»Jose«, flusterte Marit. »Diese Nacht … uberleben wir nicht.«

»Sei still«, sagte Jose. Sie hatten ihre Fahrzeuge, die Tur und die Bank, mit Streifen ihrer Kleidung zu einem einzigen Flo? zusammengebunden, und nun drangten sie sich eng aneinander, um sich gegenseitig zu warmen. Kurt deckte sie mit seinem wei?en Federkleid zu. Und die Nacht ging voruber und sie lebten noch, und die Sonne kehrte wieder, brennend hei?, und alles begann von vorn.

In dieser Mittagsstunde regnete es nicht. Das Meer war wei? wie ein Stuck Papier, wei? wie Schnee, wei? wie das flussige Gestein im Innern eines Vulkans … Und dann tauchte etwas aus dem Wei? auf. Eine riesige Flosse, auch sie an ihrer Unterseite reinwei?.

»Jose«, flusterte sie. »Da! Sieh nur!«

»Ein Wal«, antwortete Jose heiser. »Ein Buckelwal.«

Der Wal blieb eine Weile verschwunden und tauchte ein Stuck weiter noch einmal auf, nur um mit einer Krummung seines riesigen, seepockenbedeckten Ruckens wieder zu verschwinden. Er klatschte mit seinen Flossen auf die Wasseroberflache, es knallte wie Schusse und Marit und Jose zuckten zusammen. Doch offenbar war dies die Art des Wals zu spielen. Er schwamm eine ganze Weile neben ihnen her, und wenn er an die Oberflache kam, sahen sie die Wasserfontane, die er aus seinem Blasloch stie?.

Jose hob den Kopf ein wenig von der Bank, auf der er lag. »Wenn du diesen Wal … behalten willst«, sagte er schwach, »dann rechne nicht damit, dass ich zustimme.«

Marit lachelte, doch das Lacheln tat weh, denn die Trockenheit hatte tiefe blutige Risse in ihre Mundwinkel gegraben. »Ich kann ihn nicht … behalten«, flusterte sie muhsam, stockend. »Er ist … zu gro?. Einen so gro?en Namen kann ich mir … niemals ausdenken.«

Da verlie? der Wal sie endgultig. Marit hielt ihr Gesicht ins Wasser, um ihm nachzublicken, doch statt des Wals fand sie eine Gruppe von Wasserschildkroten dort. Sie sah das feine Netz aus hellgelben Linien, an denen ihre dunklen Panzerplatten zusammenstie?en, sah ihre grazilen Flossen und ihre aufmerksam glanzenden Edelsteinaugen …

»Wie schon sie sind!«, wisperte Marit. »Wir werden nie jemandem erzahlen konnen, wie schon sie sind.« Sie wusste nicht, ob Jose antwortete. Sie horte nichts mehr. Und dann, dann horte sie wieder, horte im Traum.

Sie horte, wie sich die Haustur einer Hamburger Wohnung offnete, mitten in der Nacht. Sie horte Schritte im Flur vor ihrem Zimmer. Die Angst krallte sich um ihr Herz wie eine eisige Zange. Sie tappte im Nachthemd uber den Dielenboden und offnete leise die Tur zum Flur. Es war dunkel dort, aber in der Kuche brannte Licht. Sie horte, wie ein Stuhl zuruckgeschoben wurde. Der Wasserhahn lief.

Jemand summte eine Melodie und die eisige Zange um Marits Herz zerbrach. Es war Mama. Aber von wo kam Mama um diese Zeit? Wo war sie gewesen? Warum summte sie?

In Marit begann etwas zu keimen, was keine Angst war. Eine Kreuzung aus Misstrauen, Trauer und Wut. Sie schob die angelehnte Kuchentur auf und ging hindurch. Die Fliesen waren kalt unter ihren Fu?sohlen. Mama sa? am Kuchentisch vor einem Glas Wasser. Als Marit hereinkam, lie? sie etwas in ihrer Tasche verschwinden. Ein Stuck Papier. Ihr Fullfederhalter lag noch auf dem Tisch. Sie hatte etwas geschrieben.

»Marit«, sagte sie jetzt. Auf ihrem Gesicht war ein Lacheln.

»Wo warst du?«, fragte Marit.

»Ich … ich war nur im Hof unten. Ich habe …« Mama zogerte, sah sich um und zeigte auf den Schrank. »Ich habe mir die Nachtfalter angesehen. Da, siehst du?« An der Kante des Kuchenschranks sa? ein brauner Schmetterling mit schwarz-gelb gemusterten Flugeln. »Ist er nicht schon? Er sa? am Holzschuppen. Ich habe ihn mit heraufgebracht. Ich wollte nachsehen, welche Sorte es ist.«

Marit trat naher an den Falter heran. Er ruhrte sich nicht. »Ist er tot?«

Mama lachte. »Aber nein. Er wundert sich nur, was er in unserer Kuche soll. Ich bringe ihn zuruck, sobald ich seinen Namen in meinem Buch gefunden habe.«

Marit sah auf. »In diesem Fall solltest du das Buch aus dem Wohnzimmer holen.«

»Oh«, sagte Mama. »Ja. Ja, das sollte ich wohl.«

War sie wirklich im Hof gewesen, um einen Nachtfalter zu bestimmen? Es war so … unsinnig. Aber manchmal tat Mama unsinnige Dinge. Vor allem in letzter Zeit. Vielleicht sagte sie die Wahrheit. Andererseits … Es konnte genauso gut sein, dass der Nachtfalter vollkommen zufallig in der Kuche sa?: eine Ausrede, sonst nichts.

»Schreibst du einen Brief?«, fragte Marit.

Mama schuttelte den Kopf. »Ich wollte aufschreiben, wie … wie er aussieht, wei?t du? Der Falter.«

»Das ist doch alles gelogen«, sagte Marit. »Du hast dich mit jemandem getroffen. Mit einem Mann.«

»Vielleicht.«

Marit merkte erst, dass sie mit den Fausten auf Mama losgegangen war, als Mama sie festhielt.

»Marit«, flusterte sie. »Marit, hor auf! Das Leben, verstehst du … das Leben muss weitergehen.«

»Papa ist vielleicht gar nicht tot!«, zischte Marit. »Vielleicht hat er den Absturz seiner Maschine uberlebt und … und liegt verwundet irgendwo in Frankreich und wartet darauf, dass der Krieg zu Ende geht und er nach Hause kommen kann. Und du rennst mitten in der Nacht weg … und triffst dich mit einem anderen! Du willst wohl, dass Papa nicht wiederkommt, wie? Du willst, dass er tot ist!«

Mama hielt sie auf Armeslange von sich ab, und Marit dachte, sie wurde ihr eine Ohrfeige geben fur das, was sie da gesagt hatte. Doch Mama musterte sie nur fur einen Moment, dann zog sie Marit an sich und druckte sie so fest, dass ihr die Luft wegblieb.

»Geh zuruck ins Bett«, flusterte sie. »Schlaf noch ein wenig.«

Am nachsten Morgen fand Marit den Nachtfalter auf dem Fensterbrett und lie? ihn hinaus. In der Tasche von Mamas Jacke, die am Haken hing, steckte ein Briefumschlag. Marit sah es, als sie zur Schule ging. Sie nahm den Umschlag heraus. Es war keine Briefmarke darauf, es gab keine Adresse. Vielleicht wurde Mama den Umschlag selbst irgendwo einwerfen. In den Briefkasten eines Mannes, der nicht Papa war, dachte Marit bitter. Nur eine Zeile stand sauberlich in der Mitte des zugeklebten Umschlags:

Forschungsprojekt: Nachtfalter.

Auch Jose erinnerte sich. Er erinnerte sich, halb im Traum, daran, was auf Santiago geschehen war, ehe die beiden Amerikaner ihn bewusstlos gefunden hatten.

Er erinnerte sich, wie er sein Gewehr anlegte, wie er zielte und abdruckte. Und jetzt endlich sah er, auf wen er gezielt hatte: Es war kein Mensch gewesen. Es war ein junger Bulle.

Eines der verwilderten Rinder der Inseln, die hier keine naturlichen Feinde hatten und sich unkontrolliert vermehrten. Schon als sich der Schuss loste, wusste Jose, dass es Unsinn war, was er tat. Er konnte keinen ganzen Bullen auf die Mariposa schleppen. Er konnte sein Fleisch auch nicht an Land zerlegen. Es hatte ewig gedauert, und was wollte er hinterher damit anfangen? Zu Hause hatten sie das Fleisch der Bullen eingepokelt, aber hier hatten sie weder mehrere Kilo Salz noch die notwendige Zeit.

Aber er hatte abgedruckt und nun war es zu spat. Ehe der Schuss traf, trat Joses Opfer einen Schritt zur Seite, und so streifte die Kugel ihr Ziel nur. Der Bulle warf den Kopf zuruck und brullte seinen Arger und seinen Schmerz in den Wald hinaus. Dann rannte er quer uber die Lichtung auf seinen Angreifer zu. Jose schoss ein weiteres Mal. Er hatte keine Wahl mehr. Er musste den Bullen toten, sonst wurde der Bulle ihn toten. Diese Kugel traf, doch auch sie verletzte das Tier nur und machte es noch argerlicher. Jose sprang zur Seite, der Bulle sturmte an ihm vorbei, brach krachend ins Unterholz – und kehrte um. Als Jose zum dritten Mal durchlud und zielte, hatte das Tier den Kopf gesenkt und kam in gestrecktem Galopp zuruckgerast. Jose sah das Blut an seinem Hals und seiner Brust hinabrinnen. Er sah die dunklen Flecken auf seinem Fell. Und er sah die unbandige, rot geaderte Wut in den Augen des Tiers.