Also stand Harry auf und stieg durch das Portratloch. Wo konnte Justin wohl stecken?

Wegen des dichten Schneetreibens war es im Schlo? dunkler als sonst tagsuber. Bibbernd vor Kalte ging Harry an den Klassenzimmern vorbei, in denen Unterricht stattfand, und erhaschte dabei augenblicksweise, was drinnen vorging. Professor McGonagall herrschte gerade einen Schuler an, der, nach ihren Worten zu schlie?en, seinen Freund in einen Dachs verwandelt hatte. Harry widerstand dem Drang, einen Blick hineinzuwerfen, und ging vorbei. Justin nutzte vielleicht seine freie Stunde, um ein wenig zu arbeiten, und Harry beschlo? zuerst in der Bibliothek nachzuschauen.

Eine Gruppe von Hufflepuffs, die auch Krauterkunde gehabt hatten, sa?en tatsachlich hinten in der Bibliothek, aber sie schienen nicht zu arbeiten. Durch die langen Reihen hoher Bucherregale konnte Harry sehen, da? sie die Kopfe eng zusammengesteckt hatten und offenbar angespannt miteinander tuschelten. Er konnte nicht erkennen, ob Justin dabei war, und trat naher. Auf dem Weg erhaschte er einen Fetzen ihres Gesprachs, und in der Abteilung Unsichtbarkeit blieb er stehen und lauschte.

»Na, jedenfalls«, sagte ein stammiger Junge,»hab ich Justin geraten, er solle sich in unserem Schlafsaal verstecken. Ich wurde sagen, wenn Potter ihn als sein nachstes Opfer ausersehen hat, dann ist es besser, wenn er sich eine Weile bedeckt halt. Naturlich hat Justin auf so etwas gewartet, seit ihm gegenuber Potter herausgerutscht ist, da? er ein Muggelkind ist. Justin mu?te ausgerechnet ihm sagen, da? er eigentlich nach Eton gehen sollte. So was plappert man nicht aus, wenn der Erbe Slytherins auf Jagd ist, oder?«

»Du bist also sicher, da? es Potter ist, Ernie?«, sagte ein Madchen mit blonden Zopfen angstlich.

»Hannah«, erwiderte der stammige Junge ernst.»Er ist ein Parselmund. Jeder wei?, das ist das Erkennungszeichen eines schwarzen Magiers. Hast du jemals von einem anstandigen gehort, der zu Schlangen sprechen konnte? Slytherin selbst haben sie Schlangenzunge genannt.«

Diesen Worten folgte ein lautes Murmeln, und Ernie fuhr fort:

»Erinnert ihr euch, was an der Wand geschrieben stand: Feinde des Erben, nehmt euch in Acht. Potter mu? sich mit Filch in die Wolle gekriegt haben. Und kurz danach wird Filchs Katze angegriffen. Dieser Erstkla?ler Creevey hat Potter beim Quidditch-Spiel geargert, weil er Bilder von ihm machte, als Potter im Schlamm lag. Und was passiert kurz danach? Creevey wird angegriffen.«

»Er kommt mir aber immer so nett vor«, sagte Hannah unsicher,»und au?erdem, nun ja, er war es immerhin, der Du-wei?t-schon-wen verjagt hat. Er kann nicht durch und durch bose sein, oder?«

Ernie senkte geheimnistuerisch die Stimme, die Hufflepuffs beugten sich noch weiter vor und Harry stahl sich naher heran, um Ernies Worte zu erhaschen.

»Keiner wei?, wie er diesen Angriff von Du-wei?t-schon-wem uberlebt hat. Uberlegt doch mal, er war noch ein Baby, als es passierte. Normalerweise ware er in Stucke gerissen worden. Nur ein wirklich machtiger schwarzer Magier konnte einen solchen Fluch uberleben.«Er senkte die Stimme zu einem eindringlichen Flustern:»Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ihn Du-wei?t-schon-wer uberhaupt toten wollte. Wollte keinen anderen Schwarzen Lord haben, der mit ihm um die Macht streitet. ich frag mich, welche anderen Krafte Potter noch verbirgt?«

Harry hielt es nicht langer aus. Er rausperte sich laut und trat hinter den Regalen hervor. Wenn er nicht so wutend gewesen ware, hatte er das Schauspiel, das sich ihm bot, lustig gefunden: Die versammelten Hufflepuffs sahen aus, als waren sie von seinem blo?en Anblick versteinert, und aus Ernies Gesicht war jede Farbe gewichen.

»Hallo«, sagte Harry.»Ich bin auf der Suche nach Justin Finch-Fletchley.«

Offensichtlich hatten sich die schlimmsten Befurchtungen der Hufflepuffs bestatigt. Alle blickten angsterfullt auf Ernie.

»Was willst du von ihm?«, sagte Ernie mit zittriger Stimme.

»Ich will ihm sagen, was im Duellierclub wirklich mit der Schlange passiert ist«, sagte Harry.

Ernie bi? sich auf die wei?en Lippen, holte tief Luft und sagte:

»Wir waren alle da. Wir haben gesehen, was passiert ist.«

»Dann hast du auch gesehen, da? die Schlange zuruckgewichen ist, nachdem ich zu ihr gesprochen habe?«, sagte Harry.

»Alles, was ich gesehen habe, war, da? du Parsel gesprochen und die Schlange auf Justin gehetzt hast«, erwiderte Ernie starrkopfig.

»Ich hab sie nicht auf ihn gehetzt!«, sagte Harry mit vor Wut zitternder Stimme.»Sie hat ihn nicht einmal beruhrt!«

»Es war aber sehr knapp«, sagte Ernie.»Und falls du auf irgendwelche krummen Gedanken kommen solltest«, fugte er rasch hinzu,»sag ich dir lieber, da? du meine Familie bis auf neun Generationen von Hexen und Zauberern zuruckverfolgen kannst und mein Blut so rein ist wie nur moglich, also -«

»Es ist mir egal, was fur Blut du hast«, sagte Harry aufgebracht.»Warum sollte ich Muggelgeborene angreifen?«

»Ich hab gehort, da? du die Muggel ha?t, bei denen du lebst«, sagte Ernie schlagfertig.

»Es ist unmoglich, bei den Dursleys zu leben und sie nicht zu hassen«, erwiderte Harry.»Da mochte ich dich mal sehen.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und sturmte aus der Bibliothek, wobei er sich einen tadelnden Blick von Madam Pince einhandelte, die den goldgepragten Einband eines dicken Zauberspruchbandes polierte.

Harry rannte stolpernd durch die Gange und bemerkte vor Wut kaum, wo er hinlief Der Erfolg war, da? er gegen etwas sehr Gro?es und Festes prallte, das ihn zu Boden schlug.

Harry blickte auf,»Oh, hallo, Hagrid.«

Hagrids Gesicht war unter einer schneebedeckten Wollkapuze verborgen, aber ein anderer konnte es unmoglich sein, da er mit seinem Maulwurfsmantel den Gang fast in ganzer Breite ausfullte. Ein toter Hahn baumelte von einer seiner massigen behandschuhten Pranken herab.

»Alles in Ordnung, Harry?«, sagte er und zog zum Sprechen die Kapuze hoch.»Warum bist du nicht im Unterricht?«

»Fallt aus«, sagte Harry und richtete sich auf.»Was machst du eigentlich hier?«

Hagrid hob den leblosen Hahn hoch.

»Der zweite, der dieses Jahr getotet wurde«, erklarte er.»Entweder Fuchse oder ein Blut saugendes Gespenst, und ich brauch die Erlaubnis des Schulleiters, einen Bannkreis um den Huhnerstall zu ziehen.«

Er lugte unter seinen dicken, schneeglitzernden Brauen hervor und musterte Harry.

»Wirklich alles in Ordnung mit dir? Bist ja ganz hei? im Gesicht und siehst so besorgt aus -«

Harry brachte es nicht uber sich zu wiederholen, was Ernie und die anderen Hufflepuffs uber ihn gesagt hatten.

»Es ist nichts«, sagte er.»Ich mach mich jetzt besser auf die Socken, Hagrid, wir haben jetzt Verwandlung und ich mu? noch meine Bucher holen.«

Den Kopf immer noch voll mit Ernies Worten verlie? er Hagrid.

»Justin hat auf so etwas gewartet, seit ihm Potter gegenuber herausgerutscht ist, da? er ein Muggelkind ist…«

Harry stapfte die Treppen hoch und bog in einen Korridor ein, der noch dunkler war als die anderen; ein scharfer, eisiger Luftzug pfiff durch ein in den Angeln schlagendes Fenster und hatte die Fackeln geloscht. Auf halbem Wege durch den Gang stolperte er und sturzte zu Boden.

Er drehte sich um, um nachzusehen, woruber er gestolpert war – und hatte plotzlich das Gefuhl, sein Magen wurde sich auflosen.

Justin Finch-Fletchley lag auf dem Boden, steif und kalt und leblos an die Decke stierend, mit einem festgefrorenen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht. Und das war nicht alles. Neben ihm war eine andere Gestalt und etwas Befremdlicheres hatte Harry noch nie gesehen.

Es war der Fast Kopflose Nick, nicht mehr perlwei? und durchsichtig, sondern mit schwarzem Rauch gefullt. Reglos schwebte er eine Handbreit uber dem Boden. Sein Kopf hing herunter und auf seinem Gesicht stand derselbe Ausdruck des Entsetzens wie auf dem Justins.