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Nachwort des Herausgebers: Ich machte auf eine recht seltsame und im Grunde zufällige Weise Bekanntschaft mit einigen Personen, von denen ich erst später begriff, daß sie nicht nur in diese vielschichtige Handlung verwickelt, sondern auch deren Hauptakteure waren.
Es muß um das Jahr 1984 herum gewesen sein. In München. Ich führe kein Tagebuch. Meine Zeitangaben sind nie allzu genau. Ich nehme an, Ende Mai, und ich hielt die Geschichte damals für erfunden. Eine bequeme Villa, ein bequemer Park, der sich unter hohen Bäumen verliert. Im Park, der Villa entlang, gedeckte Tische. Eine angenehme Gastgeberin. Verleger, Journalisten, Film-, Theater-, klug dosiertes Kulturleben. Wie immer verwechsle ich jemand mit jemandem. Bin unsicher, ob eine andere die sei, von der ich glaube, daß sie es sei. Dann ist es doch eine andere. Dann ist ein anderer jemand ganz anderes. Dann erschrecke ich erschrocken einen Intendanten eines Hauses, wo ich einst alle kannte und jetzt niemand mehr kenne. Ich denke, er denkt, ich wolle ihm ein Stück andrehn, und er denkt, ich wolle ihm ein Stück andrehn. Ein Schauspieler läuft herum wie ein König Lear, der seinen Text vergessen hat, und ist untröstlich:»Das Theater ist am Ende. Es gibt keine neuen Stücke. «Einen anderen Schauspieler habe ich so oft im Fernsehen gesehen, daß ich mir einbilde, er sei ein alter Bekannter, und er ist bestürzt, weil wir uns zum ersten Mal begegnen. Eine Frau schiebt einen Greis im Rollstuhl herein. Elegant, überlegen, schön. Um die Fünfzig. Ich kenne sie, aber weiß ihren Namen nicht. Sie begrüßt mich reserviert, duzt mich und nennt mich Max. Sie hat mich verwechselt. Gelächter. Sie entschuldigt sich. Ich fühle mich geehrt. Sie siezt mich wieder. Wer der Greis sei? Ihr Vater. Er muß uralt sein. Bald hundert. Zart und zerbrechlich. Ungemein lebendig. Rosige Haut. Dünnes weißes Haar, gestutzter Schnurrbart, gepflegter Bart, halb Voll-, halb Spitzbart. Er habe mit dem bayerischen Ministerpräsidenten konferiert. Über Politik? Über eine Stiftung effektiver Wissenschaft. Verstehe nicht. Es gebe heute zuviel unnütze Wissenschaft. Verstehe. Sie denkt immer noch, ich kenne sie, und ich kenne sie nicht. Die Gastgeberin unterhält sich mit dem Greis. Plaudert mit ihm. Lacht viel. Der Greis muß witzig sein. Sitze zwischen der unbekannten Bekannten und der deutschen Witwe eines italienischen Verlegers, den ich einmal einen Tag lang in Mailand kennengelernt habe. Die Bekannte, auf deren Namen ich nicht komme, hat bemerkt, daß ich nicht weiß, wer sie ist. Sie ist verstummt. Die Witwe erzählt mir von einer Schauspielerin, in die ich einmal verliebt war. Die sei mit einem Feuerwehrmann durchgebrannt. Nach dem Essen in den Salon. Die Film- und Theatermenschen scharen sich um den Intendanten. Sie interessieren sich für die Kunst. Die anderen um den Greis im Rollstuhl. Sie interessieren sich für die Wirklichkeit. Ein Kunstkritiker hält mit einer kurzen Dankesrede an die Gastgeberin einige Minuten lang die beiden Sphären zusammen. Er versteht zuviel von der Kunst, um die Wirklichkeit nicht zu unterschätzen, und zuviel von der Wirklichkeit, um die Kunst nicht zu überschätzen. Dann fallen die beiden Sphären wieder auseinander. Die einen diskutieren über Botho Strauss, die andern über Franz Josef Strauß. Was der Greis von diesem halte. Historiker, kein Meteorologe. Was er damit sagen wolle? Der Historiker komme mit langfristigen Aussagen. Er sei Metaphysiker. Bilde sich ein, den Weltgeist im Griff zu haben. Der Meteorologe wage nur kurzfristige Aussagen. Er sei Wissenschaftler. Bilde sich nicht ein, eine Gashülle im Griff zu haben. Die Welt sei undurchschaubar. Was politisch möglich sei? Schnelle chirurgische Eingriffe und dann die zufällige Wirkung beobachten. Was er damit meine? Ein Konzern, den er freiwillig beraten und unfreiwillig geführt habe, sei in eine diffizile Lage geraten. Es sei unnötig, sie näher zu beschreiben. Wirtschaftliche Zusammenhänge seien noch komplizierter als eine Gashülle, die Voraussagen noch ungenauer. Der Greis sprach leicht, leise und schnell. Nur hin und wieder war ein leises Gebißgeklapper bemerkbar. Es habe sich eigentlich nur um die Notwendigkeit gehandelt, eine Person zu ermorden oder ermorden zu lassen. Alles war verblüfft. Verlegen. Doch dann wieder gerührt. Als würde der Greis eine Liebesgeschichte erzählen. Gewiß, mit einem Mord zu kommen, war ein Fauxpas. Auch der Kulturzirkel horchte herüber. Es war schon ein wenig, als hätte der Greis einen Fisch mit dem Messer gegessen. Aber ein König und ein beinah Hundertjähriger dürfen auch das.»Er ist einfach reizend«, hauchte eine Schauspielerin herüber, die ich auch schon im Fernsehen oder im Film gesehen hatte oder glaubte gesehen zu haben. Leinwand und Bildschirm backen die Gesichter zusammen. Mindestens zehn sehen gleich aus. Der Greis ließ sich ein Glas Champagner geben. Schlürfte. Ein Regisseur und Schauspieler, mit mir seit langem befreundet, erschien. Schweizerischer Herkunft. Typ russischer Großfürst nach Verlust seiner Ländereien, gewohnt, mit Leibeigenen umzugehen, groß, wohlbeleibt. Gepflegter Bart, gewählt nachlässig gekleidet. Handküßte die Gastgeberin, bemerkte die irritierte Gesellschaft, überflog sie amüsiert, sagte mit der nur ihm eigenen herzerwärmenden Grandezza,»Grüß Gott, Herr Kantonsrat, grüß dich, Hélène«, winkte mir zu, nicht ungnädig, sagte dann,»ich seh, der Herr Kantonsrat ist dabei, seine Geschichte zu erzählen. Sie ist phantastisch«, goß sich Champagner ein, setzte sich. Der Greis erzählte weiter. Es ging eine Autorität von ihm aus, die alle in Bann zog. Es lag nicht daran, was er sagte, sondern wie er es sagte. Es ist darum auch eigentlich unmöglich, seine Geschichte, so wie er sie erzählte, wiederzugeben. Die Gastgeberin möge verzeihen, wenn er unverblümt von Mord gesprochen habe. Man habe ihn gefragt, was politisch möglich sei, fuhr er ungefähr fort. Die Politik und die Wirtschaft unterlägen den gleichen Gesetzen, jenen der Machtpolitik. Das gelte auch für den Krieg. Besonders die Wirtschaft sei eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln. Wie es Kriege zwischen Staaten gebe, gebe es Kriege zwischen Konzernen. Den Bürgerkriegen entsprächen die internen Machtkämpfe innerhalb eines Konzerns. Überall stehe man immer wieder vor der Notwendigkeit, Menschen von der Macht auszuschalten oder selber ausgeschaltet zu werden. Da sei ein schneller chirurgischer Griff vonnöten und abzuwarten, ob er erfolgreich gewesen sei oder nicht. Das brauche, das sei zugegeben, in den seltensten Fällen durch einen Mord zu geschehen. Morde seien eigentlich wirkungslose Methoden. Der Terrorismus kräusle nur die Oberfläche der Weltstruktur. Sein Mord sei notwendig gewesen. Doch sei nicht der Mord das Problem gewesen, sondern die Erkenntnis, daß nur ein Mord weiterhelfen konnte. Gewiß, er hätte den Mord anordnen können. Alles lasse sich delegieren. Aber er sei jetzt bald hundert und habe sich bis jetzt seine Schuhe selber gebunden. Seien später noch weitere Morde nötig, die erledigten sich von selber, Gott habe bei der Erschaffung der Welt nur einmal zugegriffen. Ein Anstoß hätte genügt. Auch ihm sei die Lösung des Problems blitzschnell gekommen. Er schmunzelte. Er habe vor mehr als dreißig Jahren einen zu jener Zeit ebenso berühmten wie unbeliebten Politiker von einer Privatklinik zum Flughafen begleiten müssen. In der Klinik habe der berühmte Politiker in einem dicken Wintermantel wirr vor dem Bett gestanden. Er werde verfolgt. Die Erbschaftssteuer, die er durchgesetzt habe, hätte zu viele ruiniert. Er werde sich zur Wehr setzen. Er habe einen Revolver aus dem Mantel gezogen. Damit werde er jeden enterbten Erben niederschießen. Eine Schwester sei um Hilfe schreiend davongestürzt. Dann habe er den Revolver wieder in den Mantel gesteckt. Der Arzt sei mit zwei Pflegern herbeigerast gekommen. Ein Oberst im Militär, ein rüder Kerl in der Medizin, diagnostizierte, die Krankheit sitze dem Politiker nun auch im Hirn, na ja, beruflich nicht schlimm, er pumpe den Mano noch einmal mit Beruhigungsmitteln voll, dann ab mit ihm in die Heimat, sonst kratze der ihm noch hier ab. Der arme Bursche sei nach kurzem Kampf, bei dem ein Pfleger k.o. ging, aus seinem Wintermantel samt Revolver ausgepackt, sein Hintern — pardon, die Damen — vollgespritzt, in seinen Wintermantel wieder eingepackt und in seinen Rolls-Royce gestopft worden. So sei er denn mit einem bewaffneten, verrückt gewordenen Staatsmann in die Stadt gefahren. Ein wunderschöner Frühlingsabend. Beim Eindunkeln. Gegen sieben. Da man bei ihnen früh aufstehe, speise man auch frühabends. Wie er nun mit dem vor sich hin dösenden Finanzgenie die Rämistraße hinuntergefahren sei und die in die Restaurants stürzenden Menschen gesehen habe, sei ihm eine Möglichkeit durch den Kopf geschossen, wie er sein Problem auf die eleganteste Weise der Welt zu lösen vermöchte.»Mein Gott«, sagte die deutsche Witwe des italienischen Verlegers, sei das spannend. Die Person, erzählte der Greis weiter, deren Einfluß auf den Konzern er zu beseitigen hatte, habe oft die Gewohnheit gehabt, um diese Zeit in einem aller Welt bekannten Lokal zu speisen. Der Greis hatte ein zweites Glas Champagner geleert. Er habe anhalten lassen, dem nun leise schnarchenden Minister den Revolver aus dem Mantel gezogen, — sei ins Lokal gegangen, habe festgestellt, daß er richtig spekuliert hatte, daß die Person anwesend war, worauf er sie erschoß und, wieder im Rolls-Royce, den Revolver dem Politiker in die Manteltasche zurückgeschoben und ihn, den ehrenwerten Minister Ihrer Majestät, nach dem Flughafen gefahren und in eine Spezialmaschine verfrachtet, die den kranken Parteiführer samt Revolver durch die Lüfte auf seine Insel davongetragen habe, wo er, kaum angekommen, das einstige Weltreich endgültig finanziell ruinierte. Leises Gekicher von der Kultur her. Die Tochter von einer gespenstisch hoheitsvollen Ruhe. Ihr Vater hätte erzählen können, er habe ein Konzentrationslager geleitet, sie hätte keine Miene verzogen. Auch wir hörten gebannt zu. Wie einem alten Bombenleger. Und doch amüsiert, ja belustigt, verzaubert von der Leichtigkeit und dem Sarkasmus, mit welchen der Greis erzählte, die alles ins Abstrakte, Unwirkliche rückten. Ein Verleger fragte verwirrt:»Und Sie?«—»Mein Bester«, antwortete der Greis, einem Etui eine schwere Zigarre entnehmend (ich schätze, mich an meine Raucherzeit erinnernd, daß es eine Toppers war),»mein Bester«, er vergesse zweierlei. In welchen Gesellschaftskreisen wir uns bewegten, und die Justiz, die sich, wenn auch mehr unbewußt als bewußt, nach den Gesellschaftskreisen richte, über die sie zu befinden habe, wenn sie auch — besonders Privilegierteren gegenüber — manchmal allzu rabiat vorzugehen pflege, um die Vorurteile abzustreiten, die sie nun einmal habe. Aber wozu langweilen. Er sei verhaftet worden, vom Obergericht verurteilt, aber dann vom Geschworenengericht freigesprochen worden, trotzdem der Mord in aller Öffentlichkeit begangen worden sei. Na ja, notwendigerweise. Eindeutige Beweise fehlten. Die Zeugen hätten sich widersprochen. Die Tatwaffe sei nie gefunden worden. Wer schaue schon im Mantel eines Ministers nach. Ein Motiv habe man ihm nicht nachweisen können. Ein Konzern sei für einen Staatsanwalt undurchschaubar. Und dann sei auch zufällig ein ehemaliger Schweizermeister im Pistolenschießen zugegen gewesen, der, als man ihn verhören wollte, sich erhängt habe, Glück müsse man haben, es sei natürlich auch möglich, daß dieser geschossen hätte im Augenblick, als er, damals siebzigjährig, hätte schießen wollen, was wirklich gewesen sei, sei der Tote, den Kopf auf dem Tournedos Rossini mit grünen Bohnen, wie er sich erinnere, doch wie diese Wirklichkeit möglich geworden sei, sei im Grunde nebensächlich. Er zündete sich die Zigarre an, mit der er vorher hantiert hatte, ein wenig wie ein Dirigent mit seinem Taktstock. Plötzlich brach die Gesellschaft in Gelächter aus, einige klatschten in die Hände, ein dicker Journalist öffnete ein Fenster und lachte in die Nacht hinaus:»Ein unsterblicher Witz. «Alle waren von seiner Unschuld überzeugt. Auch ich. Warum eigentlich? Durch seinen Charme? Durch sein Alter? Köstlich, strahlte die deutsche Witwe des italienischen Verlegers, die Gastgeberin meinte, das Leben schreibe die unwahrscheinlichsten Geschichten, die Tochter sah mich an, kalt und aufmerksam, als wolle sie erforschen, ob ich die Geschichte glaube. Der Greis rauchte seine Zigarre und brachte das Kunststück zustande, das mir nie gelungen war, den Rauch in Ringen auszustoßen. Er verstehe, meinte er, ein zu Unrecht Beschuldigter sei nicht genierlich wie ein Mörder, daher der herzliche Beifall, es sei sein Schicksal, daß ihm niemand seinen Mord glauben wolle. Auch ich wohl nicht, und damit wandte er sich an mich, der ich in meinen Komödien meine Helden gleich haufenweise ins Jenseits schicke. Erneutes Gelächter, es ging hoch her, schwarzer Kaffee wurde serviert, Cognac. Was bleibe, sei die Frage nach der Moral, begann der Greis aufs neue, sich auf die Asche seiner Zigarre konzentrierend, die er nicht abstreifte, sondern sorgsam anwachsen ließ. Plötzlich war er ein anderer. Nicht mehr hundertjährig, sondern zeitlos. Ob er nun getötet habe oder nur töten wollte, sagte er, moralisch zähle die Absicht, nicht die Ausführung. Doch die Frage der Moral sei eine Frage der Rechtfertigung einer Handlung, die nicht den allgemeinen Grundsätzen einer Gesellschaft entspräche, nach denen diese sich angeblich richte. Nun falle die Rechtfertigung in die Kategorie des Dialektischen. Dialektisch lasse sich alles rechtfertigen, somit auch moralisch. Darum halte er jede Rechtfertigung für stillos, überspitzt gesagt, jede Moral für unmoralisch, er könne nur ins Feld führen, er habe im Interesse eines Konzerns gehandelt, der übrigens trotzdem pleite gegangen sei, so daß auch sein schöner Mord nutzlos gewesen sei, ob er ihn nun begangen habe oder ob er von einem anderen verübt worden sei, worauf er die Frage, was politisch zu erreichen sei, dahin beantworten könne: Wenn etwas, nur durch Zufall, und, wenn etwas zufällig erreicht worden sei, stelle es das Gegenteil dessen dar, was man habe erreichen wollen. Dann entschuldigte er sich. Die verehrte Gastgeberin möge so gütig sein, ihn zu entlassen, und seine Tochter Hélène ihn in die >Vier Jahreszeiten< führen. Sie rollte ihn hinaus, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich hielt seine Geschichte für erfunden. Wer mordet schon so. Aber daß der Greis einmal mächtig gewesen war und noch beträchtlichen Einfluß hatte, war nicht zu übersehen, wozu hätte ihn sonst Strauß empfangen. Ich hielt ihn für einen Wirtschaftsführer, der seine Leichen im Keller hatte, doch Börsenmanöver sind komplizierter zu erzählen als Morde, und so plauderte er denn über einen erfundenen Mord, von dem er sicher sein konnte, daß man ihm diesen im Gegensatz zu seinen Spekulationen nicht zutraute. Schon im Taxi vergaß ich seine Geschichte, dachte nur noch der Dialektik nach, die er der Moral zugeordnet hatte, und erinnerte mich plötzlich an seinen Namen: Kohler, Isaak Kohler. Ich hatte einmal bei einem Bankett der Freunde des Schauspielhauses ihm gegenübergesessen. Neben seiner Tochter. Irgendwann. Vor vielen Jahren. Was gefeiert wurde, weiß ich nicht mehr. Endlose Reden. Kohler sah damals vital und braungebrannt aus, seine Tochter berichtete, er sei eben von einer Weltreise zurückgekommen.