Bolitho nickte. Allday hatte etwas au?erst Zuverlassiges an sich. Zwar war er nicht mehr der schlanke, geschmeidige Toppmatrose von einst. Er war breiter und starker geworden und sah in seinem blauen Jackett und den wei?en Segeltuchhosen so kraftvoll und unzerstorbar aus wie ein Felsen. Aber seine Augen waren noch immer dieselben: nachdenklich und leicht amusiert. Ja, es war gut, ihn heute bei sich zu haben.

Dann erblickte Bolitho den Midshipman: ein fluchtiger Eindruck von einem blassen, feingeschnittenen Gesicht und einem mageren, schlaksigen Korper, der anscheinend nicht stillhalten konnte.

Merkwurdig, dachte er, da? ich den Jungen nie an Bord gesehen habe, obwohl es auf einer Fregatte so eng ist.

Leach schien seine Gedanken erraten zu haben.»Er ist fast die ganze Reise seekrank gewesen«, sagte er wegwerfend.

Freundlich fragte Bolitho:»Wie hei?en Sie, mein Junge?»

«S. S. Seton, Sir«, stotterte der Midshipman, wurde rot und schwieg.

Gefuhllos sagte Leach:»Er stottert auch noch. Heutzutage mussen wir anscheinend alles nehmen.»

Bolitho verbarg sein Lacheln.»Gewi?. «Dann fuhr er fort:»Schon, Mr. Seton, gehen Sie bitte zuerst ins Boot. «Er sah, wie der Junge versuchte, diese neue Komplikation in seiner Karriere geistig zu verarbeiten, und befahl:»Weitermachen, Allday!»

Kaum vernahm er das Getriller der Pfeifen und das grobe Kommandogebell; erst als die Gig von der Fregatte klargekommen war und dem Druck der Riemen mit schaumender Bugwelle durch das ruhige Wasser des Hafens glitt, gonnte er sich einen weiteren Blick auf sein neues Schiff.

Allday folgte seinen Augen und sagte gleichmutig:»Na, da ist sie ja wieder, Captain. Die alte Hyperion.»

Wahrend die kleine Gig stetig uber das blaue Wasser zog, konzentrierte sich Bolitho auf die vor Anker liegende Hyperion. Allday hatte seine Bemerkung vielleicht ganz gedankenlos hingeworfen; aber seine Worte schlugen eine andere Saite in Bolithos Gedachtnis an, und er betrachtete es nicht mehr als blo?en Zufall, da? er jetzt aufs neue mit diesem alten Schiff zusammentraf.

Die Hyperion war tatsachlich ein alter Kasten: vor einundzwanzig Jahren hatte ihr Kiel zum erstenmal Salzwasser geschmeckt; es war also logischerweise unvermeidbar, da? er sie ab und zu wieder zu Gesicht bekam, da ihn sein Dienst standig von einem Teil der Welt zum anderen fuhrte. Aber immer, wenn er seelisch und korperlich die Grenze seiner Krafte erreicht hatte, war dieses alte Schiff irgendwo in der Nahe gewesen. Bei den blutigen Seeschlachten in der Chesapeake Bay* und bei den Saintes, als seine eigene geliebte Fregatte fast zum Wrack geschossen wurde, hatte er ihren stumpfen Bug sich durch den dichtesten Pulverdampf schieben sehen; aus ihrem Rumpf blitzte Kanonenfeuer, ihre Segel hatten Locher wie Pockennarben, doch mit aller Macht hielt sie ihren Platz in der Gefechtslinie.

Bolitho kniff die grauen Augen zusammen. Die Sonnenreflexe auf dem Wasser warfen ein Muster aus tanzenden Lichtern an die hohe Bordwand. Er wu?te, da? die Hyperion mehr als drei Jahre lang

* siehe Bruderkampf, Ullstein Buch 3462.

standig im Dienst gewesen war. Soeben kam sie aus Westindien, und die Wogen der Hoffnung auf rasche Abmusterung und wohlverdiente Ruhe fur Schiff und Mannschaft gingen hoch.

Aber wahrend die Hyperion majestatisch in friedlichen Geschaften unter der karibischen Sonne gesegelt war und Bolitho in seinem Haus in Falmouth verzweifelt gegen das verzehrende Fieber gekampft hatte, sammelten sich wiederum die Kriegswolken uber Europas Himmel und verdichteten sich. Die blutige Revolution in Frankreich wurde auf der anderen Seite des Kanals zuerst mit nervoser Schadenfreude beobachtet — es war verstandlich, da? die Englander recht zufrieden zusahen, wie ein alter Feind von innen heraus geschwacht wurde, ohne da? es sie etwas kostete. Aber als sich die wilde Wut noch weiter ausbreitete und nach England durchsickerte, da? aus dem Durcheinander von Exekutionskommandos und blutigem Pobelaufruhr eine neue, sogar noch starkere Nation hervorging, da fanden sich die Manner, welche die Schrek-ken des Krieges kennengelernt hatten, mit der Unvermeidlichkeit eines neuen Krieges ab.

Bolitho hatte sein Bett verlassen und war mit dem besorgt protestierenden Allday nach London gefahren. Die falsche Lebhaftigkeit dieser Stadt war ihm stets zuwider gewesen, ihre endlosen, schmutzigen Stra?en und im Kontrast dazu die Pracht der gro?en Hauser der Reichen; aber er war entschlossen, notfalls auf den Knien zu bitten um ein neues Schiff. Nach wochenlangem Antichambrieren und fruchtlosen Unterredungen hatte er die Aufgabe bekommen, unter den widerwilligen Bewohnern der Stadte am Medway Rekruten fur die Schiffe zu werben, die jetzt endlich neu in Dienst gestellt wurden.

Vom Standpunkt der Admiralitat, die eine erschopfte Flotte erweitern und neu ausrusten mu?te, war es klug, Bolitho als Rekrutenwerber einzusetzen. Seine erfolgreichen Unternehmungen als junger Fregattenkapitan waren noch in guter Erinnerung, und im Kriegsfalle war er gerade der richtige Kommandant, um Landratten an die Unsicherheit und Harte der See zu gewohnen. Unglucklicherweise sah Bolitho selbst die Sache weniger enthusiastisch. Irgendwie war es bezeichnend fur seinen Charakter, da? er diesen Auftrag als einen Beweis mangelnden Vertrauens seiner Vorgesetzten empfand, beruhend wahrscheinlich auf seiner eben uberstande-nen Krankheit. Ein kranker Kapitan konnte eine Gefahr sein, nicht nur fur sich selbst und sein Schiff, sondern auch fur die lebenswichtige Befehlskette, deren Schwachung Verderben und Niederlage bringen konnte.

Im Januar des nachsten Jahres schwirrten den Englandern die Kopfe bei der Nachricht, da? der Konig von Frankreich von seinem eigenen Volke hingerichtet worden war; und ehe man den Schock verdaut hatte, erklarte der neue franzosische Nationalkonvent den Krieg. Es war, als sei die gesamte franzosische Nation toll geworden und habe das Land aus der Bahn der Vernunft geworfen. Selbst Spanien und Holland, die ehemaligen Verbundeten, hatten ebenfalls Kriegserklarungen empfangen und warteten jetzt wie England auf den ersten wirklichen Zusammensto?.

Und so hatte die alte Hyperion fast ohne Ruhepause wieder Segel gesetzt. Erst nach Brest, und dann, wie zu erwarten, als Mitglied der Kanalflotte, welche die Blockade aufrechterhielt und die franzosischen Schiffe abpa?te, die dort unter den Kanonen der Kustenbatterien Schutz suchten.

Bolitho hatte sich weiter mit der Rekrutenanwerbung herumgeplagt. Die Verzweiflung daruber, da? er kein direktes Kommando bekam, trug nur dazu bei, seine Gesundheit aufs neue zu schwachen.

Endlich, als der Winter dem Fruhling wich, hatte er Order erhalten, sich nach Spithead zu begeben und dort Passage nach Gibraltar zu nehmen. Und nun sa? er in der Gig und tastete nach dem dicken Umschlag in seiner Brusttasche. Er gab ihm das unumschrankte Kommando uber das himmelhohe Schiff da vorn, gegen das alles andere klein und bedeutungslos wurde. Schon vernahm er die schrillen Bootsmannspfeifen, das Tappen nackter Fu?e, das Klirren der Musketen — sein Schiff bereitete sich vor, ihn zu empfangen. Hatten sie schon auf ihn gewartet? Wurden sie seine Ankunft mit Freude oder Unlust begru?en?

Es war ein gro?er Unterschied, ob man das Kommando nach einem Kapitan ubernahm, der befordert wurde oder in Pension ging, oder ob man eines toten Mannes Schuhe anzog.

Die Gig rundete den schweren Bug, und Bolitho blickte hoch zu der glanzenden Galionsfigur. Das ganze Schiff war neu gestrichen worden, und auch ihre Vergoldung sah frisch und sauber aus. Eine Kleinigkeit nur, aber sie zeigte, da? das Schiff gut instandgehalten wurde. Der Sonnengott Hyperion stie? sein Dreizack vor, und seine Krone war die aufgehende Sonne selbst. Nur die beiden starren blauen Augen unterbrachen das gleichma?ige Gold. Wie viele Feinde des Konigs mochten wohl durch Gischt und Pulverqualm in dieses starre Goldantlitz geblickt und Minuten spater den Tod gefunden haben?