Doch er hatte keine Zeit, daruber nachzugrubeln. Professor McGonagall ging am Tisch der Gryffindors entlang und verteilte Stundenplane. Harry nahm den seinen und stellte fest, da? sie als Erstes eine Doppelstunde Krauterkunde zusammen mit den Hufflepuffs hatten.

Harry, Ron und Hermine verlie?en zusammen das Schlo? und gingen durch den Gemusegarten hinuber zu den Gewachshausern, wo die Zauberpflanzen gezuchtet wurden. Zumindest fur eins war der Heuler gut gewesen: Hermine dachte nun offenbar, sie seien genug gestraft worden, und war wieder ausgesprochen freundlich zu ihnen.

Sie naherten sich den Gewachshausern und sahen schon die anderen aus der Klasse drau?en auf Professor Sprout warten. Kaum waren Harry, Ron und Hermine hinzugetreten, kam sie auch schon uber den Rasen geschritten – in Begleitung von Gilderoy Lockhart. Professor Sprout trug einen Arm voll Mullbinden, und mit einem erneuten Anflug von Schuldgefuhlen erkannte Harry in der Ferne die Peitschende Weide, die nun etliche Zweige in Bandagen hatte.

Professor Sprout war eine untersetzte kleine Hexe mit einem Flickenhut auf ihrem windzerzausten Haar; meist hatte sie eine ganze Menge Erde auf den Kleidern, und beim Anblick ihrer Fingernagel ware Tante Petunia in Ohnmacht gefallen. Tadellos gekleidet war dagegen Gilderoy Lockhart mit seinem wehenden turkisfarbenen Umhang. Sein goldenes Haar schimmerte unter einem perfekt sitzenden turkisfarbenen Hut mit Goldrand hervor.

»Oh, hallo, hallo!«, rief Lockhart und strahlte die versammelten Schuler an.»Hab eben kurz Professor Sprout erklart, wie man eine Peitschende Weide richtig verarztet! Aber ich mochte nicht, da? ihr jetzt denkt, ich sei besser in Pflanzenkunde als sie! Auf meinen Reisen sind mir nur zufallig einige dieser Exoten begegnet…«

»Gewachshaus drei heute, Freunde«, sagte Professor Sprout, die nicht wie sonst immer frohlich, sondern unverkennbar miesepetrig dreinsah.

Ein neugieriges Gemurmel lief durch die Umstehenden. Bisher hatten sie nur in Gewachshaus eins gearbeitet – Gewachshaus drei beherbergte viel interessantere und gefahrlichere Pflanzen. Professor Sprout nahm einen gro?en Schlussel von ihrem Gurtel und schlo? die Tur auf, Der Geruch von feuchter Erde und Dunger drang in Harrys Nase, vermischt mit dem schweren Parfumduft einiger riesiger, schirmartiger Blumen, die von der Decke herabhingen. Er wollte gerade hinter Ron und Hermine eintreten, als Lockhart blitzartig die Hand ausstreckte.

»Harry! Ich wollte kurz mit Ihnen sprechen. Sie haben doch nichts dagegen, wenn er ein paar Minuten spater kommt, nicht wahr, Professor Sprout?«

Nach Professor Sprouts Stirnrunzeln zu schlie?en hatte sie eine ganze Menge dagegen, doch Lockhart sagte:»Wunderbar«, und schlug ihr die Gewachshaustur vor der Nase zu.

»Harry«, sagte Lockhart kopfschuttelnd, und seine gro?en wei?en Zahne blitzten.»Harry, Harry, Harry.«

Harry schwieg vollig verdutzt.

»Als ich davon gehort hab – nun, naturlich war alles meine Schuld. Ich hatte mich ohrfeigen konnen.«

Harry hatte keine Ahnung, wovon er redete. Das wollte er gerade sagen, als Lockhart fortfuhr:»Wei? nicht, ob ich mich jemals so erschrocken habe. Einen Wagen nach Hogwarts zu fliegen! Nun, naturlich wusste ich sofort, warum Sie es getan haben. War eine ganz gro?e Sache. Harry, Harry, Harry.«

Erstaunlicherweise konnte er jeden einzelnen seiner blitzenden Zahne zeigen, selbst wenn er nicht sprach.

»Hab Sie auf den Geschmack gebracht, was offentliches Aufsehen angeht, nicht wahr?«, sagte Lockhart.»Es hat Sie gepackt. Sie sind mit mir auf die Titelseite gekommen und wollten es gleich noch mal probieren.«

»O nein, Professor, sehen Sie -«

»Harry, Harry, Harry«, sagte Lockhart, streckte die Hand aus und packte ihn an der Schulter.»Ich verstehe. Ist doch nur naturlich, da? man ein wenig mehr will, sobald man davon gekostet hat. Und ich mache mir Vorwurfe, Sie darauf gebracht zu haben, denn es mu?te Ihnen ja zu Kopfe steigen – doch sehen Sie mal, junger Mann, Sie konnen nicht einfach hingehen und mit Autos herumfliegen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Kommen Sie besser wieder auf den Boden. Wenn Sie alter sind, haben Sie noch genug Zeit fur derlei. Ja, ja, ich wei?, was Sie denken! >Der hat gut reden, er ist ja schon ein weltberuhmter Zauberer!< Aber als ich zwolf war, war ich auch nur ein niemand, genau wie Sie. Und eigentlich noch weniger als ein niemand! Immerhin haben einige Leute schon von Ihnen gehort, oder? Diese ganze Geschichte mit jenem, dessen Name nicht genannt werden darf!«Er betrachtete die blitzformige Narbe auf Harrys Stirn.»Ich wei?, das ist nichts gegen meine Auszeichnungen – funfmal in Folge den Charmantestes-Lacheln-Preis der Hexenwoche gewonnen – doch es ist ein Anfang, Harry, ein Anfang.«Er zwinkerte Harry kumpelhaft zu und schritt davon. Harry blieb ein paar Sekunden wie angewurzelt stehen, dann fiel ihm ein, da? er eigentlich im Gewachshaus sein sollte. Er offnete die Tur und glitt hinein.

Professor Sprout stand hinter einer aufgebockten Holzplatte mitten im Gewachshaus. Darauf lagen etwa zwanzig Paar verschiedenfarbiger Ohrschutzer. Harry stellte sich zwischen Ron und Hermine.»Heute werden wir Alraunen umtopfen. Nun, wer kann mir die Eigenschaften der Alraune nennen?«

Hermine streckte als Erste den Finger in die Hohe, woruber sich niemand wunderte.

»Die Alraune, oder Mandragora, ist eine machtige Ruckverwandlerin«, sagte Hermine und klang wie ublich, als hatte sie das Lehrbuch geschluckt.»Sie wird verwendet, um Verwandelte oder Verfluchte in ihren ursprunglichen Zustand zuruckzuversetzen.«

»Glanzend. Zehn Punkte fur Gryffindor«, sagte Professor Sprout.»Die Alraune bildet einen wesentlichen Bestandteil der meisten Gegengifte. Freilich ist auch sie gefahrlich. Wer kann mir sagen, warum?«

Hermines Hand scho? wieder hoch und verfehlte dabei knapp Harrys Brille.

»Der Schrei der Alraune ist todlich fur jeden, der ihn hort«, antwortete sie blitzschnell.

»Genau. Weitere zehn Punkte«, sagte Professor Sprout.»Nun sind die Alraunen, die wir hier haben, noch sehr jung.«

Sie deutete auf eine Reihe tiefer Kasten und alle hasteten mit neugierigem Blick nach vorn. Dort wuchsen aufgereiht etwa hundert kleine, buschelige Pflanzen von gruner Farbe mit einem Hauch Purpurrot. Harry, der nicht die geringste Ahnung hatte, was Hermine mit dem»Schrei«der Alraune meinte, fand die Gewachse recht unscheinbar.

»Jetzt nimmt sich jeder ein Paar Ohrenschutzer«, sagte Professor Sprout.

Es gab ein Gerangel, weil alle versuchten ein Paar zu bekommen, das nicht rosa und flauschig war.

»Wenn ich sage, ihr sollt sie aufsetzen, dann Pa?t auf, da? eure Ohren vollstandig bedeckt sind«, sagte Professor Sprout.»Wenn ihr sie gefahrlos wieder abnehmen konnt, zeige ich mit dem Daumen nach oben. Also, Ohrenschutzer aufsetzen.«

Harry klemmte sich die Ohrenschutzer uber den Kopf, Sie lie?en keinerlei Gerausch durch. Professor Sprout setzte ein rosafarbenes, flauschiges Paar auf die Ohren, rollte die Armel ihres Umhangs hoch, packte mit festem Griff eine der buscheligen Pflanzen und zog kraftig daran.

Harry entfuhr vor Uberraschung ein kleiner Aufschrei, den naturlich niemand horen konnte.

Statt einer Wurzel kullerte ein kleines, schlammuberzogenes und au?erst ha?liches Baby aus der Erde. Die Blatter wuchsen aus seinem Kopf heraus. Es hatte eine bla?grune, gefleckte Haut und schrie ganz eindeutig aus Leibeskraften.

Professor Sprout zog einen gro?en Blumentopf unter dem Tisch hervor, steckte die Alraune hinein und begrub sie mit dunkler, feuchter Komposterde, bis nur noch die buscheligen Blatter zu sehen waren. Dann rieb sie sich Erdkrumel von den Handen, zeigte mit dem Daumen nach oben und nahm ihre Ohrenschutzer ab.

»Da unsere Alraunen noch Setzlinge sind, wurden ihre Schreie euch noch nicht umbringen«, sagte sie gelassen, als ob sie gerade nichts weiter Aufregendes getan hatte als eine Begonie zu gie?en.»Allerdings wurden sie euch mehrere Stunden lang au?er Gefecht Setzen, und da sicher keiner von euch den ersten Schultag im neuen Jahr verpassen will, achtet darauf, da? eure Ohrenschutzer richtig sitzen, wahrend ihr arbeitet. Ich gebe euch ein Zeichen, wenn es an der Zeit ist, einzupacken.