Er legte die Pistole auf den Tisch. Er brauchte sie nicht. Er streckte eine Hand aus und Jonathan wollte einen Schritt zuruckmachen … aber dafur war kein Platz. Er stand bereits mit dem Rucken zur Wand. Casaflora riss ihm mit einer einzigen raschen Bewegung das Hemd vom Leib, er horte den Stoff rei?en, fuhlte, wie er an ihm hinunterglitt. Noch eine Bewegung der Hand, die gurtellose Hose folgte, wieder riss Stoff, der Stoff von zu oft getrockneter, meersalzstarrer Unterwasche. Und dann stand er nackt, splitterfasernackt, im Taschenlampenlicht. Das Licht war kalt.

Casaflora pfiff durch die Zahne.

»Dachte ich es mir doch.«

Er streckte die Hand ein weiteres Mal aus. Jonathan, der nicht Jonathan war, wollte etwas tun, nach der Hand schlagen, zur Seite springen, irgendetwas – doch es war, als ware sein Korper versteinert. Die letzten Worte hatte Casaflora auf Deutsch gesagt. Und er selbst hatte auf Deutsch geflucht, vor Sekunden. Es schien Stunden her. Der geflucht hatte, war noch Jonathan Smith gewesen. Und jetzt, jetzt war alles anders.

»Du bist aus Deutschland, wie ich«, sagte Casaflora. »Du bist eine verfluchte kleine deutsche Schwindlerin.«

Lied der Seelowen

Wer uns je zu nahe kam,

halt uns fur erstaunlich zahm.

Wir fliehn nicht, wenn ein Schiff sich nah’rt,

wir schwimmen ihm entgegen.

Wir fuhl’n uns durch Besuch geehrt,

Besuch kommt uns gelegen.

Wir zeigen gerne unsren Gasten,

wo man auf guten Fischgrund sto?t

und wo man nach dem Mahl am besten

im warmen Sande dost.

Wer uns je zu nahe kam,

halt uns fur erstaunlich zahm.

Wir schwimmen mit dem Gast im Kreise,

wir lehr’n ihn jeden Tauchertrick

und lachen nur dezent und leise

uber sein Ungeschick.

Wir schlafen voller Gluck und Wonne

auf Banken, die der Mensch erbaut,

und aalen uns dort in der Sonne

und schnarchen manchmal sogar laut.

Der Mensch, so ohne Scheu und Scham,

ist er nicht erstaunlich zahm?

Er flieht nicht, wenn wir naher kommen,

nein, ER schwimmt uns entgegen.

Er wirkt nicht angstlich, nicht beklommen:

Kommt ihm Besuch gelegen?

Die geheime Reise der Mariposa - i_011.jpg

Marit

Marit

Dein Freund da an Deck hat keine Ahnung, woher du kommst«, sagte Casaflora. »Oder?«

»Nein«, flusterte sie. »Er … er hasst alle Deutschen.«

Casaflora lachte leise. »Tut er das? Wie hei?t du wirklich?«

»Marit«, wisperte sie, kaum horbar. »Mein Onkel … er hat gesagt, es ist sicherer als Junge … und es war auch der Pass eines Jungen …«

Casaflora nickte. »Naturlich. Viel sicherer. Einem Madchen konnen zu viele Dinge zusto?en auf einer solchen Reise.« Er fasste sie nicht an, seine Hand verharrte in der Luft. Aber sie sah seine Augen.

»Bitte …«, flusterte Marit. »Bitte nicht!«

»Wenn du nach deinem Freund schreist«, sagte Casaflora, »werde ich ihm wohl sagen mussen, woher du kommst …«

Als konnte er mich horen, dachte Marit. Der Sturm war viel zu laut. In diesem Moment lief ein Ruck durch die Mariposa, das ganze Schiff schwankte – und sie verloren beide das Gleichgewicht. Marit fand sich auf dem Boden wieder, neben sich den alten Mann, zu nah, viel zu nah. Sein Atem roch nach kalten Zigaretten und ungewaschenen Kleidern. Die Taschenlampe war ebenfalls zu Boden gefallen, doch sie sah in ihrem Licht, dass die Mauser aus der geheimen Koje gekullert war. Aber sie kam nicht daran. Casafloras schwerer Korper lag zwischen ihr und der Mauser.

»Wir gehen alle unter«, flusterte er heiser, »und dann ist es aus mit uns. Es ware doch schade, wenn wir nicht vorher …«

Das Heulen des Sturms ubertonte den Rest seiner Worte. Auch das Gerausch des prasselnden Regens war plotzlich wieder da. Jemand hatte die Kajutentur geoffnet.

»Jonathan!«, schrie Jose. »Was ist hier los?«

Jose hatte die Mariposa schlie?lich doch in den Wind gestellt. Sollte der andere Segler sie einholen. Wichtiger war, dass die Mariposa nicht volllief und sank. Wo blieb Jonathan? Etwas stimmte nicht. Er lie? das Steuer los, riss die Kajutentur auf und blieb einen Moment verwirrt stehen. Da war ein heller Fleck von Taschenlampenlicht an der Decke der Kajute. Zwischen Tisch und Backbordbank klemmte seine Mauser. Die Klappe zu der verborgenen Koje stand offen und auf dem Boden direkt zu seinen Fu?en lag die kleine schwarze Pistole. Dann sah er die beiden Korper, die ebenfalls auf dem Boden lagen, unter dem Tisch. Zwei Menschen, die vermutlich im Sturm das Gleichgewicht verloren hatten. Aber der Gro?ere der beiden hatte das Gleichgewicht wiedergefunden, er kniete neben dem anderen und hielt ihn fest … Jonathans Kleider lagen in einem leblosen Haufen auf dem Boden. Drau?en tobte der Sturm.

Jose hielt die Mauser in den Handen, ehe er sich uberhaupt bewusst wurde, dass er sie aufgehoben und nachgeladen hatte. Er presste ihre kalte Schnauze in Casafloras Nacken.

»Lass ihn los!«, brullte er gegen den Sturm an. »Sofort!«

Casaflora rappelte sich hoch, blickte in die Mundung des Gewehrs und hob die eine Hand. Mit der anderen klammerte er sich am Tisch fest, um nicht abermals das Gleichgewicht zu verlieren. Jose nahm mit der freien Hand die Pistole, ohne Casaflora aus den Augen zu lassen. Erst danach sah er Jonathan an, der ebenfalls aufgestanden war. Er hatte sein Hemd aufgehoben und druckte es an sich. Etwas stimmte mit Jonathans nacktem Korper unter dem Hemd nicht. Jose merkte, wie ihm schwindelig wurde.

»Du bist … du bist gar nicht … du warst nie … du bist …«, stotterte er.

»Ein Madchen. Ja. Tut mir leid.«

Jose schuttelte den Kopf. Er konnte nicht klar denken. Das Gro?fall, dachte er. Das Messer. Der Sturm. Was auch immer seine Entdeckung bedeutete, jetzt war die Mariposa wichtiger. Er warf Jonathan – der Person, die Jonathan gewesen war – die Pistole zu und griff nach dem Messer, das die ganze Zeit stumm auf dem Regal gelegen hatte.

«Hat er dir etwas getan?«, fragte Jose.

Sie schuttelte den Kopf. Jose war rechtzeitig gekommen.

»Erschie? ihn«, sagte er ernst, »wenn es sein muss.«

Dann kletterte er zuruck an Deck.

Aber niemand erschoss irgendwen in jener Nacht. Als Jose auf dem schwankenden Schiff zum Mast kletterte, mitten in Wellen und Gischt, mitten in Nacht und Chaos, sah er aus dem Augenwinkel, wie Casaflora ihm folgte. Er durchtrennte das Seil, das das Gro?segel hielt, mit einem Schnitt, und dann waren da Hande, die ihm halfen, das Segel herunterzuzerren, Hande, die die Mariposa besser kannten als Jose. Hande, die das Segel am Baum festzurrten, rasch und effektiv.

»Wo ist …?«, begann Jose und wusste nicht, welchen Namen er Jonathan jetzt geben sollte.

»Schopft das Wasser aus dem Boot!«, rief Casaflora.

»Der Motor!«, schrie Jose. »Er springt nicht an!«

Casaflora war bereits auf dem Weg zuruck zum Heck und hockte gleich darauf auf den Knien im Wasser, duckte sich und kroch halb unter das Achterverdeck, um den Motor zu begutachten.

Jose kletterte zuruck in die Kajute und holte die Taschenlampe, damit Casaflora etwas erkennen konnte. Um sie herum tobte der Pazifik und warf die Mariposa umher wie ein Spielzeug. Ein Schiff, das nicht vorwartsfahrt, lasst sich nicht steuern, das war Jose klar. Wenn sie den Motor nicht anbekamen, wurden die Wellen weiter von der Seite auf die Mariposa einschlagen und sie versenken. Jose sah sich nach einem zweiten Eimer um, doch es gab keinen. Er fand den Kochtopf in der Kajute und half, Wasser zu schopfen. Es stand kniehoch. Es ertrankte vermutlich auch den Motor. Er horte Casaflora fluchen.