Er brauchte nicht lange zu warten. Die Tur wurde aufgerissen, und er blickte in einen gro?en Raum, einen Saal, der anscheinend die ganze Breite des Obergeschosses einnahm. Am anderen Ende befand sich ein Podest, das sich farbig von den grauen Steinen der Mauern abhob.
Muljadi lehnte lassig in seidenen Kissen, die Augen starr auf die Tur gerichtet. Er war nackt bis zum Gurtel und trug nur eine wei?e bauschige Hose zu Stiefeln aus rotem Leder. Sein Kopf war vollig haarlos und wirkte in dem Sonnenlicht, das durch die
Fensterschlitze fiel, seltsam spitz; ubergro? und grotesk stand das eine Ohr ab, das er noch hatte.
Neben dem Thron wartete Le Chaumareys, ernst und mit wachsamem Gesicht. An den Wanden standen mehrere Manner. Noch nie hatte Bolitho so dreckiges, brutales Gesindel gesehen; doch nach der Qualitat ihrer Waffen zu urteilen, mu?ten sie Muljadis Unterfuhrer sein.
Er ging auf den Thron zu, wobei er halb damit rechnete, da? einer der Zuschauenden vorspringen und ihn niederstechen wurde; aber keiner bewegte sich oder sprach.
Als er sich dem Thron auf ein paar Fu? genahert hatte, sagte Muljadi grob:»Nicht naher!«Er sprach gut englisch, doch mit einem fremdartigen, vermutlich spanischen Akzent.
«Bevor ich Sie toten lasse, Captain«, fuhr er fort,»was haben Sie noch zu sagen?»
Bolitho verspurte das Verlangen, sich die trockenen Lippen zu lecken. Hinter sich horte er ein erwartungsvolles Scharren und Rascheln; Le Chaumareys starrte ihn an, Verzweiflung im gebraunten Gesicht.
Bolitho begann:»Im Namen Seiner Majestat, des Konigs George, fordere ich die Freilassung von Colonel Jose Pastor, Untertan der Spanischen Krone, der unter dem Schutze meines Landes steht.»
Muljadi fuhr hoch; das Gelenk seiner abgehauenen Hand richtete sich wie ein Pistolenlauf auf Bolitho.»Fordern? Du unverschamter Hund!»
Hastig trat Le Chaumareys vor.»Lassen Sie mich erklaren,
m'sieur.»
«Sie haben mich mit Hoheit anzureden!«brullte Muljadi. Voller Wut wandte er sich wieder an Bolitho.»Ruf deinen Gott um Beistand an! Du wirst noch um deinen Tod flehen!»
Bolithos Herz schlug gegen die Rippen; der Schwei? flo? ihm uber den Rucken und sammelte sich am Gurtel wie ein eisiger Reif. Mit gespielter Gelassenheit griff er in die Hosentasche und zog seine Uhr. Als er den Deckel aufklappen lie?, sprang Muljadi mit unglaubigem Keuchen hoch, sturzte sich auf Bolitho und packte mit eisernem Griff dessen Handgelenk.
«Wo hast du das her?«schrie er. Von der Uhr baumelte die kleine, goldene, tatzenschlagende Raubkatze.
Bolitho zwang sich, so gelassen wie moglich zu antworten und nicht den genau gleichen Anhanger auf Muljadis Brust anzustarren.»Von einem Gefangenen. «Und in scharferem Ton:»Einem Seerauber!»
Langsam verdrehte Muljadi Bolithos Handgelenk. Seine Augen gluhten.»Du lugst!«zischte er.»Und du wirst leiden dafur! Jetzt gleich!»
«Um Gottes willen!«rief Le Chaumareys dazwischen.»Reizen Sie ihn nicht, er bringt Sie wirklich um!»
Bolitho wandte den Blick nicht ab. Er spurte Muljadis Kraft, seinen Ha? — aber noch etwas anderes. Angst?
Er sagte:»Mit einem Fernglas konnen Sie mein Schiff sehen. Und an der Gro?rah eine Schlinge. Wenn ich nicht vor Sonnenuntergang wieder an Bord bin, hangt Ihr Sohn — ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Das Medaillon habe ich von seinem Hals genommen, als ich etwa vierzig Meilen sudlich von hier seinen Schoner aufbrachte.»
Die Augen Muljadis schienen aus ihren Hohlen zu treten.»Du lugst!»
Bolitho loste sein Handgelenk aus Muljadis Griff. Dessen Finger hinterlie?en Spuren wie Taue, die rasend schnell durch die Hand glitten und sie dabei versengten.
Gelassen erwiderte Bolitho:»Ich tausche ihn gegen Ihren Gefangenen aus.»
Er blickte zu dem verdutzten Le Chaumareys hinuber.»Der capitaine kann das sicherlich arrangieren.»
Muljadi sturzte zum Fenster und ri? einem seiner Manner ein Fernglas aus dem Gurtel. Heiser sagte er uber die Schulter hinweg zu Bolitho:»Sie bleiben als Geisel hier!»
«Nein«, erwiderte Bolitho,»keine Geiseln, sondern ein ehrlicher Austausch. Sie haben mein Wort als englischer Offizier.»
Muljadi warf das Teleskop wutend auf den Steinboden, da? die Splitter der Linsen in alle Richtungen flogen. Sein Atem ging heftig, und auf seinem kahlrasierten Kopf glanzten Schwei?perlen.»Englischer Offizier? Bilden Sie sich ein, da? ich mir daraus etwas mache?«Er spuckte Bolitho vor die Fu?e.»Dafur werden Sie noch leiden, das verspreche ich Ihnen!»
«Gehen Sie darauf ein — Hoheit!«rief Le Chaumareys dazwischen.
Aber Muljadi tobte wie ein Verruckter. Plotzlich griff er nach Bolithos Arm, zerrte ihn an das andere Saalende und stie? ihn dort vor ein Fenster.
«Blicken Sie hinunter, Captain!«Die Worte fielen wie Pistolenschusse.»Ich gebe Ihnen den Colonel — aber Ihr Stutzpunkt ist trotzdem nicht mehr zu retten!»
Bolitho starrte auf den glitzernden Wasserstreifen hinunter, der sich zwischen der Festung und der nachsten Insel erstreckte. Dort, wo die Durchfahrt einen Bogen machte, lag eine Fregatte vor Anker; das Deck wimmelte von geschaftigen Mannern.
Muljadis Ha? verwandelte sich in wilden Triumph, und er schrie:»Mein! Alles mein! Nun, Sie Offizier, sind Sie immer noch zuversichtlich?»
«Warum mu?ten Sie das tun?«fragte Le Chaumareys finster. Wilde Wut in den Augen, wirbelte Muljadi herum.»Denken Sie, man mu? mir sagen, was ich tun oder lassen soll? Halten Sie mich fur ein Kind? Ich habe lange genug gewartet. Das ist jetzt vorbei!»
Knirschend offnete sich die Tur. Zwischen zwei bewaffneten Piraten kam der spanische Kommandant herein, blinzelnd, als ware er fast blind.
Bolitho schritt an Muljadi und seinen Mannern vorbei.»Ich bin gekommen, um Sie heimzubringen, Senor.«Er sah die schmutzige, zerfetzte Kleidung des Offiziers, die Spuren der Handschellen an seinen Gelenken.»Es war sehr tapfer von Ihnen.»
Leer und verschwommen, mit zitterndem Kopf, starrte der alte Mann ihn an.»Ich verstehe nicht«, stie? er hervor.
Le Chaumareys sagte:»Kommen Sie! Sofort!«Und leiser fugte er hinzu:»Sonst kann ich nicht fur Ihre Sicherheit garantieren.»
Wie Traumwandler schritten sie den abschussigen Weg zur Pier hinunter, gefolgt von der Stimme Muljadis, der etwas Unverstandliches in fremder Sprache hinter ihnen her schrie. Unverkennbar waren es Beschimpfungen und Drohungen.
«Die Fregatte«, sagte Bolitho kalt,»war ein englisches
Schiff.»
Mude nickte Le Chaumareys.»Ja. 1782 im Gefecht schwer havariert, wurde sie hier auf Grund gesetzt. Ihre Mannschaft kam auf ein anderes Schiff. Wir haben fast zwei Jahre an ihr gearbeitet. Jetzt ist sie wieder in Ordnung. Ich habe Befehl, sie in seeklarem Zustand an Muljadi zu ubergeben, bevor ich heimsegeln darf.»
Bolitho sah ihn nicht an. Er stutzte den spanischen Kommandanten, der vor Schwache und Erschutterung zitterte.
«Dann kann ich nur hoffen, da? Sie stolz auf Ihr Werk sind, m'sieur. Und auf das, was Muljadi mit der Fregatte anrichten wird — nun, da sie seeklar ist.»
Bald lag das Boot unter den Rahen der franzosischen Fregatte, und Bolitho stieg hinter Le Chaumareys das Fallreep hinauf. Dieser sagte kurz:»Maurin wird Sie zu Ihrem Schiff bringen. «Dann blickte er Bolitho ein paar Sekunden lang forschend an.»Sie sind noch jung. Eines Tages hatten Sie mich vielleicht verstanden. Nun ist das vorbei. «Er streckte die Hand aus.»Wenn wir uns wieder treffen — und das wird, furchte ich, unvermeidlich sein — , dann ist es zum letztenmal.»
Er drehte sich abrupt um und schritt zu seiner Kajute. Bolitho holte seine Uhr hervor und betrachtete den goldenen Anhanger. Wenn er sich verrechnet oder wenn Potter ihm etwas Falsches erzahlt hatte… Daruber auch nur Vermutungen anzustellen, war unertraglich.
Dann dachte er an die englische Fregatte. Ohne Muljadis Wutausbruch hatte er uberhaupt nichts von ihr erfahren. Dieses Wissen half zwar wenig; aber schlie?lich war es besser als nichts.