IX Der Preis der Freiheit
Herrick umklammerte die Querreling der Benbow und spahte scharf in den bei?enden, vom Sturm waagrecht gepeitschten Regen. Trotz seiner Gro?e nahm das 74-Kanonen-Schiff vorn und an der Luvreling so viel Wasser uber, als sei es schon auf der Fahrt zum Meeresgrund. Selbst Herrick mit seiner in harten Jahren erworbenen Erfahrung hatte mittlerweile jedes Zeitgefuhl verloren; kaum da? er sich noch an die Befehle erinnern konnte, mit denen er das Wuten des Sturms uberschrien hatte.
Wolfe stolperte uber die nassen Decksplanken und fluchte laut, bis er endlich seinen Kommandanten an der Reling erreicht hatte.
«Jetzt mu? es bald soweit sein, Sir!«Wolfes rauhe Stimme klang klaglich im Heulen des Sturms und Donnern der See.
Herrick wischte sich ubers tropfnasse Gesicht. Seine Haut brannte wie Feuer. Au?erdem spurte er allmahlich einen Zorn in sich wachsen, der gut zu diesem Unwetter pa?te. Von Anfang an, seit sie Plymouth verlassen hatten, war ein Ungluck nach dem anderen uber seinen kleinen, aber wertvollen Geleitzug hereingebrochen. Zuerst hatte das andere 74er Linienschiff, die Nicator, zwei Mann verloren; gleich am ersten Tag waren sie uber Bord gegangen, und obwohl Herrick ihren Kommandanten, Kapitan Valentine Keen, mochte und respektierte, hatte er ihn doch verwunscht, als er muhsam versuchte, das Geleit trotz allem zusammenzuhalten: funf Handelsschiffe, bewacht von zwei 74ern und einer einsamen Fregatte. Herrick fand sich verbittert damit ab, da? er bei Tagesanbruch wahrscheinlich nur zwei davon in Sichtweite haben wurde. Der Sturm war aus Osten mit der Plotzlichkeit eines Hurrikans uber sie hergefallen, hatte ihre beschrankte Welt in ein
Inferno aus Gischt und Spritzwasser verwandelt und die Mannschaften so zermurbt, da? Herrick schlie?lich nachgeben und Befehl zum Beidrehen erteilen mu?te; sie lie?en sich treiben und hofften das Beste.
Wieder spurte er, wie sich Benbow unter seinen Fu?en uberlegte; das stark gereffte Gro?segel und seine Rah stohnten unter der Anstrengung, mit der das Schiff sich zu behaupten versuchte, unterstutzt dabei von Mannern, die jedesmal, wenn sie in die Toppen befohlen wurden, mit dem sicheren Tod rechneten.
Herrick fragte, ob Wolfe es mi?billigte, da? er noch immer keinen Flaggkapitan ernannt hatte. Der fragliche Offizier war durch einen Radbruch seiner Kutsche auf dem Weg nach Plymouth aufgehalten worden, und Herrick hatte beschlossen, nicht auf ihn zu warten. Er war so bald wie moglich ausgelaufen. Aber warum? Drangte es ihn, Gibraltar zu erreichen und die lastigen Handelsschiffe endlich loszuwerden? Oder hatte er seine vorlaufige Ernennung zum Kommodore innerlich immer noch nicht akzeptiert,
wollte er die Bestatigung aus irgendeinem Grund hinausschieben, den er selbst nicht kannte?
Er rief:»Der Master behauptet, da? wir etwa funfundzwanzig Meilen vor der franzosischen Kuste stehen. «Er duckte sich vor einem Spritzwassergu?.»Aber wei? der Himmel, woraus der alte Grubb das schlie?t!»
Wolfe schnappte nach Luft, als eine Wand grunen Wassers durch die Webeleinen brach und sich uber die ohnehin schon pitschnassen Wachganger und Ausguckposten ergo?.
«Keine Sorge, Sir, wir werden die anderen schon wiederfinden, wenn der Wind nachla?t!»
Herrick zog sich an der Reling weiter. Falls der Wind nachlie?. Man hatte ihm nur eine Fregatte, die Ganymede, mitgegeben, mehr konnte der Admiral nicht erubrigen. Herrick fluchte in sich hinein: Es war immer wieder dieselbe Chose. Das kleine, nur mit 26 Kanonen bestuckte Schiff hatte noch dazu ein jammerliches Debut gegeben: Der Sturm wutete kaum eine Viertelstunde, und schon hatte sie ihre Gro?bramstenge verloren. Herrick hatte sie danach angewiesen, sich dichter unter Land zu halten. Dort war sie etwas geschutzter und konnte eine Notstenge aufriggen, ehe der Sturm noch gro?eren Schaden bei ihr anrichtete.
Kurz danach hatte Herrick kein einziges Signal mehr absetzen konnen; der immer noch wachsende Sturm und der fruhe Einbruch der Dunkelheit machten das unmoglich.
Wolfe hangelte sich neben ihn.»Der Master bleibt dabei, da? der Wind bis zum Vormittag ruckdrehen wird, Sir!«Mit einem schragen Blick musterte er seinen dickkopfigen Kommandanten.» Ganymede wird sich freikreuzen mussen, wenn er noch weiter dreht.»
Herrick fuhr herum.»Zum Teufel, Mr. Wolfe, das wei? ich!«Er nahm sich zusammen.»Der Konvoi ist zwar zerstreut, aber John Companys[13] Duchess of Cornwall kann sehr wohl selbst auf sich aufpassen, sie ist wahrscheinlich besser bemannt als unsere Ben-bow und mit Sicherheit ebensogut bestuckt.»
Er dachte an Belinda Laidlaw, die auf dem machtigen Ostindienfahrer segelte und dort relativ sicher war; so sicher jedenfalls, wie man bei einem Sommerorkan in der Biskaya, dicht unter einer feindlichen Kuste, sein konnte.
Dulcie hatte ihr eine tuchtige Zofe fur die Uberfahrt besorgt, also war sie nicht allein. Trotzdem machte Herrick sich Sorgen. Frauen gehorten nicht auf die See, nicht einmal als Passagiere.
«Wenn ich nur wu?te. «begann er, unterbrach sich aber, ve rar-gert daruber, da? er seine gro?te Sorge beinahe laut ausgesprochen hatte: Richard Bolitho, vielleicht noch am Leben, mochte irgendwo in der Dunkelheit dort druben in einem stinkenden franzosischen Verlies schmachten. Ober verlassen und sterbenskrank in einer einsamen Fischerhutte liegen.
Wenn er ehrlich war, mu?te Herrick sich eingestehen, da? dies der wahre Grund dafur war, weshalb er Plymouth so hastig und ohne Flaggkapitan verlassen hatte. Er wollte die Reise nach Gibraltar und zuruck schnellstens hinter sich bringen. Seit der Verlustmeldung von Styx waren keine Neuigkeiten mehr durchgekommen, nicht einmal Geruchte uber das Schicksal ihrer Besatzung. Vielleicht waren tatsachlich alle tot.
Eine See donnerte aufs Batteriedeck und brach sich an den festgezurrten Achtzehnpfundern wie an einer Reihe dunkler Felsen.
Vor Herricks geistigem Auge stand Bolithos Gestalt so klar da, als wettere er und nicht Wolfe diesen Sturm mit ihm ab.
Kurzangebunden sagte er:»Ich gehe nach unten, Mr. Wolfe. Aber rufen Sie mich sofort, wenn Sie mich brauchen.»
«Aye, Sir«, sagte Wolfe und sah Herrick kopfschuttelnd nach. Wenn der Verlust eines Freundes einen Mann so zerrutten konnte, dann verzichtete er lieber auf Freunde.
Er sah, da? sich der Wachoffizier unterhalb der Poop ubergab und dabei vom abflie?enden Spritzwasser wie ein Ertrinkender gebeutelt wurde. Gellend rief er:»Mr. Nash — Sir! Kummern Sie sich freundlicherweise um Ihre Pflichten! Zum Henker mit Ihnen, Sir! Sie sind so fehl am Platz wie eine Hure im Beichtstuhl!»
Der ungluckselige Leutnant verschwand unter der Poop, um den Rudergangern am Doppelrad beizustehen; wahrscheinlich furchtete er Wolfes Zorn mehr als die Seetollheit.
In der gro?en Kapitanskajute drangen das Jaulen des Sturms und das Donnern der See nur gedampft durch die dicken Planken. Herrick lie? sich auf einen Stuhl fallen, und sofort sammelte sich auf der schwarz-wei? gewurfelten Bespannung unter ihm eine Wasserpfutze.
Er horte seinen Steward in der Pantry hantieren und wurde sich seines leeren Magens bewu?t. Seit Mittag des vorangegangenen Tages hatte er nichts zu sich genommen. Jetzt war er hungrig und durstig.
Aber nicht sein eigener Steward, sondern der schmachtige Oz-zard brachte ihm den Imbi?. Vorsichtig stellte er das Tablett neben Herricks Ellbogen und duckte sich wie ein angstliches Tierchen, als das Deck wieder in ein Wellental sackte.
Herrick musterte ihn duster. Wie hatte er Ozzard trosten konnen, wenn er selbst Bolithos Verlust immer noch so schmerzhaft spurte wie eine offene Wunde? Er nahm einen Schluck Brandy und wartete darauf, da? er ihm Taubheit und Salzgeschmack aus der Kehle brannte.
13
Spitzname fur die Ostindische Handelskompanie Englands