«Danke, Ashby«, entgegnete Bolitho ruhig.»Ich werde selbst mit ihr sprechen. «Er nahm seinen Hut und trat hinaus auf die Stra?e, in das Krachen des Artilleriebeschusses.
XVI Einer von vielen
Bolitho brachte sein geliehenes Pferd hinter einer Steinhutte in Deckung und sprang aus dem Sattel. Ashby, der den ganzen Nachmittag bei ihm gewesen war, sa? ebenfalls ab und lehnte sich an die Mauer. Sein Atem ging schwer vor Erschopfung.
Es war erst spater Nachmittag, und doch konnte man glauben, die Nacht brache herein, so dick war der ziehende Qualm. In der wachsenden Dammerung schien die Stadt von einem geschlossenen Ring aus dem Mundungsfeuer der Kanonen und Musketen umgeben. Ashby deutete auf das bleiche Band der Landstra?e.»Weiter konnen wir nicht vorgehen, Sir«, sagte er.»Hundert Yards vor uns sind die Franzosen.»
Bolitho duckte sich hinter einer primitiven Barrikade aus Wagen und sandgefullten Fassern. Er konnte die verstreute Linie der Soldaten sehen, die sich nach rechts und links erstreckte. Mit langsamen, regelma?igen Bewegungen luden sie und feuerten in Richtung auf die Landstra?e. Dunkel hoben sich ihre roten Uniformrocke von dem staubigen Geroll ab.
Ein junger Leutnant kroch hinter einem umgesturzten Bauernwagen hervor und kam zu Bolitho gerannt. Wie seine Manner war er schmutzig und abgerissen, doch seine Stimme klang ruhig, als er, auf die tief verschatteten Hugel deutend, die Lage erlauterte:»Wir mu?ten in der letzten Stunde etwa funfzig Yards zuruckgehen, Sir. «Er duckte sich vor einer Musketenkugel.»Viel langer kann ich mich hier nicht halten. Ich habe die Halfte meiner Manner verloren, und die noch kampffahig sind, haben kaum mehr Munition.»
Bolitho zog sein Taschenteleskop aus und spahte uber die Barrikade. Vor dem aufblitzenden Mundungsfeuer konnte er die Gefallenen und Verwundeten mit den leuchtend wei?en Brustriemen liegen sehen, die jeden Meter des Ruckzugs kennzeichneten. Hier und da hob einer den Arm, und einmal horte er wahrend einer kurzen Feuerpause den halberstickten Ruf nach Wasser.
Er dachte an das provisorische Lazarett am Hafen. Da hatten sich ihre Blicke ein paar Sekunden lang uber die gebeugten Kopfe und ausgestreckten Leiber hinweg gefunden. Bolitho hatte dem dienstaltesten Feldscher gesagt, was er vorhatte, aber dabei nur zu dem Madchen hinubergeblickt. Der Sanitater hatte ihn erst ziemlich unglaubig gemustert, doch als eben wieder ein Verwundeter we g-getragen wurde, sagte er mude:»Wir werden sie an Bord bringen, Captain, und wenn wir sie auf den Rucken nehmen und schwimmen mussen!»
Bolitho war mit Cheney in einen kleinen Nebenraum getreten, der einmal so etwas wie ein Kindergarten gewesen sein mu?te. Haufenweise lagen verschmutzte Verbande und zerfetzte Uniformen herum. Die Wande waren mit primitiven Bildern bedeckt, gemalt von Kindern, die jetzt in der belagerten Stadt eingeschlossen und vom Tod bedroht waren.
«Ich wu?te, da? du kommen wurdest, Richard«, hatte sie gesagt,»ich wu?te es ganz sicher!»
Er hatte sie an seine Brust gezogen und ihre Verkrampfung gespurt, die plotzliche Schwere ihres Kopfes an seiner Schulter.»Du bist ja vollig erschopft! Du hattest mit der Vanessa segeln sollen.»
«Ich konnte unmoglich weg, bevor du zuruckkamst, Richard. «Sie hob das Kinn und blickte ihm lange ins Gesicht.»Jetzt geht es mir wieder besser.»
Drau?en vor dem Haus vibrierte die Luft vor Artilleriefeuer und den Rufen rennender Manner. Aber in diesen we nigen Sekunden waren sie miteinander allein gewesen, weit weg von der bitteren Wirklichkeit und allem Leid um sie herum.
Sanft loste er ihre Hande von seinen Rockaufschlagen.»Matrosen des Geschwaders werden sehr bald eintreffen. Alles wird getan, um St. Clar zu evakuieren. Bitte sag mir, da? du mitfahren wirst. «Forschend blickte er ihr ins Gesicht.»Nur das will ich wissen.»
Langsam nickte sie.»Alle sagen, da? die Evakuierung dein Werk ist, Richard. Sie reden von nichts anderem. Da? du entgegen dem Befehl zuruckgekommen bist, um uns zu helfen. «Tranen glanzten in ihren Augen.»Ich bin froh, da? ich geblieben bin — jetzt habe ich gesehen, wie du wirklich bist.»
«Wir stecken alle miteinander bis zum Hals in dieser Geschichte. Ich konnte gar nicht anders.»
Sie schuttelte den Kopf; und diese Bewegung war ihm in der Erinnerung besonders teuer.»Du magst es so nennen, Richard, aber ich kenne dich besser, als du denkst. Sir Edmund hat uberhaupt nichts getan, alle anderen haben nur abgewartet, und inzwischen sind viele Menschen sinnlos umgekommen.»
«Sei nicht zu hart mit dem Admiral. «Seine Worte kamen ihm selbst seltsam vor, als hatte er in diesen Stunden gelernt, Pomfret mit ganz anderen Augen zu sehen und ihn sogar ein wenig zu verstehen.»Er und ich wollten dasselbe. Nur unsere Motive waren verschieden.»
Da erschienen auch schon die ersten Matrosen im Lazarett. In ihren sauberen, karierten Hemden, mit ihrem zielstrebigen Zupacken wirkten sie an diesem Ort der Verzweiflung und des Todes wie Fremde.
Noch jetzt, als er hinter dieser elenden Barrikade hockte, stand ihm ihr Bild deutlich vor Augen: eine schmale, trotzige Gestalt inmitten der Ernte des Krieges; sie hatte sogar ein Lacheln zustande gebracht, als er aufgesessen war.
Ein Soldat stie? einen schrillen Schrei aus, sturzte rucklings von der niedrigen Mauer und fiel kopfuber neben seinem Kameraden zu Boden. Doch der wandte nicht einmal den Kopf, sondern lud und scho?. Der Tod war etwas Selbstverstandliches geworden — man kummerte sich nicht mehr darum. Uberleben war nur noch eine vage Moglichkeit.
Bolitho wandte sich um. Dort hinter ihm war die Brucke, und unter jenem Streifen Erde und verbranntem Gras lag der Flu?. Er entschlo? sich.»Haben Sie die Sprengladungen gelegt, Leutnant?»
Der Offizier nickte erleichtert.
«Gut. Dann ziehen Sie sich uber den Flu? zuruck, und sprengen Sie die Brucke.»
Plotzlich vernahm man das Klirren von Zaumzeug. Bolitho fuhr herum und erblickte den spanischen Oberst, der gelassen auf dem schmalen Weg dahintrabte. Hinter ihm ritten die Reste seiner Kavallerie. Ihre Kurasse und Helme blitzten wie Silber im Mundungsfeuer der Artillerie.
Geduckt rannte Bolitho zur Scheune zuruck.»Was tun Sie hier, Oberst?«rief er.»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen Ihre Leute zur Evakuierung vorbereiten!»
Vollig reglos sa? Don Joaquin Salgado im Sattel. Als er lachelte, glanzten seine Zahne wei? in der Dunkelheit.»Sie haben heute noch viel zu erledigen, capitano. Seien Sie so freundlich und trauen Sie mir zu, da? ich mein Handwerk ebensogut verstehe wie Sie das Ihre.»
«Hinter dieser Schutzenlinie ist nur noch offenes Gelande und der Feind, Oberst!»
Der Spanier nickte.»Eben. Und wie vorhin jemand mit Recht bemerkte, sind Sie alle verloren, wenn der Feind den sudlichen Arm der Bucht erreicht, ehe Sie die offene See gewonnen haben. «Er beugte sich etwas vor; der Sattel knirschte unter ihm.»Ich lasse meine Pferde nicht hier verkommen, capitano, und erschie?en werde ich sie auch nicht. Ich habe genug von dieser Art Kriegfuhrung!«Er richtete sich wieder auf und zog seinen gebogenen Sabel.»Viel Gluck, capitano!«Und ohne zuruckzublicken, gab er seinem
Pferd die Sporen und galoppierte auf die Barrikade zu. Seine Manner reagierten sofort. Brullend wie Irre jagten sie hinter ihm her; die fliegenden Hufe streiften fast die erschrockenen Soldaten bei der Barrikade. Mit blitzenden Sabeln schwarmten sie facherformig zur Attacke auf die feindliche Linie aus.
«Ruckzug, Leutnant!«brullte Bolitho.»Das ist unsere Chance! So ein Verruckter!«Die Soldaten sprangen hoch und zogen sich auf die Brucke zuruck. Bolitho starrte den attackierenden Reitern nach.»Und dieser Mann hat gesagt, ich sei tapfer!»
In der Dunkelheit horte er das Wiehern verwundeter Pferde, knatternde Schusse, und uber allem das scharfe Trompetensignal der Kavallerie. Endlich war das feindliche Sperrfeuer verstummt. Indessen war keine Zeit, stehenzubleiben und die Tapferkeit eines einzelnen zu bewundern. Jetzt nicht. Spater vielleicht. Bolitho ri? sich aus seinen Gedanken und rannte zu seinem Pferd.