Sie zwang sich aufzustehen. Leise, ganz leise tastete sie sich um den winzigen Tisch herum … da erwachte der Schlafende und richtete sich halb auf. Sie konnte noch immer nichts erkennen.

»Wer … wer sind Sie?«, flusterte sie.

Sie erhielt keine Antwort. Nur ein seltsames Schnaufen drang aus der Dunkelheit zu ihr. Dann rollte der andere von der Bank und landete mit einem dumpfen Aufprall vor ihren Fu?en.

Marit war mit einem Satz bei der Tur, riss sie auf und schrie Joses Namen.

»Himmel!«, sagte Jose. »Du kannst einen erschrecken! Was ist passiert?«

»In … in der Kajute … da ist etwas … jemand!«, stammelte Marit.

Jose schob sie sanft beiseite, um die Tur zur Kajute sehen zu konnen. Und auch Marit drehte sich noch einmal um.

Aus dem Dunkel der Kajute streckte sich eine braun behaarte Schnauze. Lange Schnurrhaare zitterten und zwei schwarze Knopfaugen blinzelten ins Licht.

»Ein Seelowe!«, sagte Marit.

»Eine Seelow in«, verbesserte Jose.

»Das … oh«, sagte Marit. Und dann, plotzlich verargert: »Was tut ein verdammter See... eine verdammte Seelowin auf der Mariposa?«

Jose zuckte die Schultern. »Ich bin nicht der von uns, der reiselustige Tiere sammelt«, sagte er mit einem breiten Lacheln. »Hast du schon einen Namen fur sie?«

Sie nannten die Seelowin Chispa, denn Chispa bedeutete »Funken«, und sie war mit ihnen aus dem Funkenregen des Vulkans geflohen.

»Aber sie hat keinen Funken Verstand«, sagte Jose, »wenn sie sich auf ein so verrucktes Schiff wie das unsere wagt. Ein schwimmender Zoo ohne Motor, mit zwei machtigen Seglern auf den Fersen. Eine schwarze Arche.«

Asche bedeckte die ehemals goldenen Planken der Mariposa, Asche bedeckte die beiden Sitzbanke, das Kajutendach, die Stufen, die unter Deck fuhrten. Und als Marit in ihre Haare griff, da wusste sie, dass sie nicht langer blond waren, sondern grau von der Asche. Sie holte Casafloras alte Kleider als Lappen aus der Kajute, fand einen Eimer und sogar eine Burste und begann das Deck zu schrubben. Jose betrachtete sie eine Weile kopfschuttelnd. Dann glanzte das erste freundliche Honiggold durch die schwarzen Schlieren, und da half er Marit, obwohl dies sicher keine Aufgabe fur einen echten Mann war.

Gemeinsam schrubbten und wischten sie wie zwei Besessene: Und mit jedem Eimer schwarzen Wassers, den sie uber die Reling kippten, kippten sie auch ihre Angst uber Bord. Schlie?lich strahlte die Mariposa wieder hell wie ein Fleck aus Sonnenlicht.

Gegen Mittag regnete es. Sie fingen das Wasser in jedem Gefa? auf, das sie finden konnten, und tranken sich satt daran. Alles hatte zur Abwechslung in Ordnung sein konnen.

Doch hinter ihnen naherten sich die beiden gro?en Schiffe. Gegen Abend waren sie so nah, dass man nicht mehr uber sie schweigen konnte.

Jose seufzte. »Siehst du den Strich dort am Horizont? Das ist die Isla Maldita. Wir haben es beinahe geschafft. Noch ein Tag mit gutem Wind …«

Marit versuchte die Entfernung zu den Schiffen zu schatzen. »Ich gebe ihnen noch eine Stunde«, sagte sie. »Was, wenn wir ihnen einfach sagen, dass die Karte verbrannt ist?«

Jose hatte ihr erklart, was es mit Casafloras Karte auf sich gehabt hatte – dass sie den deutschen und japanischen U-Booten den Weg an der Patrouille der Amerikaner vorbei gezeigt hatte und auch die genaue Lage der Militarbasis auf Baltra, ausreichend genau, um sie aus der Luft zu beschie?en. Was es mit seiner eigenen Karte auf sich hatte, hatte er ihr nicht erklart. Denn er wusste es immer noch nicht.

»Sie werden uns nicht glauben, dass Casafloras Karte verbrannt ist«, sagte Jose. »Und vielleicht wissen sie von der zweiten Karte. Der Karte, die ich habe und die nichts mit Piratenschatzen zu tun hat.«

»Was, glaubst du, ist dann auf der Isla Maldita?«, fragte Marit.

»Ich … habe einen Verdacht«, antwortete Jose. »Vielleicht sind die Deutschen auf der Insel. Vielleicht haben sie eine Funkstation dort aufgebaut, von der niemand etwas wei?. Vielleicht sind ihre U-Boote langst durch den Panamakanal zu uns in den Pazifik gekommen. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis es ganz in der Nahe eine Seeschlacht gibt.«

Marit schuttelte den Kopf. »Es ist, als wurde sich der ganze Krieg plotzlich um die Galapagosinseln drehen.«

In diesem Moment fuhr ein Windsto? ins Segel der Mariposa und stellte sie von einer Sekunde auf die andere auf ihre Leekante wie ein Spielzeug. Weder Marit noch Jose hatten gemerkt, wie schnell sich der rote Abendhimmel verdustert hatte. Samtliche Tiere an Deck verloren den Halt, fielen ubereinander und versuchten die Kajute zu erreichen.

»Verdammt!«, rief Jose. »Das ist der nachste Sturm! Wir mussen die Segelflache verringern! Das Gro?segel … Halt sie dicht am Wind!«

Er war schon auf dem Weg nach vorn, um das Fall zu losen, und Marit betete stumm, dass es diesmal nicht klemmte. Sie stemmte sich gegen das Steuer und versuchte gleichzeitig, mit den Fu?en Halt auf den abschussigen Planken zu finden. In ihrem rechten Armel spurte sie Carmens kleinen warmen Korper. Und sie spurte ihr angstliches Zittern.

Das Gro?segel loste sich mit einem Knall, Jose griff mit beiden Handen hinein und zerrte es herunter. Er stand in Metern von wei?em Segeltuch, die der Wind hin und her schlug, als wollte die Mariposa ihn abschutteln. Selbst jetzt noch, nur durch das Vorsegel getrieben, schoss sie uber die Wellen dahin wie von Furien gehetzt. Die Schaumkamme der Wellen waren unwirklich wei?, wei?er noch als das Segel. Die Isla Maldita war hinter den Wellenbergen nicht mehr zu sehen. Nichts war mehr zu sehen, nur noch aufspritzende Gischt. Der Wind heulte in der Takelage und riss an Tauen und Tampen, und Marit dachte, dass sie all dies schon einmal erlebt hatte. Sie sah den Ozean uber die Leereling hereindringen, genau wie damals.

»Der Motor!«, horte sie Jose schreien. »Wirf den Motor an und –« Er verstummte und starrte sie durch die spritzende Gischt hinweg an, an den Mast geklammert, seine Augen gro? vor Entsetzen. Marits Lippen formten Worte, und Jose verstand sie, denn offenbar dachte er dieselben Worte im selben Moment: Wir haben keinen Motor.

Eine Weile sahen sie sich einfach an, gelahmt. Die Mariposa pflugte durch den Pazifik, ihre Leeseite halb unter Wasser. Marit wunschte sich Juan Casaflora zuruck. Er hatte eine Losung gefunden. Aber Casaflora war tot.

Marit sah, wie Jose den Mast loslie?, um einen Satz nach vorn zu machen. Er hatte offenbar beschlossen, die Fock trotz allem herunterzunehmen. Doch gerade, als er seinen Griff vom Mast loste, fuhr der Wind in eine Falte des schlaffen Gro?segels, blahte es auf und schlug Jose den Stoff ins Gesicht. Marit sah, wie er von den Fu?en gerissen wurde.

Einen schrecklichen Moment lang suchte er Halt … und dann griff das Meer nach ihm und zog ihn uber Bord.

»Jose!«, schrie Marit. Sie sah seinen Kopf auf den Wellen, sah ihn zuruckbleiben und gleichzeitig riss die Kraft des Windes ihr das Steuerruder aus den Handen. Der segellose Gro?baum schlug herum, sie sah ihn auf sich zukommen, versuchte sich zu ducken – und spurte den Aufprall. Der Baum fegte sie einfach uber Bord. Mitten hinein in das Chaos aus kaltem Wasser, Wellen und Gischt. Dunkle Strudel zwangen sie tiefer und tiefer, und etwas befreite sich mit winzigen Krallen aus ihrem Armel.

Marit tauchte wieder auf, schnappte nach Luft und sah in der Ferne vor dem unheilvoll dunklen Abendhimmel die Mariposa. Sie schien kleiner zu sein als sonst. Nein, dachte Marit dann. Nein, das ist sie nicht. Ihr Mast ist nur niedriger.

Sie sinkt.

Ja, die Mariposa sank. Sie war ganz voll Wasser gelaufen und der Grund des Pazifiks rief sie mit Macht. Sie schickte noch einmal ihr honiggoldenes Leuchten uber das schwarze Meer. Das Letzte, was aus dem Wasser ragte, war ihr Mast, schlie?lich die Mastspitze und dann – gar nichts mehr.

Etwas kam wieder hoch, etwas, das sich aus den Angeln gelost hatte: die Tur der Kajute. Marit sah, wie eine Welle die Tur auf sie zutrieb, streckte die Arme aus und bekam sie wie durch ein Wunder zu fassen. Kurz darauf kletterte noch etwas auf das schaukelnde Stuck Holz, etwas Kleines, Braunes mit langen triefenden Schnurrhaaren: Carmen.