Der Schuss, der sich aus seinem Gewehr loste, loste sich zu spat. Jose sah nur noch einen Wirbel aus rasender, brodelnder Wut, ein Huf traf ihn am Kopf – und er erwachte aus seinem Erinnerungstraum, keuchend vor Schmerz.

»Ein … ein Bulle«, flusterte er. »Es war nur ein Bulle. Und wir haben die ganze Zeit uber gedacht …«

Der Schmerz hinter seiner Schlafe war noch immer da, er war zu real, um aus seiner Erinnerung zu stammen. Und dann merkte er, dass jemand mit einem kleinen harten Gegenstand an seine Schlafe hammerte. Er versuchte die Augen zu offnen und schaffte es nur mit Muhe. Die Wellen mussten uber ihn geschwappt sein, ohne dass er es gemerkt hatte: Das Salz hatte seine Wimpern verklebt und verkrustet. Er blickte aus schmalen Schlitzen in das Gesicht – eines Flamingos. Hatte Eduardo beschlossen, der erste menschenfressende Flamingo zu werden? Jetzt bog er den Hals zur Seite und vollfuhrte ein paar komplizierte Bewegungen mit seinen Flugeln. Jose folgte seinem Blick. Und da begriff er mit einem Schlag, was der Flamingo ihm sagen wollte. Es ging um Marit.

Sie war ins Wasser gerutscht, nur ihre Arme befanden sich noch auf der ehemaligen Kajutentur. Und sie rutschte weiter. Auch sie hatte die Augen geschlossen. Jose griff nach ihrer Hand und versuchte sie hochzuziehen, zuruck auf die Tur. Aber er hatte keine Kraft mehr. Er, der ein Mann hatte sein wollen, war so schwach geworden wie ein Kind. Alles, was er tun konnte, war, Marits Hand nicht loszulassen.

»Marit!«, wollte er rufen, doch er flusterte ihren Namen nur. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, und verstummte, um zu lauschen. Ihre Worte waren leise wie der Wind am anderen Ende der Welt, doch nach einer Weile verstand er Fetzen von dem, was sie sagte.

Da war das Wort »Nachtfalter« und das Wort »Telefon«. Sie wiederholte ihren Satz, und schlie?lich verstand Jose: »Sie hat es auch am Telefon gesagt. Nachtfalter. Es geht um die Nacht-falter … Mission Nachtfalter … einen Tag bevor alles brannte …« Traumte Marit? Ihre Satze ergaben keinen Sinn. »Das Schiff!«, flusterte sie jetzt. »Waterwegs Schiff! Wie hie? es?«

Mari Nocturna, dachte Jose. Die Nachtliche Maria. Nein. Plotzlich verstand er, warum das a am Namen Maria fehlte. »Mari« war eine Abkurzung: die Abkurzung von »Mariposa«. Auch Waterwegs Schiff trug den Namen Mariposa. Mariposa Nocturna.Der Nachtfalter.

Aber wer hatte das Wort am Telefon gesagt? Und wo? In London? Eine Welle uberspulte das Flo?, riss an Marit – riss ihre Hand aus Joses Hand.

»Nein!«, schrie er. Wollte er schreien. Er schrie nicht. Es war ein stummes Nein.

Er sah Marit versinken, wie er die Mariposa hatte versinken sehen. Er wollte den Kopf heben, um zu sehen, ob ein Wunder geschehen und eines der Schiffe wiedergekommen war. Ob alles in letzter Sekunde noch gut wurde. Doch sein Korper gehorchte ihm nicht mehr. Sein Kopf sank zuruck auf das Holz der Bank und er schloss die Augen wieder.

Lied des Blaufu?tolpels

Der Pinguin schwimmt, vor allen Dingen.

Der Fink, der singt voll Su?e.

Der Albatros hat die gro?ten Schwingen.

ICH habe die schonsten Fu?e.

Wale sind riesig. Delfine sind klug.

MIR sind meine blauen Fu?e genug.

Ich kann auch tanzen, den schwierigsten Tanz,

wenn ich die Liebste gru?e.

Ich fliege und tauche voll Eleganz,

doch am schonsten sind meine Fu?e.

Sie sind sooo schon. Vom blauesten Blau.

Willst du sie sehen? Komm, schau genau.

Du, Bruder Mensch, hast weit und breit

die Welt dir untertan gemacht.

Doch deine Fu?e – welch ein Leid! –

sind hasslich wie die Nacht.

Die geheime Reise der Mariposa - i_015.jpg

La cruz negra

Das schwarze Kreuz

Marit lag in ihrem Bett, zu Hause in Hamburg, und horte den Fliegeralarm. Sie lag ganz still da. Sie wusste, sie musste aufstehen, den Koffer nehmen und mit Mama und Julia hinunter in den Luftschutzkeller gehen. Nein. Sie wurde einfach hier liegen bleiben, bis alles wieder still war. Es wurde nichts passieren. Es gab so oft Alarm. Es passierte nie etwas.

»Marit! Wach auf!« Das war Mama. Sie musste direkt neben Marits Bett stehen. Und dann sagte sie etwas Seltsames. Sie sagte: »Dies ist die Nacht. Beim nachsten Alarm, haben sie gesagt, ist es an uns, mit den Nachtfaltern zu fliegen.«

Marit rieb sich die Augen. »Was?«

Sie sah Mama lacheln, obwohl es doch dunkel war. »Spater. Spater erklare ich es dir«, sagte sie. »Beeil dich jetzt. Ich kummere mich um Julia.«

Marit schlupfte in ihre Sachen. Etwas streifte ihre Wange – vielleicht war es einer der nachtlichen Schmetterlinge. Sie beeilte sich, das Hemd uber den Kopf zu ziehen, aber sie war zu verschlafen und zu verwirrt: Sie verhedderte sich darin, fand die Armel nicht, fand den Kragen nicht, steckte fest, konnte nicht mehr atmen … Verzweifelt schlug sie um sich, rang nach Luft und schluckte Wasser. Und endlich begriff sie, dass es kein Hemd war, das sie festhielt: Es war der Ozean. Sie bekam einen Sto? vor die Brust, einen an die Schulter, etwas schubste sie nach oben: Marit tauchte auf, spuckte Wasser und fullte ihre Lungen mit Luft. Da waren Korper um sie herum, gro?e, geschmeidige Korper, dicht an dicht, die sie vorwartsstie?en, spielerisch, ubermutig.

Die Korper von Seelowen.

Die Benommenheit wich von Marit, und sie sah sie jetzt deutlich: ihre blitzenden Knopfaugen, ihre runden Kopfe, die zitternden Schnurrhaare. Und dann sah sie die Felsen. Ihre Spitzen ragten aus dem Wasser, schwarz und feucht glanzend, bewachsen mit Algen und Seepocken. Die Seelowen schubsten ihr menschliches Spielzeug durch ein Labyrinth aus scharfem Stein, und als Marit den Kopf hob, sah sie das Ufer einer Insel. »Ist … ist sie das?«, flusterte sie. »Die Isla Maldita?«

Gleich darauf spurte sie Sand unter sich, zog sich auf einen Strand und blieb dort liegen. Die Seelowen scharten sich um sie und beaugten sie voller Neugier. Eines der Tiere rieb seinen Kopf an Marits Kopf und da erkannte sie die Seelowin.

»Chispa«, flusterte sie. »Sie ist es, nicht wahr? Die Insel, zu der Jose wollte. Aber wo ist er? Habe ich ihn verloren, dort drau?en auf dem Meer? Fur … immer?«

Chispa sah zuruck zum Wasser und Marit folgte ihrem Blick. Dort trieb ein seltsames Gefahrt heran, ein Flo?, bestehend aus einer Kajutentur und einer Schiffsbank. Das Flo? fand den Weg durch das steinige Labyrinth langsam von selbst, verkantete sich manchmal zwischen den Felsen, loste sich wieder und wurde weiter von der Dunung des Meeres herangetragen. Ein Albatros und ein Flamingo schwammen dahinter auf dem Wasser, ein Wasserleguan. Und war das ein Pinguin? Auf dem Flo? jedoch lag eine reglose Gestalt mit braun gebrannter Haut und schwarzem Haar.

Da war es, als kehrte die Kraft in Marits Korper zuruck, und sie schaffte es, aufzustehen und ins Wasser zuruckzuwaten.

»Jose!«, rief sie heiser. »Jose, horst du mich?«

Er hatte die Augen geschlossen. Eine wei?e Salzwasserkruste verklebte seine Lider. Jetzt, jetzt war das Flo? ganz nah. Marit packte seinen Rand und zog es auf den Strand. Die Tiere, die das Flo? begleitet hatten, kamen an Land, und als der Albatros sein wei?es Gefieder schuttelte, fiel etwas Kleines, Braunes heraus: Carmen.

Marit beugte sich uber Jose. Er lag auf dem Bauch, und sie konnte nicht sehen, ob er atmete.

»Jose!«, sagte sie noch einmal, verzweifelter.

Da hob er den Kopf und sah sie an.

»Sieh mal einer an«, wisperte er. »Du bist ja noch am Leben.«

In diesem Moment begann es zu regnen.

Der Regen wusch ihnen das Salz von der Haut, wusch ihnen die Hitze aus dem Kopf und die Erschopfung aus dem Herzen. Sie lagen nebeneinander im Sand, hielten ihre Gesichter den Tropfen entgegen und spurten, wie das Leben in sie zuruckkehrte.