XV Eine Quelle der Kraft

Zwei Nachte, nachdem Bolitho die letzten Reste Wein und Wasser ausgegeben hatte, fiel ein Sturm mit solcher Wildheit uber sie her, da? sie glaubten, nun ware alles zu Ende. Er traf den Kutter kurz nach Anbruch der Nacht und verwandelte die See zu einem Aufruhr wahnwitziger, schaumender Wellen mit Brechern, die gewaltig genug waren, um nahezu alles zu uberschwemmen. Stunde um Stunde wurden sie im wirbelnden Wasser hin-und hergeworfen, kampften sie darum, das Boot vor dem Umschlagen zu bewahren. Millers Segel wurde samt Rigg in die gischterfullte Finsternis gerissen, und loses Zeug, Kleidungsstucke und ein Riemen folgten bald. Es war ein rasender, unnachgiebiger Kampf um das Uberleben. Keine Befehle wurden gegeben, und keine wurden erwartet. Die erschopften, zerschlagenen Manner schopften Wasser oder sa?en an den Riemen, von spruhendem Wasser geblendet, fast taub vom Drohnen der brechenden Wellen und dem jubilierenden Heulen des

Windes.

Und dann, als Bolitho ein leichtes Nachlassen in der Gewalt des Sturmes wahrnahm, kam der Regen. Langsam zuerst schlugen ihnen die schweren Tropfen wie Hagelkorner auf Kopfe und Korper, doch dann mit lautem Zischen, und schienen allein durch ihr Gewicht den hohen Wellengang zu dampfen.

Heiser schrie er:»Schnell, Leute! Auffangen!»

Mit Stoffetzen, Bechern, allem, was ihnen zur Verfugung stand, versuchten sie, in dem vom Meerwasser

uberschwemmten Boot das kostbare Na? aufzufangen. Die

Kranken und Verletzten und die Handvoll Manner an den

Riemen hielten ihre Gesichter in den Gu?, die Augen fest zugepre?t, die Munder weit geoffnet, um das aufzunehmen,

was ihnen wie ein Wunder erscheinen mu?te.

Bolitho wischte sich das Wasser aus Gesicht und Haar und wandte sich an Viola:»Dein Gebet ist erhort worden, Viola.

Siehst du!»

Blindlings tasteten sie nacheinander, ergriffen sich bei den

Handen, dankbar fur den niederrauschenden Regen.

Wenn er nur fruher gekommen ware und ihnen den letzten qualvollen Tag erspart hatte. Sie hatten die letzten

Kokosnusse verteilt und versucht, jeden Tropfen

Feuchtigkeit aus dem Fruchtfleisch zu saugen.

Am Nachmittag, als das Boot quer zum Seegang dahintrieb,

wurden sie durch einen wilden Aufschrei von Penneck aus ihrem benommenen Zustand gerissen.

«Wasser! Um Gottes willen, Wasser!»

Und noch ehe jemand sich bewegen konnte, hatte er sich am

Dollbord hochgezogen und war um sich schlagend und laut schreiend ins Meer gesturzt, wahrend das Boot schnell von ihm abtrieb.

Woher er dazu die Kraft gefunden hatte, war Bolitho unerklarlich, aber er hatte die Pinne herumgerissen und die Ruderer aus ihrer Lethargie aufgestort. Orlando hatte sich im Bug aufgerichtet und war kopfuber ins Wasser gesprungen.

Penneck war ohne Rucksicht auf seine Verletzung hastig ins Boot zuruckgezerrt worden. Doch seine von wahnsinnigem

Durst verursachte Tat hatte weit mehr als nur Kraft und Zeit gekostet. Denn als Orlando den tobenden Penneck schwimmend zum Boot schleppte, hatte der Hai mit der Wucht eines Rammbocks zugeschlagen. Hilflos hatten sie zusehen mussen, wie sich das Wasser um Orlando plotzlich rot farbte, hatten Orlandos schmerzverzerrtes Gesicht gesehen, seinen in einem unhorbaren Aufschrei aufgerissenen Mund. Dann war er hinabgezogen worden, noch als Blisset eine Kugel auf die verraterische Finne abfeuerte.

Allday rief:»Der Wind la?t nach, Captain. «Wie alle anderen war er vollig durchna?t, und das Haar klebte ihm an der Stirn, das Hemd wie eine zweite Haut am Korper.»Ja.»

Bolitho erwachte widerwillig aus seinen Gedanken. Penneck lag auf dem Boden des Bootes. Sie hatten ihm die Arme gefesselt, aber er zuckte unkontrolliert mit den Beinen, sah keuchend zu den Wolken auf und war schutzlos dem Regen ausgesetzt.

Orlando war fort, fast so gegangen, wie er damals zu ihnen gekommen war. Von der See her und wieder zu ihr zuruck. Niemand hatte mehr uber ihn erfahren als damals, als sie ihn gerettet hatten. Nur da? er dankbar war, bei ihnen sein zu durfen.

Treffend hatte sein Freund Jenner gesagt:»Wenigstens ist der arme Teufel glucklich gewesen, solange er bei uns war,

Sir. Er ist vor Stolz fast geplatzt, als er den Posten als Diener bei Ihnen bekam. Gott segne ihn.»

Unwillkurlich sagte Bolitho laut:»Ja, Gott segne ihn.»

Allday blickte uberrascht auf.»Captain?»

«Ich habe nur laut gedacht. Einen weiteren Namen auf meine Liste gesetzt.»

Als die Morgendammerung mit atemberaubender Plotzlichkeit anbrach, war es, als ob sich uber Nacht wenig geandert hatte. Die Wolken waren verschwunden, die See wogte unverandert in gleichma?iger Dunung. Als die Sonne aufstieg und ihre Strahlen das Boot erfa?ten, dampften das Holz und die Insassen, als ob sie gleich in Flammen aufgehen wurden. Sie sahen sich in ihrer winzigen Welt um, betrachteten einander prufend, suchten nach Zeichen neuer Hoffnung oder des Gegenteils.

Sie hatten uber zehn Gallonen Regenwasser aufgefangen, und noch war fur jene, die ihn am notigsten hatten, ein kleiner Rest Rum vorhanden. Die Nahrungsmittel waren verbraucht, und wenn Blissett nicht wieder einen Vogel erlegen konnte, wurde sich ihre Situation schnell verschlimmern.

Die einzig bemerkenswerte Veranderung gegenuber gestern war, da? der Hai sie nicht mehr verfolgte. Auch das war merkwurdig und lie? manchem einen kalten Schauer uber den Rucken laufen. Es war, als hatte er darauf gewartet, Orlando in den Ozean zuruckzuholen, dem er nur fur eine kurze Weile vorbehalten geblieben war. Wahrend einer ihrer kurzen Ruhepausen kam Keen zu Bolitho. Der Leutnant wirkte kraftiger als die meisten anderen, obwohl seine Arme von der Sonne verbrannt und durch vom Salzwasser verursachte Entzundungen fleckig waren.

«Wir haben den Kompa? gerettet, Sir.»

Bolitho erwiderte mit gedampfter Stimme:»Haben Sie das

Treibholz bemerkt?»

Keen schutzte seine Augen gegen den glei?enden Horizont. In kleinen Brocken wurde dem Boot Treibgut entgegengeschwemmt, das sich in dem grellen Licht schwarz vom Wasser abhob. Auch Vogel waren zu sehen, aber zu weit entfernt selbst fur einen glucklichen Schu?. Mit unglaubigem Gesicht sah Keen ihn an.»Land, Sir?«Bolitho wollte es fur sich behalten fur den Fall, da? er sich irrte. Er sah sich im Boot um und wu?te, da? sie einen weiteren Tag nicht uberstehen wurden. Bei einer guten Nachricht mochten sie durchhalten. Er nickte.»In der Nahe. Ja, das glaube ich. «Viola stand auf und legte eine Hand Bolitho auf die Schulter, die andere Keen. Sie sagte nichts, sondern blickte unver-wandt zum Horizont. Ihr Haar hob und senkte sich uber Bolithos Uniformrock.

Bolitho blickte sie an, liebte sie, war fasziniert von ihrer inneren Kraft. Trotz der Sonne und allem, was sie ertragen hatte, wirkte sie neben Keen und den anderen bla?. Seit sie die Insel verlassen hatten, hatte er nur einmal gesehen, da? sie ihre Haltung verlor, und das war gewesen, als Orlando ums Leben kam.

«Er konnte nicht sprechen«, hatte sie geklagt.»Er konnte nicht einmal schreien, und trotzdem glaube ich, mich an seine Stimme zu erinnern.»

Dann hatte sie nichts mehr gesagt, bis der Sturm uber sie hereinbrach.

Jetzt sahen alle Bolitho an. Selbst Penneck war verstummt. Der Marinesoldat Billyboy sa? mit Pyper zusammen an einem Riemen, sein verletztes Bein stutzte er mit einer Muskete. Der andere Verwundete, der Matrose Colter, war durch seine Ration Wasser so weit gestarkt, da? er helfen konnte, sich um Penneck und den anderen Verwundeten, Robinson, der in sehr schlechter Verfassung war, zu kummern. Doch auch sie waren nicht zu krank, um nicht zu spuren, da? etwas bevorstand.

Bolitho sagte:»Ich glaube, wir sind in der Nahe von Land. Ich bin nicht sicher, da? es die Insel Rutara ist, denn nach dem Sturm und bei dieser Abdrift, und da wir nicht einmal einen Sextanten haben, tappen wir so gut wie im dunkeln. Doch was fur eine Insel es auch sein mag, wir werden dort landen und uns Lebensmittel verschaffen. Nach dem, was wir gemeinsam erlitten haben, gehort wohl mehr als Feindseligkeit dazu, um uns zu vertreiben. «Big Tom Frazer, die Augen vor Erschopfung gerotet, stand auf und brullte laut:»Ein Hurra fur den Kap'n, Jungs. Hurra!»