Nun hatte Pfiesteria piscicida also bretonische Hummer befallen.
Aber war es wirklich Pfiesteria piscicida?
Zweifel nagten an Roche. Das Verhalten der Einzeller sprach dafur, wenngleich sie ihm weit aggressiver erschienen als in bisherigen Dokumentationen beschrieben. Vor allem aber fragte er sich, wie der Hummer uberhaupt so lange hatte uberleben konnen. Stammten die Algen aus seinem Innern? Zusammen mit der Substanz? Die gallertige Masse, die an der Luft zerfiel, schien jedenfalls etwas vollig anderes zu sein als diese Algen, etwas definitiv Unbekanntes. Entstammte uberhaupt beides dem Innern des Hummers? Aber was war dann mit dem Hummerfleisch geschehen?
War das uberhaupt ein Hummer gewesen?
Roche verfiel in tiefe Ratlosigkeit. Nur eines wusste er mit absoluter Sicherheit. Was immer es gewesen war — Teile davon befanden sich jetzt im Trinkwasser von Roanne.
22. April
Auf See enthielt die Welt nichts als Wasser und einen mehr oder weniger klar abgegrenzten Himmel. Es gab keine Bezugspunkte, sodass einen die Unendlichkeit an schonen Tagen formlich in den Weltraum zu saugen schien, wahrend man bei Regen mitunter nicht wusste, ob man sich noch an der Wasseroberflache oder schon halb darunter befand. Selbst hartgesottene Seeleute empfanden eintonig niederfallenden Regen als deprimierend. Der Horizont verwischte, das Schwarz der Wellen verlief im Grau konturloser Wolkenmassen und hinterlie? die bedruckende Vorstellung eines Universums ohne Licht, Gestalt und Hoffnung.
Die Nordsee und das norwegische Meer boten dem Auge immerhin auf weiter Strecke Anhaltspunkte in Gestalt von Bohrturmen. Drau?en am Kontinentalhang, uber dem das Forschungsschiff Sonne nun seit zwei Tagen kreuzte, waren die meisten Plattformen allerdings zu weit entfernt, um mit blo?em Auge wahrgenommen zu werden. Selbst die wenigen Turme in Sichtweite verschwanden heute im feinen Spruhregen. Alles war pitschnass. Klamme Kalte zog unter die wasserdichten Jacken und Overalls der Wissenschaftler und des Schiffspersonals. Anstandiger, ehrlicher Regen aus dicken, klatschenden Tropfen ware allen lieber gewesen als die nieselige Bruhe. Nicht nur aus den Himmeln schien das Wasser zu kommen, sondern zugleich aus der See nach oben zu steigen. Es war einer der schabigsten Tage, an die Johanson sich erinnern konnte. Er zog die Kapuze uber die Stirn und ging ins Heck, wo das technische Personal mit dem Einholen der Multisonde befasst war. Auf halbem Weg gesellte sich Bohrmann an seine Seite.
»Traumen Sie nicht allmahlich von Wurmern?«, fragte Johanson.
»Es geht noch«, erwiderte der Geologe. »Und Sie?«
»Ich fluchte mich in die Vorstellung, in einem Film mitzuspielen.«
»Gute Idee. Welcher Regisseur?«
»Wie war’s mit Hitchcock?«
»Die Vogel in der Version fur Tiefseegeologen?« Bohrmann grinste sauerlich. »Schone Vorstellung — ah, es ist so weit!«
Er lie? Johanson stehen und ging rasch weiter ins Heck. Am Kran hangend tauchte ein gro?es, kreisrundes Gestange auf, dessen obere Halfte mit Kunststoffrohren bestuckt war. Sie enthielten Wasserproben aus verschiedenen Meerestiefen. Johanson sah eine Weile zu, wie die Multisonde eingeholt und der Probensatz entnommen wurde, dann betraten Stone, Hvistendahl und Lund das Deck. Stone eilte auf ihn zu.
»Was sagt Bohrmann?«, fragte er.
»Houston, wir haben ein Problem.« Johanson zuckte die Achseln. »Viel sagt er nicht.«
Stone nickte. Seine Aggressivitat hatte tiefer Niedergeschlagenheit Platz gemacht. Im Verlauf der Messungen war die Sonne dem sudwestlichen Verlauf des Kontinentalhangs bis oberhalb Schottlands gefolgt, wahrend der Videoschlitten Bilder aus der Tiefe sandte. Der Schlitten, ein klobiges Gestell, das aussah wie ein Stahlregal voll unordentlich hineingestopfter Apparaturen, verfugte uber diverse Messinstrumente, starke Scheinwerfer und ein elektronisches Auge, das den Meeresboden filmte und die Eindrucke per Lichtwellenkabel ins Monitorlabor schickte, wahrend er hinter dem Schiff hergezogen wurde.
An Bord der Thorvaldson lieferte der modernere Victor das Bildmaterial. Das norwegische Forschungsschiff folgte dem Hangverlauf in nordostliche Richtung und analysierte das Wasser der norwegischen See bis hinauf nach Tromso. Beide Schiffe hatten ihre Fahrt vom Standort der geplanten Fabrik aus begonnen. Mittlerweile hielten sie wieder aufeinander zu. Mit ihrem Rendezvous in zwei Tagen wurden sie zu dem den kompletten Hang des norwegischen Sockels und der Nordsee neu vermessen haben. Bohrmann und Skaugen hatten vorgeschlagen, die Region so anzugehen, als habe man es mit unerforschtem Gebiet zu tun, und das war es seit kurzem auch. Nichts erschien mehr in vertrautem Licht, seit Bohrmann die ersten Messwerte prasentiert hatte.
Das war am Vortag gewesen, am fruhen Morgen, noch ehe die ersten Bilder vom Videoschlitten auf dem Monitor erschienen waren. Sie hatten in der feuchtkalten Dammerung die Multisonde hinuntergelassen, und Johanson hatte versucht, das Fahrstuhlgefuhl zu ignorieren, wenn die Sonne in den Wogen plotzlich wegsackte. Die ersten Wasserproben waren umgehend ins Seismiklabor gewandert und dort analysiert worden. Wenig spater hatte Bohrmann das Team in den Konferenzraum aufs Hauptdeck gebeten, wo sie sich um den polierten Holztisch scharten, nun nicht mehr augenreibend und gahnend, sondern stumm vor Neugierde, Becher mit Kaffee umklammernd, dessen Warme sich langsam in den Fingern auszubreiten begann.
Bohrmann hatte geduldig gewartet, bis alle versammelt waren. Seine Augen waren auf ein Blatt Papier gerichtet.
»Ich kann mit einem ersten Resultat aufwarten«, sagte er. »Es ist nicht reprasentativ, nur eine Momentaufnahme.« Er schaute auf. Sein Blick blieb eine Sekunde an Johanson hangen und wanderte weiter zu Hvistendahl. »Ist jeder mit dem Begriff Methanfahne vertraut?«
Ein junger Mann aus Hvistendahls Stab schuttelte unsicher den Kopf.
»Methanfahnen entstehen, wenn Gas aus dem Meeresboden austritt« erlauterte Bohrmann. »Es vermischt sich mit Wasser, treibt in der Stromung und steigt auf. Im Allgemeinen messen wir solche Fahnen dort, wo eine Erdplatte sich unter die andere schiebt, sodass der Druck das Sediment zusammenquetscht und aufwirft. Als Folge quellen dort Fluide und Gase hervor. Ein weitgehend bekanntes Phanomen.« Er rausperte sich. »Aber sehen Sie, im Unterschied zum Pazifik gibt es solche Bereiche hohen Drucks nicht im Atlantik, also auch nicht vor Norwegen. Die Kontinentalrander sind weitgehend passiv. Dennoch haben wir heute Morgen in diesem Gebiet eine hoch konzentrierte Methanfahne gemessen. In fruheren Messungen taucht sie nicht auf.«
»Wie hoch ist die Konzentration jetzt?«, fragte Stone.
»Bedenklich. Wir haben ahnliche Werte vor Oregon gemessen. In einem Gebiet mit au?erst starken Verwerfungen.«
»Schon.« Stone versuchte, die Falten auf seiner Stirn zu glatten. »Meines Wissens tritt vor Norwegen permanent Methan aus. Wir kennen das von fruheren Projekten. Es ist bekannt, dass der Meeresboden immer irgendwo Gase durchlasst, und es ist jedes Mal erklarbar, also wozu machen wir die Pferde scheu?«
»Ihre Darstellung trifft nicht ganz den Kern der Sache.«
»Horen Sie«, seufzte Stone. »Alles, was mich interessiert, ist, ob Ihre Messungen wirklich Anlass zur Besorgnis geben. Bislang kann ich das nicht erkennen. Wir verschwenden unsere Zeit.«
Bohrmann lachelte verbindlich. »Dr. Stone, in diesem Gebiet, insbesondere nordlich von hier, sind ganze Stockwerke des Kontinentalhangs mit Methanhydraten regelrecht zementiert. Jede dieser Hydratschichten ist sechzig bis einhundert Meter dick, das sind gewaltige Deckel aus Eis. Aber wir wissen auch, dass diese Schichten stellenweise von senkrechten Zonen durchbrochen werden. Dort tritt seit Jahren Gas aus, das unseren Stabilitatsberechnungen zufolge eigentlich nicht austreten durfte. Legt man Druck und Temperatur zugrunde, musste es am Boden gefrieren, aber das tut es nicht. Da haben Sie Ihre Gasaustritte. Es lasst sich mit ihnen leben, man kann sogar entscheiden, sie zu ignorieren. Aber wir sollten uns nicht in Sicherheit wiegen, blo? weil wir ein paar Diagramme und Kurven entwickelt haben. Ich sage noch einmal, die Konzentration freien Methans in der Wassersaule ist unverhaltnisma?ig hoch.«