Emes griff nach dem Federkiel und starrte gedankenverloren auf die Logbuchseite nieder. Er hatte richtig gehandelt, er wu?te, da? er richtig gehandelt hatte. Nun mu?te er nur noch die anderen dazu bringen, das einzusehen. Fand der Alptraum denn niemals ein Ende? Wurde er wieder die Beschuldigungen und die Verachtung von Leuten ertragen mussen, die nie einen Schu? im Gefecht gehort hatten und die nichts ahnten von der Qual eines Kommandanten, der die schlimmste Entscheidung seines Lebens treffen mu?te? Die gleichen anonymen Besserwisser wurden ihn verdammen, ohne ihn uberhaupt gehort zu haben. Er hatte eine Bewahrungschance bekommen und keinen Finger geruhrt, als sein Admiral unterging. Das wurden sie ihm niemals verzeihen.
Er blickte sich in der Kajute um und erinnerte sich an den Tag, als Bolitho hier gewesen war. Wie war ihm wohl zumute, als er nach so langer Zeit wieder auf seinem alten Schiff stand? Aber wenn er Bolithos Anblick von damals je vergessen sollte, brauchte er nur seinen Ersten Offizier anzusehen. Pascoe wurde ihn das nicht ve rgessen lassen.
Wie gestochen begann Emes zu schreiben: Patrouille fortgesetzt, keine besonderen Vorkommnisse…
VII Ein Geheimnis
Einzeln oder in Gruppen, kampflustig oder halb betaubt, so stolperten die Uberlebenden der Styx den schrag ansteigenden Strand hinauf; mittlerweile war er von einem Kordon schwerbewaffneter
Soldaten abgesperrt worden.
All das vollzog sich in eisigem Schweigen. Die benommenen Seeleute lagen oder hockten auf dem nassen Sand und starrten nicht ihre Bewacher an, sondern hinaus aufs bewegte Wasser, das noch vor kurzem ihr Schiff getragen hatte. Andere wateten niedergeschlagen am Ufer auf und ab, suchten mit den Augen das Strandgut ab, musterten die treibenden Leichen, ob nicht doch noch ein verzweifelter Schwimmer unter ihnen war. Und uber allem kreisten gierig und ungeduldig die Mowen.
Etwas weiter strandabwarts nahmen sich einige Frauen der Verwundeten an, die sich aus dem Landungsboot hatten retten konnen, das Styx kurz vor ihrem eigenen Ende vernichtet hatte. Diese Handvoll Seeleute starrte finster zu der wachsenden Zahl britischer Uberlebender hinuber; trotz der Entfernung und der Soldatenkette wirkte ihr Ha? immer bedrohlicher.
Bolitho sah Boote auslaufen, meist kleine Fischkutter, die von der ortlichen Kommandantur hastig zur Suche nach Uberlebenden requiriert worden waren.
Neale bemuhte sich stohnend, auf die Fu?e zu kommen.»Wie viele sind gerettet?»
«Hundert, vielleicht auch mehr«, antwortete Allday.»Genau la?t es sich nicht sagen.»
Da sank Neale in den Sand zuruck und starrte blicklos zum blauen Himmel auf.»Mein Gott, weniger als die Halfte!»
«Und was kommt jetzt?«fragte Browne; irgendwie hatte er es geschafft, trotz allem seinen Hut zu retten.»Ich gestehe, da? mir diese Situation neu ist.»
Bolitho legte den Kopf zuruck und empfand dankbar den warmenden Sonnenschein auf Stirn und Augen. Die Schmerzen konnte er allerdings nicht lindern. Nun waren sie also Gefangene, irgendwo an der Kuste Frankreichs. Und schuld daran war sein eigenes torichtes Ungestum.
Brusk befahl er Browne:»Gehen Sie zu den anderen. Sie sollen antreten wie zum Appell. «Er sah ihren Schiffsarzt neben der ausgestreckten Gestalt eines verletzten Seemanns knien und war dankbar, da? wenigstens er uberlebt hatte. Sie wurden ihn wei? Gott noch brauchen, denn manche seiner Leute schienen in schlimmem Zustand zu sein. Die drei Midshipmen hatten alle uberlebt, ebenso der noch so junge Dritte Offizier; allerdings hatte er einen zerquetschten Arm und schien kaum bei Bewu?tsein. Au?erdem entdeckte Bolitho noch Bundy, den Master, auch den Bootsmann und zwei oder drei Seesoldaten. Aber die Achterdeckswache war fast ausnahmslos uber Bord gerissen worden, als der Besanmast heruntergekracht war. Neale hatte schon recht, es war weniger als die Halfte. Bolitho beschattete seine Augen und blickte wieder auf die See hinaus. Der Nebel war dichter geworden, und von den franzosischen Kriegsschiffen konnte er keine Spur mehr entdecken. Aber die Flotte der Landungsboote hatte sich wieder formiert und wurde ihre Fahrt nun bald fortsetzen. Diesmal wu?ten sie, da? sie vom Feind beobachtet wurden, und konnten sich gegen einen Uberraschungsangriff besser wappnen.
«Da kommen sie«, flusterte Allday ihm zu.
Der Kordon oben am Strand teilte sich und lie? drei franzosische Offiziere mit ihrer Eskorte durch; zielstrebig marschierten sie auf die verstreuten Seeleute zu.
Bolitho kannte die Uniform des voranschreitenden Offiziers: Er war ein Hauptmann der Artillerie, wahrscheinlich von einer Kustenbatterie in der Nahe.
Der Hauptmann erreichte die Gruppe der Midshipmen und musterte sie kalt.
Bolitho sagte:»Handigen Sie ihm Ihre Waffen aus und auch den Sabel des Dritten Offiziers.»
Wutend rammte Allday sein langes Entermesser in den Sand.»Ware das doch sein Bauch!«knirschte er dabei.
Auch Browne loste den Sabel von seiner Seite und buckte sich dann, um Neales Waffe von dessen Gurtel zu schnallen. Doch Neale schien zum erstenmal, seit man ihn ins Rettungsboot getragen hatte, seinen alten Kampfgeist und Mut wiederzufinden. Taumelnd kam er auf die Fu?e, tastete nach der Scheide und zog den
Sabel, wahrend die franzosischen Soldaten, von Neales uberraschender Gegenwehr uberrumpelt, verspatet ihre Pistolen und Musketen hoben.
Mit gebrochener, fast unkenntlicher Stimme rief Neale:»Zu mir, Leute! Schlie?t die Reihen! Schlagt die Enterer zuruck!»
Bolitho sah, da? der franzosische Hauptmann auf Neale anlegte, und trat schnell zwischen ihn und den Phantasierenden.
«Bitte, Capitaine. Der Mann spricht im Fieberwahn!»
Der Franzose blickte schnell zwischen Neale und Bolitho hin und her, musterte die furchterliche Kopfwunde des jungen Kommandanten und dann Bolithos Epauletten.
Das Schweigen war wie eine unsichtbare Mauer. Neale stand schwankend da und spahte halb blind zu seinen Mannern hinuber, die ihrerseits zuruckstarrten, mitleidig und peinlich beruhrt.
Es war ein kritischer Augenblick. Die franzosischen Soldaten waren monotonen Garnisonsdienst gewohnt und mochten sich von den britischen Seeleuten, deren Schiff so schnell gesunken war und sie praktisch auf den Strand gespien hatte, bedroht fuhlen. Nun mu?te nur einer der Gefangenen eine falsche Bewegung machen, dann wurden die Musketen losgehen und der Sand sich rot farben vom Blut der Gefangenen.
Bolitho kehrte der Pistole des Franzosen weiterhin den Rucken, aber der Schwei? rann ihm prickelnd zwischen den Schulterblattern herab, wahrend er auf den Schu?, auf den vernichtenden Einschlag im Ruckgrat wartete.
Ganz vorsichtig nahm er Neale den Sabel aus der Hand.»Immer mit der Ruhe«, sagte er.»Wir sind bei Ihnen, ich und Allday.»
Neale offnete die Faust und lie? den Arm sinken.»Tut mir leid.»
Endlich kapitulierte er vor dem Schmerz. Bolitho sah den Schiffsarzt hastig herbeieilen, wahrend Neale mit heiserer Stimme noch hinzufugte:»Hab' das verdammte Schiff geliebt. «Dann brach er zusammen.
Bolitho wandte sich um und reichte Neales Waffe an den nachststehenden Soldaten weiter. Dann bemerkte er den Blick des Offiziers, der auf seinem eigenen Sabel haftete, und loste ihn mit der
Scheide vom Gurtel. Nur kurz zogerte er, um die glatte, vielgetragene Form noch einmal durch die Finger gleiten zu lassen. Ein unruhmliches Ende, dachte er voll Bitterkeit. In wenigen Monaten ware die Waffe hundert Jahre in der Familie gewesen.
Neugierig beaugte der franzosische Hauptmann Scheide und Knauf und klemmte den Sabel dann unter den Arm.
Bolitho horte Allday neben sich murmeln:»Den hole ich Ihnen zuruck, Sir, warten Sie's nur ab.»
Oben am Strand waren inzwischen Pferdewagen angekommen, begleitet von noch mehr Soldaten. Ohne gro?e Umstande wurden die Verwundeten verladen, und zuletzt erhielt der Schiffsarzt den Befehl, aufzuspringen.