Der Kommandant schwieg.

«Der Mann ist einer der reichsten und bekanntesten Bürger der Stadt«, fuhr Jämmerlin fort.»Es ist unsere heilige Pflicht«(eine seiner Lieblingswendungen),»mit der größten Strenge vorzugehen. Wir müssen jeden Anschein vermeiden, daß wir ihn begünstigen.»

«Es ist unsere heilige Pflicht, unnötige Kosten zu vermeiden«, erklärte der Kommandant ruhig.

«Kein Großalarm?»

«Ich denke nicht daran.»

Der Staatsanwalt starrte auf die Brotschneidemaschine, neben der er stand.»Sie sind mit Kohler befreundet«, meinte er endlich, nicht einmal boshaft, nur routinemäßig und kalt.»Halten Sie es nicht für möglich, daß unter diesen Umständen Ihre Objektivität leiden könnte?»

Stille.»Polizeileutnant Herren«, antwortete der Kommandant gelassen,»wird den Fall Kohler übernehmen.»

So kam es zum Skandal.

Herren war ein Mann der Tat, ehrgeizig und handelte denn auch voreilig. Es gelang ihm, nicht nur innerhalb weniger Minuten die ganze Polizei, sondern auch die Bevölkerung zu alarmieren, indem er im Radio vor den Halbachtuhrnachrichten gerade noch die Sondermeldung der Kantonspolizei lancieren konnte. Der Apparat lief auf vollen Touren. Man fand Kohlers Villa leer (er war Witwer, seine Tochter als Stewardeß der Swissair in Lüften, die Köchin im Kino). Man schloß auf Fluchtabsichten. Funkwagen pirschten durch die Straßen, die Grenzposten wurden benachrichtigt, ausländische Polizei avisiert. Dies alles war vom rein Technischen her nur zu loben, doch stellte man die Möglichkeit außer Frage, die der Kommandant gewittert hatte: man suchte einen Mann, der nicht zu fliehen trachtete. So war denn das Unglück schon geschehen, als man kurz nach acht aus dem Flughafen die Nachricht erhielt, Kohler habe einen englischen Minister zum Flugzeug gebracht und sich dann in seinem Rolls-Royce gemütlich in die Stadt zurückfahren lassen. Besonders schwer traf es den Staatsanwalt. Er hatte sich eben, beruhigt durch das machtvolle Funktionieren der Staatsmaschinerie, noch freudig gestimmt von seinem Sieg über den verhaßten Kommandanten, bereitgemacht, Mozarts Ouvertüre zur >Entführung aus dem Serail< anzuhören, sich auch schon genußvoll, den gestutzten grauen Bart streichelnd, zurückgelehnt, und Mondschein hatte schon den Taktstock erhoben, als der gesuchte, mit den modernsten Hilfsmitteln der Polizei gehetzte Dr.h.c. an der Seite einer der reichsten und nun auch ahnungslosesten Witwen unserer Stadt durch den Mittelgang des großen Tonhallesaals an den dichten Zuhörerreihen vorbei nach vorne geschritten kam, ruhig und sicher wie immer, mit der unschuldigsten Miene, als wenn nichts geschehen wäre, und sich neben Jämmerlin niederließ, ja dem Fassungslosen noch die Hand schüttelte. Die Erregung, das Getuschel, aber leider auch das Gekicher waren beträchtlich, die Ouvertüre mißriet nicht unbedeutend, weil auch das Orchester den Vorgang bemerkt hatte, ein Oboist erhob sich sogar neugierig, Mondschein mußte zweimal ansetzen, und so verwirrt war der Staatsanwalt, daß er nicht nur während der Serail-Ouvertüre, sondern auch während des nachfolgenden Zweiten Klavierkonzerts von Johannes Brahms wie erstarrt sitzen blieb. Zwar begriff er endlich die Lage, als der Pianist eingesetzt hatte, aber nun wagte er nicht, Brahms zu unterbrechen, sein Respekt vor der Kultur war zu groß, er fühlte schmerzlich, daß er hätte eingreifen müssen, und nun war es zu spät, und so blieb er bis zur Pause. Dann handelte er. Er drängte sich durch die Menge, die neugierig den Kantonsrat umringte, lief zu den Telefonkabinen, mußte zurückkehren, um von einer Garderobenfrau Kleingeld zu bekommen, rief die Polizeikaserne an, erreichte Herren, ein Großaufgebot sauste herbei. Kohler dagegen spielte den Ahnungslosen, spendierte an der Bar der Witwe Champagner, hatte auch das unverschämte Glück, daß der zweite Teil des Konzerts wenige Augenblicke vor Eintreffen der Polizei begann. So mußte denn Jämmerlin mit Herren vor verschlossenen Türen warten, drinnen wurde Bruckners Siebente gegeben, endlos. Der Staatsanwalt stampfte aufgeregt hin und her, mußte einige Male von Platzanweiserinnen zur Ruhe gemahnt werden, wurde überhaupt wie ein Barbar behandelt. Er verwünschte die ganze Romantik, verfluchte Bruckner, man war immer noch erst beim Adagio, und als endlich nach dem vierten Satz der Beifall einsetzte — auch er wollte kein Ende nehmen — und als das Publikum durch das Spalier der aufgerückten Polizisten ins Freie strömte, kam Dr.h.c. Isaak Kohler erst recht nicht. Er war verschwunden. Der Kommandant hatte ihn durch den Künstlereingang in seinen Wagen gebeten und war mit ihm in die Polizeikaserne gefahren.

Mögliches Gespräch 2: In der Polizeikaserne brachte der Kommandant den Dr.h.c. in sein Büro. Sie hatten miteinander während der Fahrt kein Wort gesprochen, nun ging der Kommandant voran den leeren, schlecht beleuchteten Korridor entlang. Im Büro wies er schweigend auf einen der bequemen Ledersessel, verriegelte die Türe, zog den Rock aus.

«Mach's dir gemütlich«, sagte er.

«Danke, ich bin schon gemütlich«, antwortete der Kantonsrat, der sich gesetzt hatte.

Der Kommandant stellte zwei Gläser auf den Tisch zwischen den beiden Sesseln, holte eine Rotweinflasche aus dem Schrank,»Winters Chambertin«, erklärte er und schenkte ein, setzte sich auch, starrte eine Weile vor sich hin, begann sich dann sorgfältig mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und vom Nacken zu wischen.

«Lieber Isaak«, begann er endlich,»sage mir um Himmels willen, warum du diesen alten Esel niedergeschossen hast.»

«Du meinst — «, antwortete der Kantonsrat etwas zögernd.

«Bist du dir überhaupt im klaren, was du getan hast?«unterbrach ihn der Kommandant.

Der andere trank gemächlich aus seinem Glas, antwortete nicht auf der Stelle, betrachtete vielmehr den Kommandanten leicht erstaunt, aber auch mit leichtem Spott.

«Selbstverständlich«, sagte er dann.»Selbstverständlich bin ich mir im klaren.»

«Und, warum hast du Winter erschossen?»

«Ach so«, antwortete der Kantonsrat und schien über etwas nachzudenken, lachte dann:»Ach, so ist das. Nicht übel.»

«Was ist nicht übel?»

«Das Ganze.»

Der Kommandant wußte nicht, was er antworten sollte, war verwirrt, ärgerte sich. Der Mörder dagegen war geradezu heiter geworden, lachte mehrere Male leise vor sich hin, schien sich auf eine unbegreifliche Weise zu amüsieren.

«Nun. Warum hast du den Professor ermordet?«begann der Kommandant aufs neue hartnäckig zu fragen, eindringlich, wischte sich wieder den Schweiß aus dem Nacken und von der Stirn.

«Ich habe keinen Grund«, gestand der Kantonsrat.

Der Kommandant starrte ihn verwundert an, glaubte nicht recht gehört zu haben, leerte dann sein Glas Chambertin, schenkte sich wieder ein, verschüttete Wein.

«Keinen Grund?»

«Keinen.»

«Das ist doch Unsinn, du mußt doch einen Grund haben«, rief der Kommandant ungeduldig aus.»Das ist doch Unsinn!»

«Ich bitte dich, deine Pflicht zu tun«, sagte Kohler und trank sorgfältig sein Glas leer.

«Meine Pflicht ist es, dich zu verhaften«, erklärte der Kommandant.

«Eben.»

Der Kommandant war verzweifelt. Er liebte Klarheit in allen Dingen. Er war ein nüchterner

Mensch. Ein Mord war für ihn ein Unglücksfall, über den er kein moralisches Urteil fällte. Aber als Mann der Ordnung mußte er einen Grund haben. Ein Mord ohne Grund war für ihn nicht ein Verstoß gegen die Sitte, wohl aber gegen die Logik. Und das gab es nicht.

«Am besten, ich stecke dich ins Irrenhaus zur Beobachtung«, erklärte er wütend.»Das gibt es doch einfach nicht, daß du ohne Grund gemordet haben willst.»

«Ich bin völlig normal«, entgegnete Kohler ruhig.

«Soll ich Stüssi-Leupin telefonieren?«schlug der Kommandant vor.

«Wozu?»

«Du brauchst einen Verteidiger, Mann Gottes. Den besten, den wir haben, und Stüssi-Leupin ist der beste.»

«Ein Offizialverteidiger genügt mir.»

Der Kommandant gab es auf. Er öffnete den Kragen, atmete tief.

«Du mußt verrückt geworden sein«, keuchte er.»Gib den Revolver.»

«Welchen Revolver?»

«Mit dem du den Professor erschossen hast.»

«Den habe ich nicht«, erklärte der Dr.h.c. und erhob sich.

«Isaak«, flehte der Kommandant,»ich hoffe, du willst uns eine Leibesvisitation ersparen!»

Er wollte sich wieder Wein einschenken. Die Flasche war leer.

«Der verdammte Winter hat zuviel gesoffen«, knurrte der Kommandant.

«Laß mich endlich abführen«, schlug der Mörder vor.

«Bitte«, entgegnete der Kommandant,»dann wird dir nichts erspart bleiben. «Er erhob sich ebenfalls, riegelte die Tür auf, klingelte dann.

«Führen Sie den Mann ab«, sagte er zum eintretenden Polizeiwachtmeister.»Er ist verhaftet.»

Verspäteter Verdacht: Wenn ich diese Gespräche wiederzugeben versuche —»mögliche«, weil ich ihnen nicht persönlich beigewohnt habe —, so geschieht es nicht in der Absicht, einen Roman zu schreiben. Es geschieht aus der Notwendigkeit, ein Geschehen so getreu wie möglich aufzuzeichnen, doch ist dies nicht das Schwierige. Die Justiz spielt sich zwar weitgehend hinter den Kulissen ab, aber auch hinter den Kulissen verwischen sich die gegen außen scheinbar so klar festgelegten Kompetenzen, die Rollen werden ausgetauscht oder anders verteilt, Gespräche zwischen Personen finden statt, die vor der Öffentlichkeit als unversöhnliche Feinde auftreten, überhaupt herrscht eine andere Tonart. Nicht alles wird festgehalten und den Akten zugeführt. Informationen werden weitergegeben oder unterschlagen. So war etwa der Kommandant mir gegenüber immer offen, gesprächig, erzählte mir freiwillig alles, ließ mich in wichtige Dokumente Einsicht nehmen, überschritt auch öfters seine Befugnisse, ist überhaupt, auch heute noch, mir gewogen. Ja sogar Stüssi-Leupin war mir gegenüber durchaus zuvorkommend, auch als ich längst im anderen Lager stand, erst jetzt hat sich der Wind gedreht, doch das ja wohl aus einem ganz anderen Grund. So brauche ich denn die Gespräche nicht zu erfinden, sondern nur zu rekonstruieren. Schlimmstenfalls sind sie zu erahnen.

Nein, meine» schriftstellerischen «Schwierigkeiten liegen woanders. Wenn ich mir auch im klaren darüber bin, daß selbst mein geplanter Mord und Selbstmord nicht ein strenger Beweis meiner Glaubwürdigkeit zu sein vermögen, so überfällt mich doch immer wieder beim Niederschreiben der Ereignisse die wahnwitzige Hoffnung, noch einen solchen zu erbringen: etwa indem ich entdecke, wie Kohlers Revolver beseitigt wurde. Die Tatwaffe ist nie gefunden worden. Zunächst ein nebensächlicher Umstand. Er blieb ohne Einfluß auf den Prozeß. Der Täter stand fest, Zeugen waren genügend vorhanden, das Personal, die Gäste des >Du Théâtre<. Wenn deshalb der Kommandant zu Beginn der Untersuchung alles aufbot, den Revolver herzuschaffen, so nicht, um Kohler zu belasten — was ja in keiner Weise nötig war —, sondern nur der Ordnung zuliebe, es gehörte sozusagen zu seinem kriminalistischen Stil. Doch hatte der Kommandant keinen Erfolg. Unerklärlicherweise. Dr.h.c. Isaak Kohlers Weg vom >Du Théâtre< bis zur Tonhalle war bekannt, minutiös zu belegen. Er war nach dem Schuß auf den Tournedos-Rossini-verschlingenden Professor geradewegs in seinen Rolls-Royce gestiegen und hatte sich neben dem whisky-träumenden Minister niedergelassen, wir wissen es. Beim Flughafen verließen Mörder und Minister den Wagen, der Chauffeur (der ja nichts von der Tat wußte) hatte keinen Revolver bemerkt, auch der Direktor der Swissair nicht, der zur Begrüßung hergeeilt kam. In der Halle plauderte man, bewunderte pflichtgemäß das Gebäude, besser, dessen Innenarchitektur, schritt dann schlendernd zur Maschine, Kohler den Minister leicht stützend. Feierliche Verabschiedung, Rückkehr mit dem Direktor in die Halle, noch ein kurzer Blick auf die davonrollende Maschine, Einkauf am Kiosk, >nzz< und >National-Zeitung<, Durchquerung der Halle, immer noch mit dem Direktor, doch nun ohne Blick auf die Innenarchitektur, dann in den wartenden Wagen, vom Flughafen an die Zollikerstraße, zweimaliges Hupen vor dem Haus der ahnungslosen Witwe, die gleich erschien (man war in Eile), von der Zollikerstraße geradewegs in die Tonhalle. Von der Waffe keine Spur, auch die Witwe hatte nichts bemerkt. Der Revolver hatte sich in nichts aufgelöst. Der Kommandant ließ den Rolls-Royce aufs genaueste untersuchen, dann die Strecke, die Kohler zurückgelegt hatte, ferner dessen Villa, den Garten, das Zimmer der Köchin, die Wohnung des Chauffeurs an der Freiestraße. Nichts. Der Kommandant drang noch einige Male in Kohler, wetterte sogar, schritt zum Dauerverhör. Vergeblich. Der Dr.h.c. bestand es glänzend, nur Hornusser, der Untersuchungsrichter, der das Verhör wiederaufnahm, brach zusammen. Dann Protest von Seiten des Staatsanwalts, die Polizei und der Untersuchungsrichter brauchten nicht allzu pedantisch zu sein, Revolver hin oder her, man lege nicht allzuviel Wert darauf, ihn weiterzusuchen sei eine Verschleuderung von Steuergeldern, der Kommandant und der Untersuchungsrichter mußten die Suche aufgeben; und die verschwundene Waffe erhielt erst später, durch Stüssi-Leupin, ihre Bedeutung. Daß sie mir in diesen Tagen eine neue Hoffnung einflößt, ist eine andere Geschichte, gehört zu den Schwierigkeiten meines Unterfangens. Meine Rolle als Retter der Gerechtigkeit ist jämmerlich, ich vermag nichts als zu schreiben, kaum sehe ich daher von weitem eine Möglichkeit, anders einzugreifen, auf eine andere Weise zu handeln, lasse ich meine Hermes-Baby, renne zu meinem Wagen (wieder vw), starte, brause davon, so vorgestern morgen zum Personalchef der Swissair. Eine Idee war mir gekommen, eine gewaltige Lösung. Ich fuhr wie im Rausch, wie durch ein Wunder kam ich heil zum Flughafen, blieben andere heil. Doch wollte mir der Personalchef keine Auskunft geben, ließ mich nicht einmal vor. Die Rückkehr ging in gemäßigtem Tempo vor sich, bei einer Kreuzung schrie mir ein Polizist zu, ob ich meinen Wagen durch die Stadt schieben wolle. Ich fühlte mich wieder einmal ausgespielt. Privatdetektiv Lienhard noch einmal mit einer Recherche zu beauftragen war unmöglich, er kostete zuviel und war nun, wie die Dinge standen, wohl auch nicht mehr interessiert, wer schneidet sich gern ins eigene Fleisch. So blieb nichts anderes übrig, als es mit Hélène selbst zu versuchen. Ich rief an. Ausgegangen.»In der Stadt. «Ich gehe aufs Geratewohl los, zu Fuß, denke, die Restaurants abzuklopfen oder die Buchhandlungen, da treffe ich sie, laufe gerade auf sie zu, nur daß sie mit Stüssi-Leupin dasitzt, vor dem >Select<, bei einem Capuccino. Ich sah die beiden erst im letzten Augenblick, stand schon vor ihnen, verwirrt, weil ich nur sie gesucht hatte, und wütend, weil Stüssi-Leupin bei ihr saß, aber was tat es schon, die beiden lagen wohl schon längst im Bett beieinander, das Töchterlein eines Mörders und der Retter ihres Vaters, sie einst meine Geliebte, er einst mein Chef.