Ein Ziel stand vor Siddhartha, ein einziges: leer werden, leer von Durst, leer von Wunsch, leer von Traum, leer von Freude und Leid. Von sich selbst wegsterben, nicht mehr Ich sein, entleerten Herzens Ruhe zu finden, im entselbsteten Denken dem Wunder offen zu stehen, das war sein Ziel. Wenn alles Ich Xberwunden und gestorben war, wenn jede Sucht und jeder Trieb im Herzen schwieg, dann musste das Letzte erwachen, das Innerste im Wesen, das nicht mehr Ich ist, das groXe Geheimnis.
Schweigend stand Siddhartha im senkrechten Sonnenbrand, glXhend vor Schmerz, glXhend vor Durst, und stand, bis er nicht Schmerz noch Durst mehr fXhlte. Schweigend stand er in der Regenzeit, aus seinem Haare troff das Wasser Xber frierende Schultern, Xber frierende HXften und Beine, und der BXer stand, bis Schultern und Beine nicht mehr froren, bis sie schwiegen, bis sie still waren. Schweigend kauerte er im Dorngerank, aus der brennenden Haut tropfte das Blut, aus SchwXren der Eiter, und Siddhartha verweilte starr, verweilte regungslos, bis kein Blut mehr floss, bis nichts mehr stach, bis nichts mehr brannte.
Siddhartha saX aufrecht und lernte den Atem sparen, lernte mit wenig Atem auskommen, lernte den Atem abzustellen. Er lernte, mit dem Atem beginnend, seinen Herzschlag beruhigen, lernte die SchlXge seines Herzens vermindern, bis es wenige und fast keine mehr waren.
Vom Xltesten der Samanas belehrt, Xbte Siddhartha Entselbstung, Xbte Versenkung, nach neuen Samanaregeln. Ein Reiher flog Xberm Bambuswald X und Siddhartha nahm den Reiher in seine Seele auf, flog Xber Wald und Gebirg, war Reiher, fraX Fische, hungerte Reiherhunger, sprach ReihergekrXchz, starb Reihertod. Ein toter Schakal lag am Sandufer, und Siddharthas Seele schlXpfte in den Leichnam hinein, war toter Schakal, lag am Strande, blXhte sich, stank, verweste, ward von HyXnen zerstXckt, ward von Geiern enthXutet, ward Gerippe, ward Staub, wehte ins Gefild. Und Siddharthas Seele kehrte zurXck, war gestorben, war verwest, war zerstXubt, hatte den trXben Rausch des Kreislaufs geschmeckt, harrte in neuem Durst wie ein JXger auf die LXcke, wo dem Kreislauf zu entrinnen wXre, wo das Ende der Ursachen, wo leidlose Ewigkeit begXnne. Er tXtete seine Sinne, er tXtete seine Erinnerung, er schlXpfte aus seinem Ich in tausend fremde Gestaltungen, war Tier, war Aas, war Stein, war Holz, war Wasser, und fand sich jedesmal erwachend wieder, Sonne schien oder Mond, war wieder Ich, schwang im Kreislauf, fXhlte Durst, Xberwand den Durst, fXhlte neuen Durst.
Vieles lernte Siddhartha bei den Samanas, viele Wege vom Ich hinweg lernte er gehen. Er ging den Weg der Entselbstung durch den Schmerz, durch das freiwillige Erleiden und Xberwinden des Schmerzes, des Hungers, des Dursts, der MXdigkeit. Er ging den Weg der Entselbstung durch Meditation, durch das Leerdenken des Sinnes von allen Vorstellungen. Diese und andere Wege lernte er gehen, tausendmal verlieX er sein Ich, stundenlang und tagelang verharrte er im Nicht-Ich. Aber ob auch die Wege vom Ich hinwegfXhrten, ihr Ende fXhrte doch immer zum Ich zurXck. Ob Siddhartha tausendmal dem Ich entfloh, im Nichts verweilte, im Tier, im Stein verweilte, unvermeidlich war die RXckkehr, unentrinnbar die Stunde, da er sich wiederfand, im Sonnenschein oder im Mondschein, im Schatten oder im Regen, und wieder Ich und Siddhartha war, und wieder die Qual des auferlegten Kreislaufes empfand.
Neben ihm lebte Govinda, sein Schatten, ging dieselben Wege, unterzog sich denselben BemXhungen. Selten sprachen sie anderes miteinander, als der Dienst und die Xbungen erforderten. Zuweilen gingen sie zu zweien durch die DXrfer, um Nahrung fXr sich und ihre Lehrer zu betteln.
"Wie denkst du, Govinda," sprach einst auf diesem Bettelgang Siddhartha, "wie denkst du, sind wir weiter gekommen? Haben wir Ziele erreicht?"
Antwortete Govinda: "Wir haben gelernt, und wir lernen weiter. Du wirst ein groXer Samana sein, Siddhartha. Schnell hast du jede Xbung gelernt, oft haben die alten Samanas dich bewundert. Du wirst einst ein Heiliger sein, o Siddhartha."
Sprach Siddhartha: "Mir will es nicht so erscheinen, mein Freund. Was ich bis zu diesem Tage bei den Samanas gelernt habe, das, o Govinda, hXtte ich schneller und einfacher lernen kXnnen. In jeder Kneipe eines Hurenviertels, mein Freund, unter den Fuhrleuten und WXrfelspielern hXtte ich es lernen kXnnen."
Sprach Govinda: "Siddhartha macht sich einen Scherz mit mir. Wie hXttest du Versenkung, wie hXttest du Anhalten des Atems, wie hXttest du Unempfindsamkeit gegen Hunger und Schmerz dort bei jenen Elenden lernen sollen?"
Und Siddhartha sagte leise, als sprXche er zu sich selber: "Was ist Versenkung? Was ist Verlassen des KXrpers? Was ist Fasten? Was ist Anhaltendes Atems? Es ist Flucht vor dem Ich, es ist ein kurzes Entrinnen aus der Qual des Ichseins, es ist eine kurze BetXubung gegen den Schmerz und die Unsinnigkeit des Lebens. Dieselbe Flucht, dieselbe kurze BetXubung findet der Ochsentreiber in der Herberge, wenn er einige Schalen Reiswein trinkt oder gegorene Kokosmilch. Dann fXhlt er sein Selbst nicht mehr, dann fXhlt er die Schmerzen des Lebens nicht mehr, dann findet er kurze BetXubung. Er findet, Xber seiner Schale mit Reiswein eingeschlummert, dasselbe, was Siddhartha und Govinda finden, wenn sie in langen Xbungen aus ihrem KXrper entweichen, im Nicht-Ich verweilen. So ist es, o Govinda."
Sprach Govinda: "So sagst du, o Freund, und weiXt doch, dass Siddhartha kein Ochsentreiber ist und ein Samana kein Trunkenbold. Wohl findet der Trinker BetXubung, wohl findet er kurze Flucht und Rast, aber er kehrt zurXck aus dem Wahn und, findet alles beim alten, ist nicht weiser geworden, hat nicht Erkenntnis gesammelt, X ist nicht um Stufen hXher gestiegen."
Und Siddhartha sprach mit LXcheln: "Ich weiX es nicht, ich bin nie ein Trinker gewesen. Aber dass ich, Siddhartha, in meinen Xbungen und Versenkungen nur kurze BetXubung finde und ebenso weit von der Weisheit, von der ErlXsung entfernt bin wie als Kind im Mutterleibe, das weiX ich, o Govinda, das weiX ich."
Und wieder ein anderes Mal, da Siddhartha mit Govinda den Wald verlieX, um im Dorfe etwas Nahrung fXr ihre BrXder und Lehrer zu betteln, begann Siddhartha zu sprechen und sagte: "Wie nun, o Govinda, sind wir wohl auf dem rechten Wege? NXhern wir uns wohl der Erkenntnis? NXhern wir uns wohl der ErlXsung? Oder gehen wir nicht vielleicht im Kreise X wir, die wir doch dem Kreislauf zu entrinnen dachten?"
Sprach Govinda: "Viel haben wir gelernt, Siddhartha, viel bleibt noch zu lernen. Wir gehen nicht im Kreise, wir gehen nach oben, der Kreis ist eine Spirale, manche Stufe sind wir schon gestiegen."
Antwortete Siddhartha: "Wie alt wohl, meinst du, ist unser Xltester Samana, unser ehrwXrdiger Lehrer?"
Sprach Govinda: "Vielleicht sechzig Jahre mag unser Xltester zXhlen."
Und Siddhartha: "Sechzig Jahre ist er alt geworden und hat Nirwana nicht erreicht. Er wird siebzig werden und achtzig, und du und ich, wir werden ebenso alt werden und werden uns Xben, und werden fasten, und werden meditieren. Aber Nirwana werden wir nicht erreichen, er nicht, wir nicht. O Govinda, ich glaube, von allen Samanas, die es gibt, wird vielleicht nicht einer, nicht einer Nirwana erreichen. Wir finden TrXstungen, wir finden BetXubungen, wir lernen Kunstfertigkeiten, mit denen wir uns tXuschen. Das Wesentliche aber, den Weg der Wege finden wir nicht."
"MXgest du doch," sprach Govinda, "nicht so erschreckende Worte aussprechen, Siddhartha! Wie sollte denn unter so vielen gelehrten MXnnern, unter so viel Brahmanen, unter so vielen strengen und ehrwXrdigen Samanas, unter so viel suchenden, so viel innig beflissenen, so viel heiligen MXnnern keiner den Weg der Wege finden?"
Siddhartha aber sagte mit einer Stimme, welche so viel Trauer wie Spott enthielt, mit einer leisen, einer etwas traurigen, einer etwas spXttischen Stimme: "Bald, Govinda, wird dein Freund diesen Pfad der Samanas verlassen, den er so lang mit dir gegangen ist. Ich leide Durst, o Govinda, und auf diesem langen Samanawege ist mein Durst um nichts kleiner geworden. Immer habe ich nach Erkenntnis gedXrstet, immer bin ich voll von Fragen gewesen. Ich habe die Brahmanen befragt, Jahr um Jahr, und habe die heiligen Vedas befragt, Jahr um Jahr, und habe die frommen Samanas befragt, Jahr um Jahr. Vielleicht, o Govinda, wXre es ebenso gut, wXre es ebenso klug und ebenso heilsam gewesen, wenn ich den Nashornvogel oder den Schimpansen befragt hXtte. Lange Zeit habe ich gebraucht und bin noch nicht damit zu Ende, um dies zu lernen, o Govinda: dass man nichts lernen kann! Es gibt, so glaube ich, in der Tat jenes Ding nicht, das wir `Lernen' nennen. Es gibt, o mein Freund, nur ein Wissen, das ist Xberall, das ist Atman, das ist in mir und in dir und in jedem Wesen. Und so beginne ich zu glauben: dies Wissen hat keinen Xrgeren Feind als das Wissenwollen, als das Lernen."