Wenige Seemeilen nordostlich holten sie schlie?lich ein Dutzend Bohrkerne aus dem Sediment, ohne dass es zu weiteren Zwischenfallen kam. Der Autoklav, eine funf Meter lange Rohre mit Isoliermantel und Gestange drum herum, zog den Kern wie eine Spritze aus dem Meeresboden. Noch unten wurde die Rohre durch Ventile hermetisch verschlossen. Im Innern befand sich damit ein kleines, ausgestanztes Universum: Sediment, Eis und Schlamm samt intakter Oberflache, Meerwasser und siedelnden Lebewesen, die sich weiterhin wohl fuhlten, weil die Rohre Temperatur und Druck aufrechterhielt. Bohrmann lie? die verschlossenen Rohren im Kuhlraum des Schiffes aufrecht lagern, um das sorgfaltig konservierte Innenleben nicht durcheinander zu bringen. An Bord konnten die Kerne nicht untersucht werden. Erst im Tiefseesimulator herrschten die richtigen Bedingungen. Bis dahin mussten sie sich damit zufrieden geben, Wasserproben zu analysieren und Monitore anzustarren.
Ungeachtet der Dramatik bekam selbst das ewig gleiche Bild der wurmubersaten Hydrate etwas Ermudendes. Niemand verspurte Lust auf Konversation. Im blassen Licht der Bildschirme schienen sie selber zu verblassen, Bohrmanns Team, die Olleute, die Matrosen. Der tote Statoil-Mann leistete den Bohrkernen im Kuhlraum Gesellschaft. Das Rendezvous mit der Thorvaldson uber dem Standort der geplanten Tiefseefabrik war abgesagt worden, um moglichst schnell Kristiansund zu erreichen, wo sie die Leiche ubergeben und die Proben zum nahe gelegenen Flughafen verfrachten wollten. Johanson hockte im Funkraum oder in seiner Kammer und wertete die Ruckmeldungen seiner Anfragen aus. Der Wurm war nirgendwo beschrieben, niemand hatte ihn gesehen. Einige der Schreiber gaben ihrer Meinung Ausdruck, es handle sich um den mexikanischen Eiswurm, womit sie dem Erkenntnisstand nichts Wesentliches hinzufugten.
Drei Seemeilen vor Kristiansund erhielt Johanson eine Antwort von Lukas Bauer. Die erste positive Ruckmeldung, sofern man den Inhalt als positiv bezeichnen konnte.
Er las den Text und saugte an seiner Unterlippe.
Die Kontaktaufnahme zu den Energiekonzernen oblag Skaugen. Von Johanson erwartete man, Institute und Wissenschaftler zu befragen, die in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit Olexplorationen standen. Aber Bohrmann hatte nach dem Unfall mit dem Greifer etwas gesagt, das die Sache in ein anderes Licht ruckte.
Die Industrie bezahlt die Forscher, nachdem der Staat es nicht mehr kann.
Welche Institute konnten uberhaupt noch frei forschen?
Wenn es zutraf, dass die Forschung zunehmend an den Tropf der Wirtschaft geriet, arbeiteten fast alle Institute in irgendeiner Weise den Konzernen zu. Sie finanzierten sich aus nichtoffentlichen Mitteln. Sie hatten gar keine andere Wahl, wenn sie nicht riskieren wollten, ihre Arbeit einstellen zu mussen. Selbst Geomar in Kiel sah einem finanziellen Engagement der Deutschen Ruhrgas entgegen, die am Institut eine Stiftungsprofessur fur Gashydrate plante. So verfuhrerisch es klang, mit Konzerngeldern forschen zu konnen, stand am Ende doch das Interesse der Sponsoren, Ergebnisse in buchbare Posten umzuwandeln.
Johanson las noch einmal Bauers Antwort.
Er war die Sache falsch angegangen. Anstatt in alle Welt hinauszurufen hatte er von vorneherein versteckte Verbindungen zwischen Forschung und Industrie unter die Lupe nehmen mussen. Wahrend sich Skaugen dem Thema uber die Konzernetagen naherte, konnte er versuchen, kooperierende Wissenschaftler auszufragen. Irgendeiner wurde fruher oder spater den Mund aufmachen.
Das Problem war, derartigen Verbindungen auf die Spur zu kommen.
Nein, kein Problem. Flei?arbeit.
Er stand auf und verlie? den Funkraum, um Lund zu suchen.
24. April
Ballen, Ferse.
Anawak wippte ungeduldig auf den Fu?en hin und her. Stellte sich auf die Zehen und lie? sich wieder zuruckfallen. Abwechselnd. Unablassig. Ballen, Ferse. Ballen, Ferse. Es war fruher Morgen. Der Himmel erstrahlte in stechendem Azur, ein Tag wie aus dem Reiseprospekt.
Er war nervos.
Ballen, Ferse. Ballen, Ferse.
Am Ende des holzernen Piers wartete ein Wasserflugzeug. Sein wei?er Rumpf spiegelte sich im Tiefblau der Lagune, gebrochen vom Krauseln der Wellen. Die Maschine war eine jener legendaren Beaver DHC-2, die das kanadische Unternehmen De Havilland erstmals vor uber 50 Jahren gebaut hatte und die immer noch im Einsatz waren, weil danach nichts Besseres mehr auf den Markt gekommen war. Bis zu den Polen hatte es die Beaver geschafft. Sie war anspruchslos, robust und sicher.
Genau richtig fur das, was Anawak vorhatte.
Er sah hinuber zum rotwei? gestrichenen Abfertigungsgebaude. Tofino Airport, nur wenige Autominuten vom Ort entfernt, hatte mit klassischen Flughafen wenig gemein. Eher fuhlte man sich an eine Fallensteller— oder Fischer-Siedlung erinnert. Ein paar niedrige Holzhauser, malerisch an einer weitlaufigen Bucht gelegen, gesaumt von baumbestandenen Hugeln, hinter denen sich die Berge emporreckten. Anawaks Blick suchte die Zufahrt ab, die von der Hauptstra?e unter den Riesenbaumen zur Lagune fuhrte. Die anderen mussten jeden Augenblick eintreffen. Er runzelte die Stirn, wahrend er der Stimme lauschte, die aus seinem Mobiltelefon drang.
»Aber das ist zwei Wochen her«, erwiderte er. »In der ganzen Zeit war Mr. Roberts kein einziges Mal fur mich zu sprechen, obwohl er ausdrucklich Wert darauf legte, dass ich ihn auf dem Laufenden halte.«
Die Sekretarin gab zu bedenken, Roberts sei nun mal ein viel beschaftigter Mann.
»Das bin ich auch«, bellte Anawak. Er horte auf zu wippen und bemuhte sich, freundlicher zu klingen. »Horen Sie, wir haben hier inzwischen Zustande, fur die der Begriff Eskalation geschmeichelt ist. Es gibt klare Zusammenhange zwischen unseren Problemen und denen von Inglewood. Auch Mr. Roberts wird das so sehen.«
Eine kurze Pause entstand. »Welche Parallelen sollten das sein?«
»Wale. Das ist doch offenkundig.«
»Die Barrier Queen hatte einen Schaden am Ruderblatt.«
»Ja sicher. Aber die Schlepper sind angegriffen worden.«
»Ein Schlepper ist gesunken, das ist richtig«, sagte die Frau in hoflich desinteressiertem Tonfall. »Von Walen ist mir nichts bekannt, aber ich werde Mr. Roberts gerne ausrichten, dass Sie angerufen haben.«
»Sagen Sie ihm, es sei in seinem eigenen Interesse.«
»Er wird sich innerhalb der nachsten Wochen melden.«
Anawak stockte. »Wochen?«
»Mr. Roberts ist verreist.«
Was ist da blo? los, dachte Anawak. Muhsam beherrscht sagte er: »Ihr Boss hat au?erdem versprochen, weitere Proben vom Bewuchs der Barrier Queen ins Institut nach Nanaimo zu schicken. Sagen Sie jetzt bitte nicht, auch davon ware Ihnen nichts bekannt. Ich war selber unten und hab das Zeug vom Rumpf gepfluckt. Es sind Muscheln und moglicherweise noch etwas anderes.«
»Mr. Roberts hatte mich daruber informiert, wenn …«
»Die Leute in Nanaimo brauchen diese Proben!«
»Er wird sich nach seiner Ruckkehr darum kummern.«
»Das ist zu spat! Horen Sie? — Ach, egal. Ich rufe wieder an.« Verargert steckte er das Telefon weg. Uber die Zufahrt kam Shoemakers Land Cruiser herangerumpelt. Kies knirschte unter den Reifen, als der Gelandewagen auf den kleinen Parkplatz vor dem Abfertigungsgebaude einbog. Anawak ging ihnen entgegen.
»Ihr seid nicht gerade ein Muster an Punktlichkeit«, rief er ubellaunig.
»Mann, Leon! Zehn Minuten.« Shoemaker kam ihm entgegen, Delaware im Schlepptau und einen jungen, bulligen Schwarzen mit Sonnenbrille und rasiertem Schadel. »Sei nicht so verdammt kleinkariert. Wir mussten auf Danny warten.«
Anawak schuttelte dem Bulligen die Hand. Der Mann grinste freundlich. Er war Armbrustschutze in der Kanadischen Armee und offiziell zu Anawaks Verfugung abkommandiert worden. Seine Waffe, eine mit Hightech voll gestopfte Hochprazisionsarmbrust, hatte er mitgebracht.