mit welchem Sinn und Zweck?
Am Backbordrumpf der Achates flogen die Stuckpforten fast gleichzeitig auf, kreischend rollten die Achtzehnpfunder, nur von den schrillen Bootsmannspfeifen ubertont, das schragliegende Deck hinunter, bis ihre Rohre der See entgegenbleckten. Im Deck darunter wurden die Mundungen der schweren Vierundzwanzigpfunder nur wenige Fu? uber dem Wasser hangen. Achates lag unter ihrer gewaltigen Segelflache so stark uber, da? es ein Wunder war, wenn die See nicht in die offenen unteren Stuckpforten wusch.»Bugkanonen — Feuer!»
Keen hatte die Hande auf dem Rucken verschrankt — so fest, da? Bolitho die Knochel wei? hervortreten sah. Was erblickte er in dem Schiff da vorn, eine unerwartete Prise oder den Ruin seiner Laufbahn?
Wieder feuerte der andere, und Bolitho mu?te sich beherrschen, um nicht zusammenzuzucken, als die Kugel ihr pralles Gro?segel durchschlug, das der Wind sofort in tausend flatternde Fetzen ri?.
Aber die Stuckmeister an den Bugkanonen der Achates mu?ten geschlafen haben. Jetzt konnten sie nicht einmal mehr Ziel auffassen, uberlegte Bolitho.
Entlang des Batteriedecks stand jeder Stuckmeister mit erhobener Hand an seiner Kanone.
Gepre?t sagte Keen:»Klar zur Halse, Mr. Knocker! Wir kreuzen sein Heck und beharken ihn dabei. Das sollte ihm was zu schlucken geben!»
Seine Stimme klang wutend. Es wurmte ihn, was da geschah.
«An die Leebrassen! Klar auf dem Achterdeck!«Quantocks metallverstarkte Stimme schien von uberall zugleich zu kommen.
Und in diesem Augenblick feuerte ihr Gegner ein drittes Mal. Bo-litho glaubte fast, die verwischte Bahn der Kugel zu sehen, bevor sie das Backbord-Seitendeck zerschmetterte; der andere Schu?, mit Ma-ximalelevation abgefeuert, heulte uber die Back heran.
Es war ein letzter, verzweifelter Versuch, den Jager abzuschutteln. Und er hatte Erfolg.
Zuerst knallte es, einmal und ohrenbetaubend laut, und Sekunden spater kam krachend die Vormaststenge herunter. Spieren und wild schlagendes Segeltuch regneten an Deck. Gleich darauf wankte der Vormast und schlug, sein gebrochenes Rigg wie ein Nest zuckender Riesenschlangen hinter sich herziehend, splitternd aufs Leedeck, von wo er mit einem gewaltigen Aufklatschen ins Wasser sturzte.
Bolitho horte neben sich den halberstickten Entsetzensschrei eines Kadetten, als die Wrackteile einige Seeleute mit uber Bord rissen; ihr Aufbrullen ging im tosenden Inferno unter.
Die nachgeschleppten Spieren und Leinen wirkten wie ein riesiger Seeanker und zogen den Bug herum, immer weiter aus dem Kurs, bis alle Segel, die fur die Verfolgungsjagd so sorgsam getrimmt worden waren, in wildem Durcheinander schlugen.
Bootsmann Rooke und seine Leute attackierten unten schon das Chaos, kappten mit Axthieben die Wrackteile, um das Schiff wieder flott zu machen. Die Stuckmannschaften hantierten fieberhaft mit Taljen und Handspaken, um ihre Kanonen auszurichten, aber die Achates wurde immer weiter nach Lee gedruckt, so da? die Rohre sich blind auf die leere See richteten, wahrend das Ziel schon in sicherer Entfernung stand.
Bolitho versuchte sich bewu?t zu entspannen, aber sein Korper war wie eine uberdehnte Bogensehne kurz vor dem Zerrei?en.
Von einem Augenblick zum anderen war sein Schiff zum Kruppel geschossen worden. Hatte es sich um ein ernsthaftes Gefecht gehandelt, ware der Feind jetzt schon uber Stag gegangen, um sie vom Bug bis zum Heck mit seinen Breitseiten einzudecken.
Hoch uber Deck schrien die Toppgasten einander Anweisungen zu, wahrend sie die Segel aufzugeien versuchten, bevor das Schiff total entmastet werden konnte.
Keen entrang sich ein verzweifelter Ausruf:»Das werde ich mein Lebtag nicht vergessen! Niemals!«Er starrte Bolitho an, als erwarte er eine Antwort von ihm.»Sie hatten keinen Grund, auf uns zu feuern!»
Bolitho sah allmahlich wieder eine gewisse Ordnung an Bord einkehren, die Schiffsbewegungen wurden kontrollierter, und sie reagierte auf das Ruder; aus dem Wirrwarr auf dem Vorschiff ragte der Maststumpf wie ein abgebrochener Zahn.
Er sagte zu Keen:»Einen Grund hatten sie schon. Und ich beabsichtige, ihn herauszufinden. Damit wir beim nachsten Mal nicht uberrascht werden.»
Offiziere eilten zu Keen, um sich neue Befehle zu holen. Die dienstalteren Leute an Bord wurden ihn jetzt mit dem fruheren Kommandanten vergleichen. Egal, was sie dachten, es war jedenfalls kein guter Anfang.
Bolitho sagte:»Beruhigen Sie die Leute und bringen Sie das Schiff wieder auf Kurs.»
Es kostete ihn gro?e Anstrengung, beherrscht zu sprechen. Sie hatten eine Niederlage einstecken mussen und Tote zu beklagen — es sei denn, das ausgesetzte Beiboot konnte noch Uberlebende aus den achteraus abtreibenden Trummern fischen.
Nur aus Instinkt, aus einer schlimmen Vorahnung heraus hatte er Keen befohlen, zu dem Fremdling aufzuschlie?en.
Jetzt war eine Verfolgung unmoglich geworden, das namenlose Schiff zog unter Vollzeug schnell davon.
Keen tat ihm leid. Er hatte sich und die Mannschaft so geschunden, um den Anforderungen seines Admirals zu genugen, hatte geglaubt, den fremden Kommandanten zu uberraschen, aber dann, als die Falle zuschnappte, war der Gegner gewappnet — und Keen war es nicht.
Der Schiffsarzt Tuson, dessen wei?es Haar der Wind zauste, gestikulierte zu den verfilzten Rigghaufen hinuber. Darunter mu?ten noch mehr Leute liegen.
Mit blassem, grimmigem Gesicht nahm Keen die Meldungen seiner Offiziere entgegen.
Heute hatte er eine Lektion bekommen, die er nie mehr vergessen wurde, dachte Bolitho.
Er gewahrte Adams besorgten Blick. Vielleicht dachte der Junge an seinen Vater. Hugh hatte damals unter falscher Flagge Bolitho getauscht und sein Schiff zuschanden geschossen.
Bolitho ging zur Poop und zog den Kopf ein, als er in den Schatten unter Deck trat.
Auch ich habe eine Lektion vergessen, dachte er. Namlich, da? es immer der letzte Sonnenaufgang sein kann.