Ron machte gro?e Augen, als Harry mit all den Sachen ins Abteil zuruckkam und sie auf einen leeren Sitz fallen lie?.
»Bist wohl ziemlich hungrig?«
»Ich verhungere gleich«, sagte Harry und nahm einen gro?en Bissen von einer Kurbispastete.
Ron hatte ein klobiges Papierbundel herausgeholt und es aufgewickelt. Drin waren vier belegte Brote. Er zog eins davon auseinander und sagte:»Sie vergi?t immer, da? ich kein Corned Beef mag.«
»Ich tausch es fur eine hiervon«, sagte Harry und hielt eine Pastete hoch. »Na los -«
»Das Brot magst du sicher nicht, es ist ganz trocken«, sagte Ron. »Sie hat nicht viel Zeit«, fugte er rasch hinzu,»mit gleich funfen von uns, du wei?t ja.«
»Ach, komm schon, nimm dir eine Pastete«, sagte Harry, der noch nie etwas zu teilen gehabt hatte oder auch nur jemanden, mit dem er etwas hatte teilen konnen. Es war ein gutes Gefuhl, hier mit Ron zu sitzen und sich durch all seine Pasteten und Kuchen zu futtern (die Stullen hatten sie langst vergessen).
»Was ist das?«, fragte Harry und hielt eine Schachtel Schokofrosche hoch. »Das sind keine echten Frosche, oder?« Allmahlich hatte er das Gefuhl, da? ihn nichts mehr uberraschen wurde.
»Nein«, sagte Ron. »Aber schau nach, was auf der Karte ist, mir fehlt noch Agrippa.«
»Was?«
»Ach, das wei?t du naturlich nicht! In den Schokofroschen sind Bildkarten von beruhmten Hexen und Zauberern zum Sammeln. Ich habe uber funfhundert, aber mir fehlen noch Agrippa und Ptolemaus.«
Harry wickelte den Schokofrosch aus und entnahm die Karte. Sie zeigte das Gesicht eines Mannes. Er trug eine Lesebrille, hatte eine lange, krumme Nase, wehendes Silberhaar und einen machtigen Vollbart. Unter dem Bild stand der Name Albus Dumbledore.
»Das ist also Dumbledore«, rief Harry.
»Sag blo?, du hast noch nie von Dumbledore gehort!«, rief Ron. »Kann ich einen Frosch haben? Vielleicht ist Agrippa drin. – Danke.«
Harry drehte seine Karte um und las:
Albus Dumbledore, gegenwartig Schulleiter von Hogwarts.
Gilt bei vielen als der gro?te Zauberer der jungeren Geschichte.
Dumbledores Ruhm beruht vor allem auf seinem Sieg uber den schwarzen Magier Grindelwald im Jahre 1945, auf der Entdeckung der sechs Anwendungen fur Drachenmilch und auf seinem Werk uber Alchemie, verfa?t zusammen mit seinem Partner Nicolas Flamel. In seiner Freizeit hort Professor Dumbledore mit Vorliebe Kammermusik und spielt Bowling.
Harry drehte die Karte wieder um und stellte verblufft fest, da? Dumbledores Gesicht verschwunden war.
»Er ist weg!«
»Tja, du kannst nicht erwarten, da? er den ganzen Tag hier rumhangt«, sagte Ron. »Er wird schon wieder kommen. Ach nein, ich hab schon wieder Morgana; von der
hab ich doch schon sechs Stuck… willst du Sie? Du konntest anfangen zu sammeln.«
Rons Augen wanderten hinuber zu dem Haufen Schokofrosche, die nur darauf warteten, ausgewickelt zu werden.
»Bedien dich«, sagte Harry. »Aber in der… in der Muggelwelt bleiben die Leute einfach sichtbar.«
»Wirklich? Soll das hei?en, sie bewegen sich uberhaupt nicht?« Ron klang verblufft. »Komisch!«
Harry machte gro?e Augen, als Dumbledore wieder ins Bild auf seiner Karte huschte und ihn kaum merklich anlachelte. Ron war mehr daran interessiert, die Frosche zu verspeisen, als die Karten mit den beruhmten Hexen und Zauberern zu betrachten, doch Harry konnte seine Augen nicht von ihnen abwenden. Bald besa? er nicht nur Dumbledore und Morgana, sondern auch Hengis von Woodcroft, Alberich Grunnion, Circe, Paracelsus und Merlin. Schlie?lich wandte er mit Muhe die Augen von der Druidin Cliodna ab, die sich gerade an der Nase kratzte, und offnete eine Tute Bertie Botts Bohnen aller Geschmacksrichtungen.
»Sei blo? vorsichtig mit denen«, warnte ihn Ron. »Wenn sie sagen jede Geschmacksrichtung, dann meinen sie es auch. – Du kriegst zwar alle gewohnlichen wie Schokolade und Pfefferminz und Erdbeere, aber auch Spinat und Leber und Kutteln. George meint, er habe mal eine mit Popelgeschmack gehabt.«
Ron nahm sich eine grune Bohne, studierte sie sorgfaltig und bi? sich ein Stuck ab.
»Aaahhh – siehst du? Spro?linge.«
Die Bohnen jeder Geschmacksrichtung zu essen machte ihnen Spa?. Harry hatte Toast, Kokosnu?, gebackene Bohnen, Erdbeere, Curry, Gras, Kaffee und Sardine und war sogar kuhn genug, um das Ende einer merkwurdigen grauen Bohne anzuknabbern, die Ron nicht einmal anfassen wollte. Sie schmeckte nach Pfeffer.
Die Landschaft, die nun am Fenster vorbeiflog, wurde zunehmend wilder. Die ordentlich bestellten Felder waren verschwunden. Jetzt sahen sie Walder, verschlungene Flusse und dunkelgrune Hugel.
An der Abteiltur klopfte es, und der Junge mit dem runden Gesicht, an dem Harry auf dem Bahnsteig vorbeigegangen war, kam herein. Er sah ganz verweint aus.
»Tut mir Leid«, sagte er,»aber habt ihr vielleicht eine Krote gesehen?«
Als sie die Kopfe schuttelten, fing er an zu klagen:»Ich hab sie verloren. Immer haut sie ab!«
»Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte Harry.
»Ja«, sagte der Junge verzweifelt. »Gut, falls ihr sie seht…
Er verschwand wieder.
»Wei? nicht, warum er sich so aufregt«, sagte Ron. »Wenn ich eine Krote mitgebracht hatte, dann war ich sie so schnell wie moglich losgeworden. Doch was soll's, hab ja Kratze mitgebracht, ich sollte also lieber den Mund halten.«
Die Ratte doste immer noch auf Rons Scho?.
»Sie konnte inzwischen gestorben sein, ohne da? ich es gemerkt hatte«, sagte Ron voller Abscheu. »Gestern hab ich versucht, sie gelb zu farben, damit sie interessanter aussieht, aber der Spruch hat nicht gewirkt. Ich zeig's dir, schau mal… «
Er stoberte in seinem Koffer herum und zog einen arg in Mitleidenschaft genommenen Zauberstab hervor. An manchen Stellen war er angeschnitten und etwas Wei?es glitzerte an der Spitze.
»Das Einhornhaar kommt schon fast raus. Egal -«
Gerade hatte er seinen Zauberstab erhoben, als die Abteiltur erneut aufgeschoben wurde. Wieder war es der krotenlose Junge, doch diesmal war ein Madchen bei ihm. Sie trug schon jetzt ihren neuen Hogwarts-Umhang.
»Hat jemand eine Krote gesehen? Neville hat seine verloren«, sagte sie mit gebieterischer Stimme. Sie hatte einen uppigen braunen Haarschopf und recht lange Vorderzahne.
»Wir haben ihm schon gesagt, da? wir sie nicht gesehen haben«, erklarte Ron. Doch das Madchen horte nicht zu, sondern betrachtete den Zauberstab in seiner Hand.
»Aha, du bist gerade am Zaubern? Dann la? mal sehen.«
Sie setzte sich. Ron sah verlegen aus.
»Ahm – na gut.«
Er rausperte sich.
»Eidotter, Gansekraut und Sonnenschein,
Gelb soll diese fette Ratte sein.«
Er wedelte mit dem Zauberstab durch die Luft, doch nichts passierte. Kratze blieb bei seiner grauen Farbe und schlief munter weiter.
»Bist du sicher, da? das ein richtiger Zauberspruch ist?«, sagte das Madchen. »Jedenfalls ist er nicht besonders gut. Ich hab selbst ein paar einfache Spruche probiert, nur zum Uben, und bei mir hat's immer geklappt. Keiner in meiner Familie ist magisch, es war ja so eine Uberraschung, als ich meinen Brief bekommen hab, aber ich hab mich unglaublich daruber gefreut, es ist nun einmal die beste Schule fur Zauberei, die es gibt, wie ich gehort hab – ich hab naturlich alle unsere Schulbucher auswendig gelernt, ich hoffe nur, das reicht. Ubrigens, ich bin Hermine Granger, und wer seid ihr?«
Das alles sprudelte in atemberaubender Geschwindigkeit aus ihr heraus.
Harry sah Ron an und war erleichtert, in seinem verblufften Gesicht ablesen zu konnen, da? auch er nicht alle Schulbucher auswendig gelernt hatte.
»Ich bin Ron Weasley«, murmelte Ron.
»Harry Potter«, sagte Harry.
»Ach tatsachlich?«, sagte Hermine. »Naturlich wei? ich alles uber dich, ich hab noch ein paar andere Bucher, als Hintergrundlekture, und du stehst in der Geschichte der modernen Magie, im Aufstieg und Niedergang der dunklen Kunste und in der Gro?en Chronik der Zauberei des zwanzigsten Jahrhunderts.«