Unter anderen Umstanden ware auch die Kieler Nachricht auf diese Weise digitalisiert worden, um auf Gerhard Bohrmanns Laptop als E-Mail zu erscheinen. Aber die herrschenden Umstande hatten Bohrmanns Verbindung ebenso abrei?en lassen wie die Millionen weiterer Menschen. Eine Woche nach der Katastrophe in Nordeuropa lagen die transatlantischen Internet— und E-Mail-Verbindungen fast vollstandig lahm, und telefonische Kontakte kamen — wenn uberhaupt — nur via Satellit zustande.
Bohrmann sa? in der gro?en Halle des Hotels und starrte auf den Bildschirm. Er wusste, dass Suess ihm ein Dokument hatte schicken wollen. Es enthielt Wachstumskurven von Wurmpopulationen und Hochrechnungen, was bei vergleichbarem Befall in anderen Regionen der Welt geschehen konnte. Seit der erste Schock uberwunden war, arbeiteten sie in Kiel wie die Besessenen daran.
Er fluchte. Die angeblich so kleine Welt war wieder gro? geworden, voller unuberbruckbarer Raume. Am Morgen hatte es gehei?en, E-Mails konnten im Verlauf des Tages uber Satellit empfangen werden, aber noch lie? nichts darauf schlie?en. Wie es aussah, waren sie immer noch an das zerstorte Kabel gefesselt. Bohrmann wusste, dass die Krisenstabe in fieberhafter Eile mit dem Aufbau autarker Netze befasst waren, aber das Internet brach trotzdem immer wieder zusammen. Er vermutete, dass es weniger an technischen Mangeln als an den Kapazitaten lag. Die militarischen Satelliten arbeiteten zwar einwandfrei, aber nicht einmal die amerikanische Armee war jemals davon ausgegangen, die komplette transatlantische Glasfaserbrucke durch Satelliten kompensieren zu mussen.
Er griff nach dem mobilen Telefon, das ihm der Stab zur Verfugung gestellt hatte, wahlte sich uber Satellit nach Kiel ein und wartete. Nach mehreren Anlaufen hatte er endlich das Institut in der Leitung und lie? sich mit Suess verbinden. »Nichts ist angekommen«, sagte er.
»Einen Versuch war’s wert.« Suess’ Stimme drang klar an sein Ohr, dennoch irritierte Bohrmann die Verzogerung, mit der er antwortete. An Satellitentelefonate konnte er sich einfach nicht gewohnen. Das Signal musste vom Sender rund 36000 Kilometer auf— und die gleiche Strecke zum Empfanger absteigen. Man telefonierte mit Pausen und Uberlappungen. »Bei uns geht auch nichts mehr. Es wird stundlich schlimmer. Nach Norwegen kommst du nicht mehr durch, Schottland ist mucksmauschenstill, Danemark existiert nur noch auf der Landkarte. Und glaub nicht, dass irgendwelche Notfallplane greifen.«
»Wir telefonieren doch auch«, sagte Bohrmann.
»Wir telefonieren, weil die Amerikaner es so eingerichtet haben. Du nutzt die militarischen Vorzuge einer Gro?macht. In Europa — vergiss es! Alle wollen telefonieren, alle haben Angst, weil sie nicht wissen, was mit ihren Angehorigen und Freunden ist. Wir haben einen Datenstau. Die paar freien Netze sind belegt von Krisenstaben und Regierungsstellen.«
»Also, was machen wir?«, sagte Bohrmann nach einer Pause der Ratlosigkeit.
»Wei? nicht. Vielleicht fahrt die Queen Elizabeth noch. Reichen dir die Unterlagen in sechs Wochen, wenn du einen berittenen Boten zur Kuste schickst, um sie abzuholen?« Bohrmann lachelte gequalt. »Im Ernst«, sagte er. »Im Ernst musst du dir was zu schreiben besorgen. Ich kann’s nicht andern.« »Ich habe was zu schreiben«, seufzte Bohrmann. Wahrend er notierte, was Suess durchgab, durchquerte hinter ihm eine Gruppe Uniformierter die Hotelhalle und ging zu den Aufzugen. Ihr Anfuhrer war ein hoch gewachsener Schwarzer mit athiopischem Gesichtsschnitt. Er trug die Rangabzeichen eines Majors der USamerikanischen Streitkrafte und ein Namensschild mit der Aufschrift PEAK.
Die Gruppe betrat einen der Aufzuge. Auf dem zweiten und dritten Stock stiegen die meisten aus. Die restlichen verlie?en den Fahrstuhl ein Stockwerk daruber.
Zuruck blieb Major Salomon Peak. Er fuhr weiter in den neunten Stock. Hier lagen die Gold Executive Suiten, das Nobelste, was das 550 Zimmer starke Chateau zu bieten hatte. Peak selber bewohnte eine Junior Suite im darunter liegenden Stockwerk. Ein stinknormales Einzelzimmer hatte ihm vollauf gereicht. Er legte keinen Wert auf Luxus, aber die Hotelleitung hatte darauf bestanden, den Stab in ihren besten Raumen unterzubringen. Wahrend er den Flur entlangschritt, das Gerausch der Schritte gedampft durch dicken Teppichboden, ging er im Kopf noch einmal den geplanten Ablauf der Nachmittagsveranstaltung durch. Manner und Frauen in Zivil und Uniform kamen ihm entgegen. Turen standen offen und gaben Einblick in Suiten, die zu Buros umfunktioniert worden waren. Nach einigen Sekunden erreichte Peak eine breite Tur. Zwei Soldaten salutierten. Peak winkte ab. Einer der beiden klopfte und wartete auf Antwort von drinnen, dann offnete er zackig die Tur und lie? den Major eintreten.
»Wie geht’s?«, sagte Judith Li.
Sie hatte sich ein Laufband aus dem Health Center nach oben bringen lassen. Peak wusste, dass Li mehr Zeit auf dem Band verbrachte als im Bett. Sie sah von dort aus fern, erledigte ihre Post, diktierte Memoranden, Berichte und Reden in das Spracherkennungssystem ihres Laptops, fuhrte Ferngesprache, lie? sich uber alles Mogliche informieren oder dachte einfach nur nach. Auch jetzt lief sie. Die schwarzen Haare lagen glatt und glanzend an, gehalten von einem Stirnband. Sie trug eine leichte Trainings Jacke und eng anliegende kurze Hosen. Ihr Atem ging gleichma?ig, trotz des hohen Tempos, das sie vorlegte. Peak musste sich immer wieder ins Gedachtnis rufen, dass die Frau dort auf dem Laufband 48 Jahre alt war. General Commander Judith Li sah aus wie eine gut trainierte Enddrei?igerin.
»Danke«, sagte Peak. »Es geht.«
Er sah sich um. Die Suite hatte die Gro?e einer Luxuswohnung und war entsprechend eingerichtet. Klassische kanadische Elemente — viel Holz und rustikale Behaglichkeit, offener Kamin — mischten sich mit franzosischer Eleganz. Am Fenster stand ein Flugel. Auch er gehorte eigentlich woandershin, namlich in die gro?e Halle. Li hatte ihn ebenso wie das Laufband in ihre Raumlichkeiten schaffen lassen. Zur Linken fuhrte ein geschwungener Durchgang in ein riesiges Schlafzimmer. Peak hatte das Badezimmer nicht gesehen, aber gehort, dass es uber Whirlpool und Sauna verfugte.
Aus Peaks Sicht war der einzig sinnvolle Gegenstand das klotzige, schwarze Laufband, auch wenn es deplatziert in dem liebevoll gestalteten Wohnraum wirkte. Er fand, dass sich Luxus und Design mit militarischen Dingen nicht vereinbaren lie?en. Peak stammte aus einfachen Verhaltnissen. Er war nicht zur Armee gegangen, weil er einen Sinn fur Schongeistiges besa?, sondern um von der Stra?e wegzukommen, die allzu oft in den Knast fuhrte. Beharrlichkeit und bedingungsloser Flei? hatten ihm schlie?lich einen College-Abschluss eingebracht und ihm eine Karriere als Offizier eroffnet. Seine Laufbahn diente vielen als Vorbild, aber sie anderte nichts an den Verhaltnissen seiner Herkunft. In einem Zelt oder billigen Motel fuhlte er sich nach wie vor am wohlsten.
»Wir haben die letzten Auswertungen der NOAA-Satelliten bekommen«, sagte er, wahrend er an Li vorbei aus dem gro?en Panoramafenster aufs Tal blickte. Die Sonne lag auf den Zedern und Tannenwaldern. Es war schon hier oben, aber Peak sah uber die Schonheit hinweg. Ihn interessierten vornehmlich die nachsten Stunden.
»Und?«
»Wir hatten Recht.«
»Es gibt eine Ahnlichkeit?«
»Ja, zwischen den Gerauschen, die der URA aufgenommen hat, und den nicht identifizierten Spektrogrammen von 1997.«
»Gut«, sagte Li mit befriedigter Miene. »Das ist sehr gut.«
»Ich wei? nicht, ob es gut ist. Es ist eine Spur, aber es erklart nichts.«
»Was erwarten Sie? Dass der Ozean uns irgendwas erklart?« Li druckte die Stopptaste des Laufbands und sprang herunter. »Dafur veranstalten wir ja den ganzen Zirkus, um es rauszufinden. Ist die Runde mittlerweile vollstandig?«
»Wir sind komplett. Eben kam der Letzte.«