Noch als er nach seinem Hut griff, hallte der erste Salutschu? uber den Hafen und scheuchte die dosenden Vogel vom Wasser auf, die kreischend durcheinanderflatterten, wie um den Neuankommling dafur zu beschimpfen, da? er ihre Ruhe storte. Auf dem Achterdeck war es trotz des ausgespannten Sonnensegels hei? wie in einem Backofen. Der Flaggkapitan legte die Hand an seinen Hut und versuchte, die Stimmung seines Vorgesetzten zu ergrunden. Er meldete: «Tempest, sechsunddrei?ig Geschutze, Kommandant Fregattenkapitan Richard Bolitho. «Geschutz um Geschutz feuerte weiter Salut; der dunkle Qualm sank auf das Wasser hinab, als ob er eine schwere Masse ware.
Der Kommodore legte die Hande auf dem Rucken zusammen.
«Signalisieren Sie, sobald sie Anker geworfen hat: Kommandant zu mir an Bord!»
Der Flaggkapitan unterdruckte ein Lacheln. Die Laune war also gut. Er hatte schon erlebt, da? er mitten in die letzten Manover anderer Schiffe ein Dutzend Signale hatte geben mussen; als ob der Kommodore Vergnugen an der Verwirrung fande, die er damit stiftete. Dies mu? ein Sonderfall sein, dachte er.
Mit Marssegeln, die noch unter dem fur einen Kommodore vorgeschriebenen Salut von elf Schussen vibrierten, setzte Seiner Britannischen Majestat Fregatte Tempest ihre langsame Fahrt durch den Hafen fort. Die Wasseroberflache glei?te so grell, da? es schmerzhaft war, uber Takelage oder Gangway[2] hinauszusehen.
Richard Bolitho stand an der Reling des Achterdecks, die Hande lose auf dem Rucken zusammengelegt, und versuchte, trotz der ublichen Spannung beim Anlaufen eines unbekannten Ankergrunds gelassen zu erscheinen. Wie still es war. Er musterte sein Schiff und fragte sich, wie wohl der Kommodore es beurteilen wurde. Er hatte das Kommando uber die Tempest vor zwei Jahren in Bombay ubernommen, als sie von der Marine in Dienst gestellt worden war.
Beim Gedanken an dieses Datum lachelte er, und sein ernstes Gesicht wirkte dadurch jugendlicher. Wie heute, war auch damals sein Geburtstag gewesen. Denn an diesem 7. Oktober 1789, der ihm ein weiteres Einlaufen unter vielen, langst vergessenen brachte, wurde Richard Bolitho aus Falmouth im County Cornwall dreiunddrei?ig Jahre alt. Schnell warf er einen Blick zur anderen Seite hinuber, wo Thomas Herrick, der Erste Offizier der Tempest und sein bester Freund, mit einer Hand die Augen beschattend, die Stellung der Rahen und die perspektivisch verkurzten, halbnackten Seeleute im Topp kontrollierte. Er fragte sich, ob Herrick an seinen Geburtstag denken wurde. Hoffentlich nicht. In diesen Gewassern, wo Woche auf Woche feindseliges Klima und hartnackige Windstillen einander folgten, war man sich der Verganglichkeit der Zeit nur zu bewu?t.
«Noch funf Minuten, Sir.«»Gut, Mr. Lakey.»
Bolitho brauchte sich nicht umzusehen. In den zwei Jahren seines Kommandos auf der Tempest hatte er die Stimmen und das Temperament aller langer unter ihm Dienenden kennengelernt. Tobias Lakey war der hagere, schweigsame Steuermann, geboren und aufgewachsen auf den rauhen Scilly-Inseln, die seiner eigenen Heimat Cornwall vorgelagert waren. Im Alter von acht Jahren war Lakey zur See gegangen; jetzt war er etwa vierzig. Nach all diesen Jahren auf Schiffen jedes Typs, vom Fischerboot bis zum Linienschiff, hatte die See ihm nur noch wenig Neues beizubringen.
Bolitho versuchte, sich an die anderen Gesichter zu erinnern, die in den zwei Jahren von Bord verschwunden waren: durch Tod oder Verletzung, Krankheit oder Desertation; die Manner waren gekommen und gegangen wie die Gezeiten. Die jetzige Besatzung der Tempest glich der anderer Schiffe, die nie einen britischen Hafen angelaufen hatten, und war so vielfaltig wie die Kusten, die sie auf ihren Reisen sahen. Manche darunter waren Manner, die bei der Marine wirklich ihren Beruf gesucht hatten. Meist hatten sie auf Schiffen in England angeheuert und waren dann auf ein beliebiges anderes versetzt worden. Besser als die meisten anderen kannten sie die Verhaltnisse in England, wo die sechs Jahre seit dem Krieg in manchem schlimmer gewesen waren als das Leben an Bord. Unter einem fairen Kommandanten und mit einer gro?en Portion Gluck konnten sie ihren Weg machen. In ihrer Heimat dagegen, fur die viele so lange und hart gekampft hatten, gab es kaum Arbeit, und die Hafen waren nur zu oft von. Kriegsversehrten und menschlichem Strandgut uberfullt.
Aber im ubrigen war die Besatzung der Tempest ein Schmelztiegel, der Franzosen und Danen, mehrere Neger, einen Amerikaner und viele andere vereinte. Wahrend Bolitho die Manner an Brassen und Fallen musterte, die Bootsbesatzung, die darauf wartete, seine Gig zu Wasser zu lassen, die Reihe der schwitzenden Marinesoldaten, die auf dem Huttendeck eingetreten waren, sagte er sich, da? er zufrieden sein sollte. Ware er in England gewesen, hatte er sich gegramt und bemuht, wieder auf See zu kommen, ein neues Schiff zu erhalten, irgendein Schiff. So war die Situation nach dem Krieg gewesen. Seither hatte er bereits zwei Kommandos innegehabt, eine Korvette und seine geliebte Fregatte Phalarope. Als ihm die Undine uberantwortet und er nach Madras am anderen Ende der Welt geschickt worden war, empfand er Dankbarkeit, da? ihm das Schicksal der vielen Kapitane erspart blieb, die sich taglich in den Gangen der Admiralitat drangten oder in den Cafes warteten, in der Hoffnung auf eben die Chance, die er bekommen hatte. Das lag funf Jahre zuruck; von einem kurzen Besuch in England abgesehen, war er seitdem den heimischen Gewassern fern geblieben. Als er das Kommando uber die Tempest erhielt, hatte er erwartet, zum Befehlsempfang nach England gerufen zu werden. Vielleicht wurde er nach Westindien geschickt, zur Kanalflotte oder in die Gebiete, um die man sich mit Spanien stritt?
Wieder blickte er zu Herrick hinuber und uberlegte. Herrick au?erte seine Ansichten jetzt kaum noch, obwohl er sie einmal deutlich genug ausgesprochen hatte. Bis auf seinen Bootsfuhrer John Allday kannte Bolitho sonst niemanden, der es wagte, durch offene Worte seinen Zorn herauszufordern.
Alte Erinnerungen wurden wach, als die Tempest vor zwei Monaten in Madras geankert hatte. Wahrend seine Bootsmannschaft sich verzweifelt bemuhte, ihren Kommandanten durch die wilde Brandung zu rudern, ohne da? er bis auf die Haut durchna?t wurde, hatte er sich an seinen ersten Besuch erinnert. Damals hatte er Viola Raymond, die Frau des Beraters der Britischen Regierung bei der Hast India Company, als Passagier an Bord gehabt.[3] Herrick hatte ihn damals offen vor den Gefahren einer Affare gewarnt, vor dem Risiko fur seinen guten Namen und seine Karriere in einem Beruf, den er liebte. Automatisch tastete er nach der Uhr in seiner Tasche: Viola hatte sie ihm als Ersatz fur jene geschenkt, die in einem Gefecht zerschossen worden war. Wo mochte Viola jetzt sein?
Bei seinem kurzen Aufenthalt in England war er auch nach London gefahren. Zwar hatte er sich gesagt, er wolle nicht wirklich versuchen, sie wiederzusehen, wolle nur an ihrem Haus vorbeigehen und sehen, wo sie lebte. Doch er hatte genau gewu?t, da? das Selbstbetrug war. Dabei hatte er sich ebensogut mit der Erinnerung begnugen konnen. Denn das Haus war, von der Dienerschaft abgesehen, leer. James Raymond und seine Frau weilten im Auftrag der Regierung im Ausland, wie ihm Raymonds Hauswart, abweisend bis zur Beleidigung, verkundete. An Bord mochte ein Kommandant zwar gleich nach Gott kommen, doch in den Stra?en von St. James hatte er gar keine Bedeutung. Bolitho horte Herrick rufen:»Klar zum Ankern, Mr. Jury?«Jury, der Bootsmann mit der breiten Brust, brauchte keinen Hinweis auf seine Pflichten bei den Ankergasten; folglich mu?te Herrick Bolithos Stimmung erraten haben und versuchte nun, ihn herauszurei?en.
Bolitho lachelte wehmutig. Herrick kannte er schon, seit er das Kommando der Phalarope ubernommen hatte, und seither waren sie selten getrennt gewesen. Herrick hatte sich nicht sehr verandert. Vielleicht war er nun etwas breiter, aber das runde, offene Gesicht mit diesen leuchtend blauen Augen, die so vieles mit ihm gemeinsam gesehen hatten, war sich gleichgeblieben. Wenn, wie Bolitho jetzt vermutete, seine kurze Affare mit Viola Raymond hoheren Orts aufgefallen war, dann mu?te auch Herrick darunter leiden, und das ohne jeden Grund. Dieser Gedanke wurmte Bolitho und stimmte ihn traurig. Vielleicht wurde der Kommodore etwas Licht in die Dinge bringen. Aber diesmal wollte er nicht hoffen; er wagte es nicht. Bolitho dachte an seine Depeschen, an die zusatzlichen Nachrichten, die er Kommodore James Sayer uberbrachte. An Sayer erinnerte er sich gut, er war ihm ein- oder zweimal in Cornwall begegnet. Vorher hatten sie im selben Geschwader in Amerika gedient, beide als Leutnants. Wahrend der letzte Salutschu? noch in der Luft widerhallte, glitt die Tempest die letzte halbe Kabellange[4] zu ihrem Ankerplatz.