Ich folgte dem Rollen der weißen Kugeln, ihrem Aufprallen und Zurückstoßen.
«A la bande. So muß man den Benno schlagen«, meinte der Kantonsrat, indem er den Billardstock Professor Winter zurückgab.»Kapiert, junger Mann?»
«Ich verstehe nichts davon«, antwortete ich und wandte mich dem Grog zu, den der Kellner auf ein Tischchen gestellt hatte.
«Einmal werden Sie es schon begreifen«, lachte Dr.h.c. Isaak Kohler, nahm eine Zeitungsrolle von der Wand und entfernte sich.
Der Mord: Was sich dann drei Jahre später ereignete, ist bekannt und kann schnell erzählt werden (auch nüchtern brauche ich dabei nicht unbedingt zu sein). Dr.h.c. Isaak Kohler hatte sein Mandat niedergelegt, obschon seine Partei ihn zum Regierungsrat vorschlagen wollte (nicht zum Bundesrat, wie einige ausländische Zeitungen schrieben), hatte sich überhaupt aus der Politik zurückgezogen (von seiner Anwaltspraxis schon längst), verwaltete einen Ziegeltrust, der immer weltweitere Dimensionen annahm, linkerhand, amtete als Präsident verschiedener Verwaltungsräte, wirkte auch in einer Kommission der unesco, man sah ihn manchmal monatelang nicht in unserer Stadt, bis er an einem ungebührlich frühlingshaften Märztag im Jahre 1955 den englischen Minister B. durch unsere Stadt führte. Dieser Minister war privat gekommen, man hatte in einer Privatklinik sein Magengeschwür behandelt, nun saß er neben dem Alt-Kantonsrat in dessen Rolls-Royce und ließ sich, bevor er zurückflog, widerwillig doch noch die Stadt zeigen, vier Wochen hatte er sich standhaft geweigert, um sich nun zu fügen, sah gähnend nach den Sehenswürdigkeiten, die sich vorbeischoben, nach der Technischen Hochschule, der Universität, dem Münster, romanisch (der Kantonsrat lieferte Stichworte), der Fluß zitterte in der weichen Luft (die Sonne ging eben unter), der Quai war voller Menschen. Der Minister nickte ein, auf den Lippen noch den Geschmack der unzähligen Kartoffelpürees und der Birchermüeslis, die er in der Privatklinik genossen hatte, während er nun schon von Whisky pur träumte und die Stimme des Kantonsrats wie von weitem hörte, das Rollen des Verkehrs als ein noch ferneres Rauschen; eine bleierne Müdigkeit war in ihm und vielleicht schon die Ahnung, daß die Magengeschwüre doch nicht so harmlos seien.
«Just a moment«, sagte Dr.h.c. Isaak Kohler und ließ den Chauffeur Franz vor dem >Du Théâtre< anhalten, stieg aus, wies ihn an, eine Minute zu warten, deutete noch mit dem Schirmstock mechanisch auf die Fassade» eighteenth Century«, doch reagierte Minister B. überhaupt nicht, döste weiter, träumte weiter. Der Kantonsrat begab sich ins Restaurant, gelangte durch die Drehtüre in den großen Speisesaal, wo ihn der Chef de Service ehrfürchtig begrüßte. Es ging gegen sieben, die Tische waren schon vollbesetzt, man saß beim Abendessen, ein Stimmengewirr, Schmatzen, Besteckgeklimper. Der Alt-Kantonsrat schaute sich um, schritt dann gegen die Mitte des Speisesaales, wo an einem kleinen Tisch Professor Winter saß, mit einem Tournedos Rossini und einer Flasche Chambertin beschäftigt, zog einen Revolver hervor und schoß das Mitglied des PEN-Clubs nieder, nicht ohne vorher freundlich gegrüßt zu haben (überhaupt spielte sich alles aufs würdigste ab), ging dann gelassen am erstarrten Chef de Service, der ihn wortlos anglotzte, und an verwirrten, zu Tode erschrockenen Kellnerinnen vorbei durch die Drehtüre in den sanften Märzabend hinaus, stieg wieder in den Rolls-Royce, setzte sich zum dösenden Minister, der nichts bemerkt hatte, dem nicht einmal das Anhalten des Wagens zum Bewußtsein gekommen war, der, wie gesagt, vor sich hin döste, vor sich hin träumte, sei es von Whisky, sei es von Politik (die Suezkrise schwemmte dann auch ihn weg), sei es von einer bestimmten Ahnung hinsichtlich der Magengeschwüre (vorige Woche stand sein Tod in den Zeitungen, nur kurz kommentiert, und die meisten gaben seinen Namen orthographisch nicht ganz gewissenhaft wieder).
«Zum Flughafen, Franz«, befahl Dr.h.c. Isaak Kohler.
Das Intermezzo seiner Verhaftung: es kann nicht ohne Schadenfreude erzählt werden. Einige Tische vom Ermordeten entfernt tafelte der Kommandant unserer Kantonspolizei mit seinem alten Freund Mock, der, ein Bildhauer, taub und in sich versunken, vom ganzen Vorgang auch später nicht das geringste wahrnahm. Die beiden aßen einen Potaufeu, Mock zufrieden, der Kommandant, der das >Du Théâtre< nicht mochte und es nur selten besuchte, mürrisch. Nichts war nach seinem Geschmack: die Fleischbrühe zu kalt, das Siedfleisch zu zäh, die Preiselbeeren zu süß. Als der Schuß fiel, sah der Kommandant nicht auf, das ist möglich, so wird es jedenfalls erzählt, denn er war gerade dabei, das Mark kunstgerecht aus einem Knochen zu saugen, dann erhob er sich aber doch, stieß dabei sogar einen Stuhl um, den er jedoch als ein Mann der Ordnung wieder auf die Beine stellte. Bei Winter angekommen, lag dieser schon auf dem Tournedos Rossini, die Hand noch um das Glas mit dem Chambertin geschlossen.
«Ist das vorhin nicht der Kohler gewesen?«fragte der Kommandant den noch hilflosen Geschäftsführer, der ihn verstört und bleich anglotzte.
«Jawohl. In der Tat«, murmelte der.
Der Kommandant betrachtete den ermordeten Germanisten nachdenklich, schaute dann finster auf die Platte mit der Rösti und den Bohnen nieder, ließ seinen Blick über die Schüssel mit dem zarten Salat, den Tomaten und Radieschen gleiten.
«Da kann man nichts mehr machen«, sagte er.
«Jawohl. In der Tat.»
Die Gäste, erst wie gebannt, waren aufgesprungen. Hinter der Theke starrten der Koch und das Küchenpersonal herüber. Nur Mock aß ruhig weiter. Ein hagerer Mann drängte sich vor.
«Ich bin Arzt.»
«Rühren Sie ihn nicht an«, befahl der Kommandant ruhig,»wir müssen ihn zuerst mal fotografieren.»
Der Arzt beugte sich zum Professor, befolgte jedoch den Befehl.
«Tatsächlich«, stellte er dann fest.»Tot.»
«Eben«, antwortete der Kommandant ruhig.»Gehen Sie zurück an Ihren Tisch.»
Dann nahm er die Flasche Chambertin vom Tisch.
«Die ist requiriert«, sagte er und reichte sie dem Geschäftsführer.
«Jawohl. In der Tat«, murmelte der.
Darauf ging der Kommandant telefonieren.
Als er zurückkehrte, befand sich der Staatsanwalt Jämmerlin schon bei der Leiche. Er trug einen feierlichen dunklen Anzug. Er beabsichtigte, in der Tonhalle ein Symphoniekonzert zu besuchen, und hatte eben im Französischen Restaurant im ersten Stock zum Nachtisch eine Omelette flambée verzehrt, als er den Schuß hörte. Jämmerlin war unbeliebt. Jedermann sehnte seine Pensionierung herbei, die Dirnen und ihre Konkurrenz vom anderen Lager, die Diebe und Einbrecher, die ungetreuen Prokuristen, die Geschäftsmänner in Schwierigkeiten, aber auch der Justizapparat, von der Polizei bis zu den Anwälten, ja selbst seine Kollegen ließen ihn im Stich. Jedermann riß Witze über ihn: es sei kein Wunder, daß es in der Stadt jämmerlicher denn je hergehe, seit man Jämmerlin habe, jämmerlicher als in der Justiz könne es nicht mehr zugehen usw. Der Staatsanwalt stand auf verlorenem Posten, seine Autorität war längst untergraben, die Geschworenen widersetzten sich immer häufiger seinen Anträgen, die Richter desgleichen, und besonders hatte er unter dem Kommandanten zu leiden, der im Rufe stand, den sogenannten kriminellen Teil unserer Bevölkerung für den wertvolleren zu halten. Doch Jämmerlin war ein Jurist großen Stils, der durchaus nicht immer den kürzeren zog, seine Anträge und Repliken waren gefürchtet, seine Kompromißlosigkeit imponierte, sosehr sie verhaßt war. Er stellte einen Staatsanwalt der älteren Schule dar, von jedem Freispruch persönlich gekränkt, gleich ungerecht gegen reich und arm, ledig, von keiner Versuchung angefochten, ohne je eine Frau berührt zu haben. Beruflich seine schlimmsten Nachteile. Die Verbrecher waren für ihn etwas Unverständliches, geradezu Satanisches, die ihn in eine alttestamentarische Wut versetzten, er war ein Relikt einer unbeugsamen, aber auch unbestechlichen Moralität, ein erratischer Block im» Sumpfe einer Justiz, die alles entschuldigt«, wie er sich ebenso schwungvoll wie grimmig ausdrückte. Auch jetzt war er ungemein erregt, um so mehr, als er den Ermordeten und den Mörder persönlich kannte.
«Kommandant«, rief er empört aus, in der Hand noch die Serviette,»man behauptet, Doktor Isaak Kohler habe diesen Mord begangen!»
«Stimmt«, antwortete der Kommandant mürrisch.
«Das ist doch einfach unmöglich!»
«Kohler muß verrückt geworden sein«, antwortete der Kommandant, setzte sich auf den Stuhl neben dem Toten, zündete sich eine seiner ewigen Bahianos an. Der Staatsanwalt trocknete sich mit der Serviette die Stirn, zog vom Nebentisch einen Stuhl heran, setzte sich ebenfalls, so daß der riesige Tote nun zwischen den beiden massigen, schweren Beamten über seinem Teller lag. So warteten sie. Totenstille im Restaurant. Niemand aß mehr. Alles starrte auf die gespenstische Gruppe. Nur als eine Studentenverbindung den Raum betrat, entstand Verwirrung. Sie nahm singend vom Lokal Besitz, begriff nicht gleich die Lage, sang aus Leibeskräften weiter, verstummte dann verlegen. Endlich kam Leutnant Herren mit dem Stab des Morddezernats. Ein Polizist fotografierte, ein Gerichtsmediziner stand hilflos herum, und ein Bezirksanwalt, der mitgekommen war, entschuldigte sich bei Jämmerlin für sein Erscheinen. Leise Befehle, Anordnungen. Dann wurde der Tote aufgerichtet, Sauce im Gesicht, Gänseleber und grüne Bohnen im Vollbart, auf die Bahre gelegt und in den Sanitätswagen geschafft. Die goldene randlose Brille entdeckte Ella erst in der Rösti, als sie abräumen durfte. Darauf wurden vom Bezirksanwalt die ersten Zeugen einvernommen.
Mögliches Gespräch 1: Wie nun wieder Leben in die Serviertöchter kam und die Gäste sich langsam und zögernd setzten, wie nun einige schon wieder zu essen begannen, wie nun auch die ersten Journalisten anrückten, zog sich der Staatsanwalt mit dem Kommandanten zu einer Besprechung in die Vorratskammer neben der Küche zurück, wohin man sie geführt hatte. Er wollte einen Augenblick mit dem Kommandanten allein sein, ohne Zeugen. Ein Weltgericht mußte organisiert und abgehalten werden. Die kurze Besprechung neben Regalen mit Broten, Konserven, Ölflaschen und Mehlsäcken verlief unglücklich. Nach der Darstellung vor dem Parlament, die der Kommandant später gab, forderte der Staatsanwalt den Masseneinsatz der Polizei.
«Wozu?«wandte der Kommandant ein.»Wer wie Kohler vorgeht, will nicht fliehen. Den Mann können wir ruhig zu Hause verhaften.»
Jämmerlin wurde energisch.»Ich darf wohl erwarten, daß Sie Kohler wie jeden anderen Verbrecher behandeln.»