»Aha«, sagte Grimm hochmutig. »Lauft nicht so gut, was?«
»Grimm! Du musst in den Burggraben springen und Max suchen. Adolphus kann das nicht. Er passt nicht durch diese schmalen Fenster.«
»Und au?erdem habe ich Hohenangst«, fugte Adolphus frohlich hinzu.
»Sieh zu, dass du ihn findest, bevor der Hecht ihn sich schnappt. Dann sucht ihr euch einen Weg zuruck nach hier oben und Max kriegt das Gegenmittel.«
»Ach! Und das ist schon alles?«, sagte Grimm und zog die Nase kraus. »Blo? mal eben in die hechtverseuchten Fluten springen, einen kleinen orangefarbenen Frosch auftreiben und ihn vier Stockwerke hoch in Sicherheit bringen, ohne dabei zertrampelt zu werden. So lauft es jedes Mal, nicht wahr? Der gute alte Grimm eilt zu Hilfe. Schon ist er wieder unterwegs und riskiert Leib und Leben. Ist klar.«
Dennoch krabbelte Grimm zum Fenster hinauf und sturzte sich ins Nichts, um ein paar Sekunden spater mit einem lauten Platsch im Burggraben zu landen.
»Gut«, sagte Olivia. »Hoffen wir, dass er Max findet und keiner von beiden vom Hecht gefressen wird. Jetzt mussen wir blo? noch dafur sorgen, dass ich mich wieder bewegen kann. Kommst du an die kleine grune Flasche mit dem Umkehrzauber, Adolphus?«
Adolphus sprang frohlich herum und suchte nach der Flasche.
»Grune Flasche? Ja, ja, hol ich. Adolphus eilt zu Hilfe – jippie! Umkehr … mmh – Flasche, Zauber – ah – sehe ich nicht … Was fur eine Farbe noch mal?«
Doch in diesem Moment knarrte die schwere Eichentur. Ein gro?er, grimmig schauender Mann in einem langen grauen Mantel trat ein und blieb uberrascht stehen.
»Beim Zahn des Drachen! Was machst du in meinem Zimmer, junge Lady?«
»Ah, tut mir leid«, sagte Olivia und versuchte, sich irgendwie gerade hinzusetzen. »Ich wusste nicht, dass es Euer Zimmer ist, gnadiger Herr.«
»Genau! Tut uns leid, tut uns leid, tut uns leid«, sagte Adolphus, dem der gebieterisch wirkende Mann ebenso Furcht einflo?te.
Der Mann sah sie beide scharf an und nahm dann in einem gro?en Eichenstuhl an der Tur Platz. Sein kastanienbraunes Haar hatte graue Strahnen und um seine Augen lagen Falten. Doch sein Blick war hart und klar, wie der eines Vogels. Unter dem Mantel trug er dunkle Beinlinge und eine graue Tunika. Von seinem schlichten breiten Ledergurtel baumelte ein Schwert.
»Nun«, sagte er schlie?lich. »Wie es aussieht, hat man dich verzaubert, junge Lady. Zuallererst sollte ich dich also wohl befreien.«
Mit den langen eleganten Fingern seiner rechten Hand machte er eine Geste und auf einmal konnte sich Olivia wieder ruhren. Sie stand auf, machte zum Dank einen Knicks und der Mann nickte zuruck.
»Vielleicht sollte ich mich vorstellen. Ich bin Merlin und das ist mein Zimmer. Normalerweise schlie?e ich es ab. Ich bin etwas uberrascht, dass du dennoch hier bist. Bist du allein gekommen?«
»Nein, Euer Lordschaft«, sagte Olivia. Merlin sah uberhaupt nicht so aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Wenn sie daruber nachdachte, hatte sie diesen gro?en, grimmigen Mann sogar schon mal gesehen, ihn aber fur einen der vielen Ritter des Konigs gehalten. »Mein Bruder Max war auch dabei. Wir wussten nicht, dass es Euer Zimmer ist. Wir wollten in Ruhe fur den Wettkampf morgen uben.«
»Aha. Also ist dein Bruder ein Zauberschuler«, sagte Merlin nachdenklich. »Und wer bist du?«
»Lady Olivia Pendragon. Und das ist Adolphus.«
»Erfreut, euch kennenzulernen«, sagte Merlin. »Nun, wenn du schon durch einen Zauber bewegungsunfahig gemacht wurdest, gehe ich dann richtig in der Annahme, dass deinem Bruder etwas noch Unangenehmeres zugesto?en ist?«
»Ahm, also, er ist jetzt ein Frosch«, sagte Olivia unsicher.
»Er wurde in einen Frosch verwandelt?«, fragte Merlin. Seine Augenbrauen schossen in die Hohe.
»Also, nicht ganz«, sagte Olivia und rang die Hande. Wie viel sollte sie dem Zauberer erzahlen? Sie sah zu seinen stechend grauen Augen auf und entschied, es am besten mit der Wahrheit zu versuchen. »Er hat einen Zauber erfunden, mit dem man Menschen in Frosche verwandeln kann«, sagte sie schnell. »Den haben wir geubt. Dann ist Adrian Hogsbottom gekommen und hat den Frosch in den Burggraben geworfen, ohne zu wissen, dass der Frosch Max ist. Und mich hat er verzaubert, damit ich es niemandem erzahlen konnte. Und, bitte, wir mussen Max unbedingt finden. Wenn der Hecht ihn nicht schon gefressen hat. Und jetzt ist auch noch Grimm da unten – das ist Max’ Ratte. Hoffentlich ist ihnen nichts passiert!«
Zu ihrem Arger war Olivia kurz davor, loszuheulen. Ihre Stimme bebte. Adolphus leckte trostend ihre Hand. Olivia seufzte tief und schaute Merlin an. Er sah sehr nachdenklich aus in seinem gro?en Stuhl, das Kinn in die Hande gestutzt.
»Interessant«, murmelte er, eigentlich mehr zu sich selbst. »Naturlich sind die Pendragons alles in allem eine sehr magische Familie. So, so. Ich sollte den jungen Max kennenlernen. Ich sollte ihn unbedingt kennenlernen. Aber zuerst einmal mussen wir ihn finden.«
Er erhob sich, ging zum Fenster und sah auf das graue Wasser des Burggrabens hinab. »Wohlan –«
Ein lautes Klopfen unterbrach ihn und beinahe sofort wurde die Tur aufgerissen. Olivia verschlug es den Atem, als sie begriff, dass es der Konig war, der ins Zimmer gesturmt kam.
Artus war gro?, hatte glattes, dunkles Haar und eine sorgenvolle, ungluckliche Miene. Er warf ihr einen zerstreuten Blick zu und wandte sich dann gleich an Merlin.
»Merlin!«, platzte er heraus. »Der Prinz ist verschwunden! Wir haben sein ganzes Quartier durchsucht – Sir Gareth sucht jetzt in den restlichen Teilen der Burg – aber er ist einfach verschwunden! Wir dachten, er ware bei seiner Mutter, seine Mutter dachte, er ware bei seiner Amme – wie es scheint, hat ihn seit heute Morgen niemand gesehen!«
Merlin legte die Stirn in Falten. »Wer wei? davon?«
»Ich selbst, Sir Gareth und Ihr … Seine Mutter glaubt, er spielt mit den Jungs von Sir Gareth – und dabei muss es auch bleiben. Wenn herauskommt, dass er verschwunden ist …«
»… gibt es Krieg«, sagte Merlin duster. »Wir mussen es fur uns behalten. Wir durfen keinen Alarm auslosen. Nicht mal die Wachen konnen wir in Bereitschaft versetzen. Aber wir werden ihn finden – er muss in der Burg sein. Ich habe die Burgmauern mit einem Bann belegt. Niemand konnte diesen Zauber durchbrechen, es sei denn –«, er hielt inne und zuckte mit den Schultern, »Eure Schwester, Lady Morgana le Fay – wann wird sie erwartet?«
Artus zog die Augenbrauen hoch. »Heute Abend, soweit ich wei?. Warum? Glaubt Ihr, wir brauchen ihre Hilfe?«
Merlin lachte kurz auf. »Ich hoffe nicht. Besser, ich finde den Prinzen, bevor sie eintrifft, mein Konig. Aber wir mussen uns beeilen.«
Artus nickte und verlie? den Raum. Merlin wandte sich wieder Olivia zu. »Ich furchte, du musst deinen Bruder allein suchen, kleine Lady. Viel Gluck. Aber ich warne dich – du darfst niemandem erzahlen, was du hier gehort hast. Diese Nachricht darf nicht an die falschen Ohren dringen. Also kein Wort!«
Er warf ihr einen strengen Blick zu, dann rauschte er davon, dem Konig hinterher. Die Tur fiel hinter ihm ins Schloss.
Einen Moment lang verharrte Olivia in Gedanken.
»Adolphus?«, sagte sie schlie?lich. »Wei?t du noch? Hat Adrian nicht irgendwas uber ein Balg gesagt, das sie aus der Burg schaffen mussten?«
Vorsicht, Verschworung!
Max schwamm schneller, als er es einem kleinen Frosch zugetraut hatte. Leider schwamm der Hecht noch schneller. Nach nur ein paar Sekunden konnte Max die Nasenspitze des Hechts fast schon an seinen Hinterbeinen spuren. Das furchterregende Maul offnete sich weit. Gleich wurde es zuschnappen …