War es Marit, die geschrien hatte?

Er machte kehrt, lie? Pinguin Pinguin sein und rannte zuruck, zwischen den kargen Buschen hindurch, auf die Baume zu. Es schrie noch einmal, und diesmal verstand er die Worte: »Ayudame! Hilf mir!«

Die Quelle lag friedlich und einsam auf ihrer Lichtung. Nur eine der Riesenschildkroten sa? neben den Felsen im Schatten der Baume. Daraus, dass die Schildkrote am Tag zuvor noch nicht da gewesen war, schloss Marit, dass dieses Exemplar noch lebte, auch wenn es sich in seinem Panzer verborgen hatte.

Sie selbst verbarg sich hinter einem Vorhang aus rot bluhenden Lianen, der zwischen den Stammen hing. Lange sa? sie so, reglos, wartend. Loco der Blaufu?tolpel sa? geduldig neben ihr und schien sich zu fragen, ob Marit hier nisten wollte. Bis auf ein paar andere bunte Vogel blieb die Lichtung leer. Auch die Schildkrote regte sich nicht, und nach einer Weile begann der Panzer, Marit bekannt vorzukommen. Er hatte einen Sprung. Konnte es sein, dass jemand den Panzer von der letzten Kurve des gekennzeichneten Weges hier heraufgeschleppt hatte? Aber warum?

Sie streckte die Hand aus, um den Vorhang aus roten Bluten und grunen Blattern zu teilen und nachzusehen, ob in dem Panzer eine Schildkrote steckte – da lief etwas wie ein Zittern durch die Hornplatten. Marit atmete auf. Es war einfach nur ein Panzer mit einem ahnlichen Sprung, ein Panzer einer ganz und gar lebendigen Schildkrote. Gleich wurden sich vier Beine und ein faltiger Hals aus dem Panzer strecken … Marit machte einen Schritt nach vorn. Sie konnte ihr Versteckspiel genauso gut fur den Moment aufgeben und an der Quelle einen Schluck Wasser trinken. Die herabhangenden Aste gaben ein feines Rascheln von sich, als sie ihr Versteck verlie?. Und da rief jemand. »Felipe! Felipe!«

Loco zuckte zusammen und machte mit seinen blauen Fu?en einen Satz in die Luft. Wer hatte gerufen und von wo? Es war eine hohe, durchdringende Stimme gewesen, die Stimme eines Kindes, ganz nah. Aber da war niemand. Niemand au?er der Schildkrote.

»Felipe, bist du das, der da raschelt? Ich warte schon eine Ewigkeit!«

Jetzt war Marit sich sicher: Es war die Schildkrote, die rief. Die uralte, riesige Schildkrote rief mit der Stimme eines Kindes. Marit schloss die Augen, um klar denken zu konnen. Es half nichts. Sie offnete die Augen wieder.

Und da kam ein brauner zerkratzter Kinderarm aus dem Schildkrotenpanzer, noch ein Kinderarm … ein Kinderkopf mit wildem blondem Haar … und schlie?lich ein ganzes Kind. Ein Madchen in einem ziemlich mitgenommenen Kleid, unter dem es Hosen trug. Also war es doch der Panzer, den sie am Vortag weiter unten am Weg gesehen hatten. Das kleine Madchen hatte ihn hier heraufgeschleift, um sich darin zu verstecken.

»Felipe?«, fragte die Kleine noch einmal, verunsichert jetzt. »Versteckst du dich? Ich habe mich auch versteckt! Ich wollte dich erschrecken …« Sie verstummte. »Vielleicht wollte er doch kein Wasser holen«, sagte sie laut zu sich selbst. »Vielleicht war er auf dem Weg nach woanders. Und ich warte und warte hier im besten Versteck aller Zeiten.«

Sie stampfte mit dem kleinen Fu? auf, an dem eine zu gro?e Ledersandale hing, die aussah, als sei sie von jemandem gemacht worden, der sich weder mit Leder noch mit Sandalen auskannte.

Marit beschloss, dass dieses kleine Madchen in keinem Fall gefahrlich war, und trat durch die roten Bluten.

»Hallo«, sagte sie auf Spanisch. »Ich bin es, die geraschelt hat.«

Die Kleine fuhr herum, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, machte kehrt und rannte davon.

»Warte!«, rief Marit. »Ich tu dir doch nichts! Ich will nur wissen …«

Sie sprintete hinter dem Kind her durchs Gebusch und merkte, dass sie sich auf einem schmalen Pfad befanden. Einem Pfad, der nicht mit Schildkrotenpanzern gekennzeichnet war, dafur aber offenbar haufig benutzt wurde. Die Kleine war schnell. Marit musste sich anstrengen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Uber ihr flatterte Loco, und Carmen krallte sich in ihrem Armel fest.

»Warte!«, rief Marit noch einmal. Die Kleine fuhrte sie den Berg hinauf und endlich, endlich holte Marit auf. Sie hatte trotz allem die langeren Beine. Ein letzter Satz vorwarts und sie bekam das Madchen am Arm zu fassen. Es trat und kratzte wie ein wildes Tier und beinahe sah es auch so aus: Marit konnte sein Gesicht kaum sehen vor ungekammtem Haar. Die Kleine versuchte zu rufen, wahrend sie um sich schlug, aber ihre Rufe kamen eher als ein argerliches Keuchen heraus: »Mamaaaaa! Papa! Felipe!« Und dann, laut und gellend: »Ayudame!« Sie schaffte es, ihre Zahne in Marits Handgelenk zu versenken, und als sie es wieder loslie?, zischte sie wutend: »Lass mich los!«

Marit erstarrte. Die letzten Worte hatte sie auf Deutsch gesagt. Und jetzt merkte Marit, dass sie die Stimme kannte. Die Kleine schuttelte sich das wilde Haar aus dem Gesicht, um Marit wutentbrannt anzustarren. Und die blauen Augen in diesem Gesicht kannte Marit. Das Gesicht selbst war alter geworden, seit sie es zum letzten Mal gesehen hatte, sonnengebraunter, dreckiger und magerer. Doch die blauen Augen und die beinahe wei?en Brauen waren die gleichen geblieben.

»Julia?«, fragte Marit.

Sie traumte. Naturlich, das musste es sein. Sie war beim Warten an der Quelle eingeschlafen und traumte. Aber es war ein schoner Traum.

»Wer bist du?«, fragte die Kleine auf Spanisch. »Ich hab dich noch nie gesehen.«

»Oh doch«, sagte Marit und lachte. »Das war in der Wirklichkeit, nicht im Traum. Als du noch gelebt hast. In Hamburg. Es war Nacht. Bevor alles brannte. Du hattest den Teddybaren mit der roten Seidenschleife im Arm.«

»Den Baren!«, rief Julia und ihre Augen wurden gro? vor Sorge. »Ich habe ihn verloren. Papa ist spater zuruckgegangen, aber der Bar war nicht mehr da.«

»Papa ist … zuruckgegangen?«, fragte Marit. Was fur eine Sorte von Traum war dies? Oder war es vielleicht gar kein Traum?

»Wie hei?t du uberhaupt?«, fragte Julia.

»Marit«, sagte Marit.

»Wirklich?«, fragte Julia. »So hie? meine gro?e Schwester auch.«

»Aber ich bindeine gro?e Schwester!«, rief Marit verzweifelt.

»Unmoglich.« Julia schuttelte den Kopf und ihr verwildertes Haar flog dabei umher wie eine Mahne. »Meine Schwester ist tot. Mama sagt, sie ist im Himmel, aber ich wei?, dass es nicht stimmt. Sie ist einfach nur tot.« Sie stampfte wieder mit dem Fu? auf. »Und sie kommt nie, nie wieder, horst du? Du brauchst nicht so zu tun, als warst du sie! Da war ein Feuer, ein gro?es Feuer, alles hat gebrannt, und sie ist so dumm gewesen, so dumm! Sie ist weggerannt. Ich traume dauernd, dass ich sie suche. Sie sagen, ich wandere im Schlaf in den Wald, und sie mussen mit Fackeln losgehen und mich wieder zuruckholen. Aber Marit, die kann keiner zuruckholen, keiner! Sie ist in der Nacht damals nicht mit in das Auto gestiegen. Sie kannte den Plan nicht, aber ich kannte ihn auch nicht, und ich bin mit Mama mitgegangen. Und das Haus ist eingesturzt und sie haben sie bestimmt nicht mehr in den Keller reingelassen. Papa hat gefragt, ein paar Tage spater, und Richard hat ihm das gesagt. Dass sie tot ist.«

Sie sah Marit an und ihre blauen Augen blitzten. Es standen keine Tranen darin, nur blanke Wut. Da erfullte etwas wie Stolz Marit, und sie wunschte mit aller Macht, dass sie nicht traumte.

»Julia«, flusterte sie. »Sie haben mich in den Keller gelassen. Ich dachte, ihr wart tot.«

Julia streckte ihre kleine Hand aus, eine sehr dreckige kleine Hand mit schwarzen Randern unter den Nageln, und legte sie auf Marits Wange.

»Du bist so braun und so dunn«, sagte sie. »Und so zerschrammt und so dreckig und du hast kurze Haare und Kleider wie ein Junge. Bist du dir sicher, dass du dich nicht irrst? Du siehst schon ein bisschen aus wie Marit.«

»Ich bin mir hundert Prozent absolut sicher, dass ich Marit bin und mich nicht irre«, sagte Marit.