XI Mit knapper Not
Nur unter Kluver, Breitfock und Marssegeln steuerte die Destiny die Insel mit dem grunen Buckel an. Es wehte eine so leichte Brise, da? sie nur im Schneckentempo vorankamen — ein Eindruck, der sich noch verstarkte, als sie sich dem schmalen Vorland naherten.
Der Ausguck hatte die Insel am Abend vorher bei Anbruch der Dunkelheit entdeckt; bis zur Morgendammerung uberschlugen sich auf den nachtlichen Wachen, in der Messe wie in den Quartieren der Mannschaften die Vermutungen.
Jetzt lag das Inselchen im hellen Licht des Vormittags genau vor ihrem Bug und flimmerte im leichten Dunst, als konne es jeden Augenblick wieder wie ein Trugbild verschwinden. Zur Mitte hin stieg das Terrain an und war mit Palmenwald und sonstigem Grun bedeckt, wahrend die Abhange und der kleine, halbmondformige Strand keinerlei Deckung boten.
«Gerade sechs Faden!»
Der Ruf des Lotgasten in den Rusten machte Bolitho auf die nahen Untiefen aufmerksam. An Steuerbord gab es offenbar ein vorgelagertes Riff. Einige Seevogel schaukelten auf dem Wasser oder umkreisten neugierig die Mastspitzen. Bolitho sah Dumaresq mit Palliser und dem Master beraten. Die Insel war auf der Seekarte eingetragen, aber ohne Hinweis auf den Besitzanspruch einer Nation. Die nautischen Angaben waren nur sparlich, und Dumaresq bedauerte wohl schon seinen impulsiven Entschlu?, sie anzusteuern, um nach Wasser suchen zu lassen. Aber sie waren bei den allerletzten Wasserfassern angekommen, und auch deren Inhalt war so ekelhaft, da? Bulkley und der Zahlmeister sich zu einem gemeinsamen Vorsto? beim Kommandanten entschlossen hatten; er moge fur baldigen Ersatz sorgen, und sei es auch nur so viel, da? es gerade bis zu ihrem Bestimmungsort reichte.
«Sieben Faden!»
Gulliver erlaubte sich ein leichtes Aufatmen, da der Kiel wieder uber tieferes Wasser glitt. Doch das Schiff stand immer noch zwei Kabellangen vom Strand entfernt. Wenn der Wind zunahm und gleichzeitig die Richtung anderte, konnte die Destiny bei dieser geringen Wassertiefe und bei so wenig Platz fur ein Freisegeln von dem ausgedehnten Riff noch immer in Schwierigkeiten geraten.
«Funf Faden!»
Dumaresq gab Palliser ein Zeichen.»Aufschie?en und klar zum Ankern!»
Mit Segeln, die in der gro?en Hitze kaum killten, drehte die Destiny trage im tiefblauen Wasser, bis der Befehl:»Fallen Anker!«uber Deck gellte. Das Eisen klatschte hinab, und um seine Einschlagstelle im glatten Wasser bildeten sich Wellenkreise, die immer weiter vom Bug wegliefen, wahrend heller Sand vom Grund aufwirbelte.
Vom Augenblick des Ankerns an schien die Hitze noch zuzunehmen; als Bolitho aufs Achterdeck ging, sah er Egmont und seine Frau nahe der Heckreling unter einem Sonnensegel stehen, das George Durham, der Segelmacher, fur sie aufgeriggt hatte.
Dumaresq studierte die Insel sorgfaltig durch das gro?e Fernrohr des Signalfahnrichs.»Kein Rauch oder Zeichen von menschlichem Leben«, stellte er fest.»Auch am Strand kann ich keine Spuren entdecken, zumindest auf dieser Seite der Insel gibt es keine Boote. «Er reichte Palliser das Glas.»Der Hugel sieht vielversprechend aus, eh?»
Gulliver meinte vorsichtig:»Da konnte es Wasser geben, Sir.»
Dumaresq beachtete ihn nicht, sondern wandte sich an seine beiden Passagiere.»Das ware vielleicht eine Gelegenheit, sich die Beine an Land zu vertreten, bis wir wieder ankerauf gehen. «Er hatte beide angesprochen, doch Bolitho spurte, da? seine Worte an die Frau gerichtet waren.
Er dachte an den Augenblick, als sie zu ihm an Deck gekommen war. Er war so kurz, aber kostbar gewesen. Und gefahrlich, aber gerade darum besonders erregend.
Sie hatten nur wenige Worte gewechselt. Den ganzen folgenden Tag hatte Bolitho daran gedacht, es noch einmal durchlebt und sich jeden Augenblick in Erinnerung gerufen, um nichts davon zu vergessen.
Er hatte sie an sich gezogen, wahrend das Schiff ins erste matte Licht des fruhen Tages hineinpflugte, hatte ihr Herz an dem seinen schlagen gespurt und sie noch enger an sich pressen wollen, aber gleichzeitig befurchtet, da? seine Kuhnheit alles zerstoren konnte. Sie hatte sich aus seinen Armen befreit und ihn leicht auf den Mund geku?t, bevor sie mit den letzten Schatten auf dem Achterdeck verschmolz und ihn allein lie?.
Als Dumaresq jetzt so vertraulich von» Beine vertreten «mit ihr sprach, durchscho? es Bolitho wie ein Pfeil der Eifersucht, die er bisher nicht gekannt hatte.
Dumaresq weckte ihn aus seinen Gedanken auf.»Sie werden ein Landekommando fuhren, Mr. Bolitho. Stellen Sie fest, ob es einen Bach oder brauchbaren Tumpel in den Felsen gibt. Ich warte auf Ihr Signal.»
Er ging nach achtern, und Bolitho horte ihn wieder mit Egmont und Aurora sprechen.
Bolitho zitterte. Er merkte, da? Jury ihn beobachtete, und glaubte einen Augenblick, er habe Auroras Namen wieder laut vor sich hin gesprochen.
Palliser fuhr ihn an:»Setzen Sie sich endlich in Bewegung! Wenn es kein Wasser gibt, wu?ten wir es gern moglichst bald.»
Colpoys lehnte lassig am Besanmast.»Ich kann ein paar meiner Leute zum Schutz mitschicken, wenn Sie wollen.»
Aber Palliser bellte:»Zum Teufel, wir bereiten uns auf keine Feldschlacht vor!»
Der Kutter wurde ausgeschwungen und langsseits zu Wasser gebracht. Stockdale, der zum Geschutzfuhrer befordert worden war, hatte bereits einige Leute abgeteilt, wahrend der Bootssteurer ein paar Taljen zur Ubernahme der Wasserfasser verstauen lie?.
Bolitho wartete, bis alle Leute im Boot waren, und meldete es Palli-ser. Er sah, da? Aurora ihn beobachtete. Die Art, wie ihre Hand auf dem Halsschmuck ruhte, sollte ihn vielleicht daran erinnern, da? seine Hand vor gar nicht langer Zeit dort geruht hatte.
Palliser sagte:»Nehmen Sie eine Pistole mit und feuern Sie einen Schu? ab, wenn Sie Wasser finden. «Er kniff die Augen gegen das starke Sonnenlicht zusammen.»Und wenn die Fasser endlich gefullt sind, konnen sich die Leute etwas anderes zum Norgeln suchen!»
Der Kutter stie? von der Bordwand ab. Als sie den Schatten der De-stiny verlie?en, spurte Bolitho die stechende Sonne im Nacken.»Rudert an!»
Bolitho lie? einen Arm au?enbords hangen, fuhlte die angenehme Kuhle des Wassers und bildete sich ein, Aurora ware bei ihm, schwamme neben ihm und laufe dann Hand in Hand mit ihm den wei?en Strand hinauf, um einander das erstemal zu entdecken. Als er uber das Dollbord schaute, sah er unter sich ganz klar den
Meeresgrund: wei?e Steine oder Muscheln, dazwischen einzelne Korallenstocke, die in dem schimmernden Licht trugerisch harmlos aussahen.
Stockdale sagte zum Bootssteurer:»Sieht aus, als ware hier noch nie jemand gewesen, Jim.»
Der Mann lie? die Pinne los und nickte ihm zu, und diese Bewegung genugte, um ein Rinnsal von Schwei? unter seinem geteerten Hut herabflie?en zu lassen.
«Auf Riemen! Bugmann, Riemen ein!»
Bolitho beobachtete, wie der Schatten des Kutters unter ihnen anstieg und mit dem Rumpf zusammenflo?, als der Bugmann uber Bord sprang und das Boot auf den Sand zog. Die Kuttergaste holten ihre Riemen ein und hockten einige Zeit keuchend wie alte Manner auf ihren Duchten.
Dann herrschte vollige Stille. Weit weg schlug leichte Brandung gegen ein Riff, und um den Kutter gurgelte das Wasser in stetem Auf und Ab. Kein Vogel stieg von den Palmenhainen auf, nicht einmal ein Insekt.
Bolitho kletterte uber das Dollbord und watete zum Strand. Er trug offenes Hemd und Kniehose, aber ihm war, als sei er in einen dicken Pelz gehullt. Der Wunsch, seine ramponierte Kleidung abzuwerfen und sich nackt in die See zu sturzen, mischte sich mit seinen Phantasien uber Aurora. Er fragte sich, ob sie ihn wohl vom Schiff aus durch ein Fernrohr beobachtete.
Doch dann fiel Bolitho plotzlich ein, da? die Manner auf einen Befehl von ihm warteten.
Er sagte zum Bootssteurer:»Sie bleiben mit den Kuttergasten beim Boot. Vielleicht mussen Sie noch mehrmals hin und zuruck pullen. «Und zu Stockdale sagte er:»Wir klettern mit den ubrigen Mannern den Hang hinauf. Das ist der kurzeste Weg und wohl auch der kuhlste.»