Quarme stammelte:»Ich meinte doch nur. «Damit drehte er sich um und schritt zur Treppe. Die Manner machten ihm den Weg frei. Sie schamten sich fur ihn, und doch konnten sie die Blicke nicht von dem Unglucklichen losrei?en.

Bolitho schritt zur Achterdecksleiter und blieb dort eine Weile stehen, bis er Wut und Enttauschung uberwunden hatte und sich achselzuckend mit den Tatsachen abfand. Hatte Rooke nichts gesagt, hatte er Quarmes Insubordination ignorieren konnen. Hatte sich Quarme nur noch ein paar Sekunden zuruckgehalten, nur so lange, bis Inch sich gemeldet hatte, so ware nichts passiert. Aber tief im Innern wu?te er: nie wieder wurde er Quarme voll vertrauen konnen; Rookes Eingreifen spielte da gar keine Rolle. Quarme hatte Angst gehabt, und fruher oder spater mu?te er wieder Angst haben, und dann wurde diese Angst vielleicht nicht nur ihn, sondern andere das Leben kosten. Jeder Mensch hatte Angst, wenn er kein Idiot war, das wu?te Bolitho genau. Aber die Angst auch zu zeigen, war unverzeihlich.

Sabelklirrend stieg Leutnant Inch die Achterdecksleiter empor und drangte sich atemlos durch die Manner, die ihm schweigend entgegenblickten.»Melde mich zuruck, Sir!«Aufgeregt grinste er uber sein ganzes langes Gesicht.»Wir haben den Burgermeister von St. Clar mit an Bord.»

«Und die anderen Boote, Mr. Inch, was sollen die?«Bei dem bedeutungsschweren Ton dieser Frage wurde sich Inch der gespannten Atmosphare bewu?t. Er schluckte.»Ich habe die Wasserkahne gleich mitgebracht, Sir. Ich dachte, das spart Zeit.»

Reglos starrte Bolitho ihn an.»Spart Zeit… Hm. «Und er dachte an Quarme, der dort unten in seinem Privatgefangnis hockte. An Rooke und an all die anderen, die, zum Guten oder zum Schlechten, von ihm abhangig waren.

Unsicher nickte Inch.»Aye, Sir. Die Franzosen haben sich wirklich anstandig verhalten. «Erschrocken blickte er an sich herunter, denn etwas Langes, Dunkles war ihm unter dem Rock hervorgerutscht und Bolitho vor die Fu?e gefallen.

«Und was ist das, Mr. Inch?«fragte Bolitho. Die Spannung hielt ihn gepackt wie ein Schraubstock. Klaglich erwiderte Inch:»Ein Laib frisches Brot, Sir.»

Aus der Dunkelheit klang hilfloses Gelachter auf. Die Midship-men und Geschutzbedienungen fielen ein, obwohl die meisten kein Wort verstanden hatten. Aber es lag Erleichterung, Verzweiflung, Dankbarkeit darin — alles zugleich.

Langsam sagte Bolitho:»Schon, Mr. Inch. Sie haben heute Nacht gute Arbeit geleistet. «Noch spurte er, wie die nervose Spannung an seinen Worten wie an Geigensaiten zupfte.»Jetzt heben Sie Ihr Brot auf und gehen Sie an Ihren Dienst.»

Inch entfloh durch die Reihen der kichernden Matrosen, und Bo-litho fuhr fort:»Klar zum Ankerwerfen, Mr. Rooke. Wie der Funfte Offizier eben ganz richtig sagte, spart es Zeit.»

Er drehte sich auf dem Absatz um.»Weitergeben an lieutenant Charlois und seinen Burgermeister: ich empfange beide in meiner Kajute. «Erst als er unter der Kampanje unnotigerweise den Kopf einzog, fiel die gespannte Wachsamkeit von ihm ab. Jetzt konnte und wurde ihn nichts mehr uberraschen. Wasserubernahme in Schu?weite eines feindlichen Hafens, ein Laib frisches Brot auf den Planken des Achterdecks. Und ein Offizier, der nicht im feindlichen Feuer, sondern unter dem Druck seiner Zweifel zusammengebrochen war.

Er horte das Klappern der Blocke und das protestierende Schlagen der Segel: schwerfallig drehte sich das Schiff in den Wind, um vor Anker zu gehen. Unten wartete Allday schon, und auf dem Tisch stand ein volles Glas Brandy.

«Was starren Sie mich an, Allday?«Argerlich blickte er auf sein Spiegelbild im Heckfenster. Selbst im schwachen Licht der beiden Hangelampen erkannte er, wie erschopft, ja beinahe verstort er aussah.»Sind Sie gesund, Captain?«fragte Allday besorgt.

Mude sank Bolitho auf die Fensterbank und starrte seinen Degen an.»Diesmal ist es nicht das Fieber, Allday«, seufzte er.

Der Bootsfuhrer nickte.»Das kommt alles wieder klar, Captain.«Argerlich fuhr er herum, als drau?en vor der Tur Schritte erklangen.»Soll ich sie wegschicken?»

«Nein, Allday«, erwiderte Bolitho mit einem raschen Blick voller Zuneigung;»wenn alles wieder klarkommen soll, wie Sie prophezeien, dann mussen wir jetzt ein bi?chen was dafur tun.»

Flotten Schrittes trat Midshipman Piper in Bolithos Kajute, blieb aber stehen, als er seinen Kommandanten nachdenklich durch die gro?en Heckfenster starren sah.

«Mr. Rooke meldet mit Respekt, Sir, da? der Ausguck soeben Cozar in Lee voraus gesichtet hat. «Hoffnungsvoll glitten seine Augen zu einem unberuhrten Teller mit Essen, der auf dem Tisch stand.

Bolitho wandte sich nicht um.»Danke. «Halb im Selbstgesprach fuhr er fort:»Wenn alles klappt, laufen wir also in etwa drei Stunden ein.»

Uberrascht von diesem Vertrauensausbruch, nickte Piper gravitatisch.»Aye, Sir, Bramsegel und Royals ziehen gro?artig, da werden wir keine Schwierigkeiten haben.»

Bolitho wandte sich um und sah ihn blicklos an.»Sie konnen etwas fur mich tun, Mr. Piper. «Was der Junge eben gesagt hatte, war gar nicht bis in sein Bewu?tsein gedrungen.»Bestellen Sie Mr. Quarme, er soll sofort zu mir kommen.»

«Aye, aye, Sir. «Piper eilte hinweg und uberlegte sich, wie er diese vertrauliche Unterhaltung mit dem Kommandanten den weniger informierten Bewohnern des Midshipman-Logis schildern wurde.

Bolitho lie? sich wieder auf die Sitzbank fallen und starrte fast angeekelt auf das unberuhrte Mahl. Er hatte Hunger, gewi?, aber beim blo?en Gedanken an Essen wurde ihm regelrecht ubel. Merkwurdig, da? er, obwohl alles so planma?ig gelaufen war, weder Freude noch Befriedigung empfinden konnte. In der frischen nordwestlichen Brise pflugte das Schiff wie neubelebt durch die wei?-kopfige See, und selbst das harte Sonnenlicht war nicht mehr so drohend und gefahrverkundend. Alle Segel standen, alle Wanten und Stage summten wie die Saiten eines gut gestimmten Instruments; es war, als freue die Hyperion sich selbst uber ihre neue Vitalitat. Und noch anderes war an Bord zu horen, das ihm eigentlich sein Selbstvertrauen hatte zuruckgeben mussen: die Leute sangen oder tauschten Zurufe bei der Arbeit aus, denn sie hatten keine unmittelbaren Sorgen mehr — Trinkwasser war reichlich vorhanden, und Durst, der Schrecken des Matrosen, war nur noch eine fernliegende Drohung wie andere Mi?geschicke auch.

Bolitho starrte auf das schaumende Kielwasser und das Dutzend kreisender Mowen, die dem Schiff folgten, seit es von St. Clar ausgelaufen war. Sogar jetzt noch konnte er nur schwer glauben, was geschehen war: die geheimnisvollen Boote, die fremdartigen franzosischen Stimmen in der Dunkelheit; der aufgeregte Inch, das Gesprach mit lieutenant Charlois und dem Burgermeister von St. Clar. Letzterer war ein kleiner, ledergesichtiger Mann im Samtrock gewesen, lebhaft, mit raschen Gesten und entwaffnendem Lachen. Wahrend die Mannschaft eifrig die Trinkwasserbehalter an Bord hievte, hatte Burgermeister Labouret Charlois' Angaben vollauf bestatigt: Die Leute von St. Clar liebten die Englander nicht; aber sie kannten sie auch nicht. Die Revolution dagegen kannten sie und wu?ten, was in ihrem Namen bisher geschehen war und was noch geschehen wurde, wenn es so weiterging.

Bolitho hatte fast ohne Unterbrechung zugehort. Im Geist sah er die Revolution mit neuen Augen und empfand dabei das gleiche unbehagliche Gefuhl wie damals, als seine Manner an Bord der Fregatte Phalarope gemeutert hatten. Diese Meuterei hatte ihre Ursachen in den Handlungen anderer gehabt und war ausgebrochen trotz aller seiner Bemuhungen, sie zu verhindern und alte Fehler wieder gutzumachen. Doch als sie kam, war sie ebenso schnell und schrecklich, als hatte er sie selbst provoziert. Und als er den beiden Franzosen zuhorte, hatte er tiefes Mitgefuhl empfunden. Fur sie mochte St. dar der Mittelpunkt der Welt sein, aber er wu?te, da? ihre Sache bereits verloren war.