VIII Passagier an Bord
Kapitan Hoggan von der Justice stand mit verschrankten Armen mitten in seiner unordentlichen Kajute und betrachtete Bolitho unverhohlen amusiert. Er war ein muskuloser Mann mit dickem, ungekammtem Haar; sein schwerer Rock, der fur den Nordatlantik besser geeignet gewesen ware, sah aus, als hatte er darin geschlafen.
«Wenn Sie dachten, ich hatte was dagegen, haben Sie sich getauscht. «Er deutete auf eine Schnapsflasche.»Mochten Sie ein Glas, bevor Sie gehen?»
Bolitho blickte sich in der Kajute um. Seekisten und Gepackstuk-ke aller Art turmten sich an den Wanden; es gab auch ein blankes Gestell mit Musketen und Pistolen. Wie kam ein ehrlicher Seemann dazu, so einen Posten anzunehmen? Ein Schiff zu befehligen, das sein Geld verdiente, indem es eine elende Menschenfracht nach der anderen transportierte? Wahrscheinlich enthielten diese Kisten die personliche Habe von Straflingen, die wahrend der Uberfahrt gestorben waren. Bei diesem Gedanken verging Bolitho der Durst.»Nein, Captain, ich trinke nicht«, erwiderte er kalt.
«Wie Sie wollen. «Die enge Kajute roch auf einmal nach Rum, denn Hoggan schenkte sich ein gro?es Glas randvoll.»Was ist schon dabei?«fragte er.»Auf Ihren Befehl bringe ich also dieses Mistpack nach Cozar. Was danach kommt, ist Pomfrets Problem. «Er kniff ein Auge zu.»Fur mich ist das eine kurze Reise — und dann ab nach Hause, zum selben Preis. Viel besser, als monatelang auf See zu liegen und dann in der Botany Bay!»
Trotz der dumpfen Hitze in der Kajute erschauerte Bolitho.»Schon. Sie werden also Anker lichten, sobald ich signalisiere. Richten Sie sich nach allen Anweisungen, die Sie von meinem Schiff bekommen, und halten Sie immer Ihre Station!»
Hoggans Miene wurde harter.»Meine Justice ist kein Kriegsschiff!»
«Sie steht jedenfalls unter meinem Befehl. «Bolitho versuchte, die Verachtung zu unterdrucken, die er fur diesen Mann empfand. Er blickte auf seine Taschenuhr.»Jetzt seien Sie so gut und lassen Sie die Gefangenen antreten. Ich will ihnen sagen, was geschieht.»
Hoggan schien protestieren zu wollen. Aber dann grinste er und murmelte:»Das ist ja die Hohe! Warum machen Sie sich diese Muhe mit den Kerls?»
«Tun Sie bitte, was ich sage!«befahl Bolitho mit abgewandtem Blick.»Die Leute haben wenigstens das Recht, zu erfahren, was aus ihnen wird.»
Hoggan stapfte hinaus; Minuten spater horte Bolitho drau?en Befehlsgebrull, dann stand Hoggan wieder in der Kajutentur und verbeugte sich ironisch.»Die Gentlemen sind bereit, Captain!«meldete er mit breitem Grinsen.»Ich mu? fur ihr rauhes Au?ere um Entschuldigung bitten, aber sie haben den Besuch eines Offiziers des Konigs nicht erwartet!»
Bolitho warf ihm nur einen kalten Blick zu und trat auf das windgepeitschte Deck hinaus. Schmale Wolkenfetzen jagten hoch oben uber die kreisenden Mastspitzen, und Bolitho merkte, da? der Wind immer mehr auffrischte.
Dann blickte er vom Hauptdeck hinunter in die dichtgedrangte Masse der zu ihm emporgerichteten Gesichter. Die Justice war nicht viel geraumiger als eine gro?e Fregatte, doch war ihr Rumpf, wie er wu?te, wesentlich tiefer; bei ihr kam es nicht auf Schnelligkeit an, sondern auf reichlichen Frachtraum. Und doch schien es unwahrscheinlich, da? alle diese zerlumpten, verzweifelten Manner die lange Reise nach Neu-Holland uberlebt hatten, denn das Schiff hatte au?er ihnen noch eine volle Mannschaft und entsprechende Vorrate an Bord. Er musterte die beiden Decksgange: anders als bei einem Kriegsschiff waren sie nicht nur nach au?en, sondern auch nach innen bestuckt; die gefahrlich aussehenden Drehbassen waren nicht nach See, sondern auf die unten versammelten Straflinge gerichtet. Sie waren ganz unterschiedlich gekleidet; vom feinen, aber verschmutzten Wollstoff bis zu stinkenden Gefangnislumpen war alles vorhanden; hier und da fiel ein ehemals farbenprachtiges Gewand auf und machte das Bild noch fremdartiger. Durch Habgier oder Ungluck entwurzelt, standen sie jetzt stumm auf dem schwankenden Deck. In ihrem Gesichtern waren alle moglichen Gefuhle von angstlicher Erwartung bis zur stumpfen Verzweiflung zu lesen.
Einige Wachtposten auf den Decksgangen trugen Peitschen, die sie geubt gegen ihre Stiefel schnippen lie?en, wahrend sie darauf warteten, da? Bolitho endlich seine Rede hielt und sich dann um seine eigenen Angelegenheiten kummerte.
Lernten die Menschen denn nie aus fruheren Ereignissen? fragte sich Bolitho. Sinnlose Brutalitat hatte mit vernunftiger Ordnung und Disziplin nichts zu tun. Erst vor einem knappen Jahr waren einige Meuterer der Bounty, die das Pech gehabt hatten, erwischt zu werden, in Portsmouth vor den Augen der ganzen Flotte an den Rahen gehenkt worden; und doch interessierten sich manche Leute mehr fur Bestrafung als fur die Frage, wie man Meutereien verhindern konnte.
«Ich werde euch nicht lange aufhalten. «Bolithos Stimme ubertonte ohne Anstrengung das Knarren der Spieren und Blocke.»Ich bin nicht hier, um euch zu richten oder zu verurteilen. Das haben bereits andere getan. Ich habe euch nur zu eroffnen, da? euer Transport nach Neu-Holland verschoben worden ist. Fur wie lange, das kann ich jetzt noch nicht sagen. «Nun horten alle mit hochster Spannung zu.»Dieses Schiff segelt im Geleitzug nach der Insel Cozar, die etwa sechshundert Meilen entfernt ist. Dort werdet ihr durch eure Arbeit einen Beitrag im Kampf gegen die Feinde unseres Vaterlandes leisten!»
Wie ein einziger Seufzer stieg es von den dichten Reihen hoch; und als Bolitho, verwundert uber diese Reaktion, Hoggan anblickte, sagte der gleichgultig:»Manche hatten Frauen und Kinder dabei. «Er deutete unbestimmt nach Lee.»Die sind schon mit dem Hauptkonvoi vorausgesegelt.»
Angewidert von Hoggans Gleichgultigkeit und entsetzt daruber, was seine Worte fur die Straflinge bedeuteten, starrte Bolitho hinunter. Er hatte daran denken mussen, da? Manner und Frauen auf verschiedenen Schiffen transportiert wurden — eine durchaus zweckma?ige Ma?nahme. Aber er hatte diese Menschen nur als gesichtslose Wesen gesehen; da? manche auch Familie hatten, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Und da tonte auch schon eine Stimme zu ihm empor:»Aber meine Frau, Sir! Was soll sie ohne mich anfangen?»
«Halt's Maul, du verrotztes Schwein!«brullte Hoggan.
Bolitho hob die Hand.»Ich will versuchen, darauf zu antworten, Captain. «Zu den Straflingen gewandt, fuhr er fort:»Der Krieg la?t uns in dieser Sache keine Wahl. Meine eigenen Manner haben seit vielen Monaten keinen Fu? an Land gesetzt, manche seit Jahren nicht. Auch sie haben Familien.»
Der Mann von unten rief dazwischen:»Aber meine Frau ist nicht in ihrer Heimat, sondern weit weg, irgendwo da drau-?en…«Unvermittelt schien der Armste den ganzen Schrecken des Begriffs Deportation zu erfassen.
Bolitho sprach weiter:»Ich werde fur euch tun, was ich kann. Wenn ihr gute Arbeit leistet und gehorcht, wird sich das bestimmt zu euren Gunsten auswirken. Strafnachla? oder Aufhebung des Urteils liegen durchaus im Bereich der Moglichkeiten. «Er wollte weg von diesem Elendsschiff, hatte aber nicht das Herz, ihnen einfach den Rucken zu drehen und sie ihrer Verzweiflung zu uberlassen.»Denkt immer daran: Wer oder was ihr auch sein mogt, Englander seid ihr alle und steht einem gemeinsamen Feind gegenuber.»
Er brach ab, denn Allday sagte leise:»Die Boote der Hyperion kommen zuruck, Captain. Mr. Rooke macht sich wohl Sorgen wegen dem Wind.»
Bolitho nickte und wandte sich an Hoggan.»Sie konnen klarmachen zum Ankerlichten. Wir segeln sofort. «Er sah noch, wie die Masse der emporgewandten Gesichter in kleine ratlose Gruppen auseinanderbrach, und fuhr eindringlich fort:»Versuchen Sie, ihnen das Leben nicht noch schwerer zu machen, Captain.»
Mit offenkundiger Feindseligkeit sah Hoggan ihn an.»Wollen Sie mir etwa Befehle erteilen, Sir?»
«Da Sie es so ausdrucken — ja!«Bolithos Augen wurden kalt und hart.»Und ich mache Sie personlich dafur verantwortlich. «Ohne ein weiteres Wort schritt er hinter Allday her.