Das Erstaunlichste aber war, dass der Vater sich bei der Heirat entschlossen hatte, den Namen seiner Frau anzunehmen, was einen langwierigen Kampf gegen die Behorden in Gang setzte. Diese Geste gegenuber der Frau, die er liebte und die ihr Land aus Liebe verlassen hatte, lie? Judith Li in gluhender Bewunderung fur ihn entflammen. Er war ein Mann der Gegensatze, mit teils liberalen, teils erzkonservativ republikanischen Ansichten, die jede fur sich als unumsto?lich galten. Jemand mit geringerer Charakterstarke ware vielleicht am Bestreben dieser Familie, in allen Disziplinen perfekt zu sein, zugrunde gegangen. Doch das Madchen wuchs daran, ubersprang zwei Schulklassen, legte einen glanzenden High-School-Abschluss hin und kultivierte ihre Uberzeugung, alles werden zu konnen, wonach ihr der Sinn stand, und sei es Prasidentin der Vereinigten Staaten von Amerika.
Mitte der Neunziger hatte man ihr die Position des Stellvertretenden Stabschefs fur Operationen und Einsatzplanungen im US-Heeresministerium und zugleich eine Dozentur fur Geschichte in West Point offeriert. Im Verteidigungsministerium wurde sie jetzt hoch gehandelt. Zudem registrierten gewisse Kreise ihr verstarktes Interesse an Politik. Einzig fehlte ihr noch der ma?gebliche militarische Erfolg. Das Pentagon legte Wert auf Kampferfahrung, bevor es den Weg zu hoheren administrativen Weihen freigab, und Li sehnte sich von Herzen nach einer schonen globalen Krise. Lange musste sie nicht warten. 1999 wurde sie Deputy Commander im Kosovo-Konflikt und schrieb sich endgultig ein ins Buch der Helden.
Der abermaligen Heimkehr folgte die Position des Kommandierenden Generals in Fort Lewis und die Berufung in den Sicherheitsstab des Prasidenten, nachdem sie diesem mit einer von ihr verfassten Denkschrift zum Thema Nationale Sicherheit bis ins Mark imponiert hatte. Li vertrat darin eine harte Gangart. Tatsachlich dachte sie in vielem noch um einiges kompromissloser als die republikanische Administration, vor allem aber dachte sie patriotisch. Bei aller Weitlaufigkeit war sie tatsachlich der Meinung, dass es kein besseres und gerechteres Land auf der Welt gab als die Vereinigten Staaten von Amerika, und sie hatte eine Reihe akuter Fragen in eben diesem Sinne beantwortet.
Plotzlich war sie im Zentrum der Macht.
Li, die kaltblutige Perfektionistin, kannte das Tier, das in ihr lauerte, nur zu gut, die hei?e, unbandige Emotionalitat, die ihr an diesem Punkt ebenso nutzen wie gefahrlich werden konnte, je nachdem, was sie als Nachstes tat. Jeden Anflug von Eitelkeit und ubertriebener Zurschaustellung ihres Konnens musste sie sich unter diesen Umstanden versagen. Es reichte, dass sie an manchen Abenden im Wei?en Haus die Uniform mit dem tragerlosen Abendkleid vertauschte und den hingerissenen Zuhorern Chopin, Brahms und Schubert vorspielte, dass sie den Prasidenten beim Tanz auf dem Festparkett zu fuhren wusste, bis er zu schweben glaubte wie Fred Astaire, dass sie fur seine Familie und alte republikanische Freunde Lieder aus der Zeit der Grundervater sang. Dieser Teil der Inszenierung gehorte ihr allein. Geschickt knupfte sie enge personliche Beziehungen, teilte die Begeisterung des Verteidigungsministers fur Baseball und die der Au?enministerin fur europaische Geschichte, lie? sich mit zunehmender Haufigkeit ins Private einladen und verbrachte ganze Wochenenden auf der prasidentialen Ranch.
Nach au?en blieb sie bescheiden. Ihre Privatansicht in politischen Dingen behielt sie fur sich. Sie spielte den Ball zwischen Militar und Politik, trat kultiviert, charmant und selbstsicher auf, stets korrekt gekleidet, aber niemals steif oder gar aufgeblasen. Man dichtete ihr eine Reihe von Verhaltnissen mit einflussreichen Mannern an, die sie samtlich nicht hatte. Li ignorierte es mit gewohnter Souveranitat. Keine Frage vermochte sie aus der Ruhe zu bringen. Sie futterte Journalisten, Abgeordnete und Untergebene mit gut verdaulichen Happen aus Gewissheit und Uberzeugung, war immer bestens organisiert und vorbereitet, hatte Unmengen von Details gespeichert und rief sie auf wie Dateien, reduziert auf griffige, klare Formeln.
Obwohl sie nicht im Mindesten wusste, was in den Ozeanen vor sich ging, schaffte sie es auch diesmal, ihrem Prasidenten ein genaues Bild der Lage zu vermitteln. Das umfangreiche Dossier der CIA brach sie auf wenige, entscheidende Punkte herunter. Als Folge sa? Li nun im Chateau Whistler, und sie wusste sehr genau, was das bedeutete.
Es war der letzte, gro?e Schritt, den sie zu gehen hatte.
Vielleicht sollte sie doch den Prasidenten anrufen. Einfach so. Er mochte es. Sie konnte ihm erzahlen, dass die Wissenschaftler und Experten vollstandig versammelt waren, was hie?, dass sie der informellen Einladung der Vereinigten Staaten gefolgt waren, obwohl sie zu Hause wei? Gott genug zu tun hatten. Oder dass die NOAA Ahnlichkeiten zwischen unidentifizierbaren Gerauschen festgestellt hatte. So etwas gefiel ihm, es klang nach »Sir, wir sind ein Stuck weitergekommen«. Naturlich konnte sie nicht erwarten, dass er wusste, was unter Bloop und Upsweep zu verstehen war, und warum die NOAA glaubte, den Ursprung von Slowdown entratselt zu haben. Das alles ging zu sehr ins Detail, aber es war auch nicht notig. Ein paar Worte der Zuversicht uber die abhorsichere Satellitenverbindung, der Prasident ware glucklich, und glucklich war er nutzlich.
Sie entschied sich dafur.
Neun Stockwerke unter ihr bemerkte Leon Anawak einen gut aussehenden Mann mit grau meliertem Haar und Vollbart. Er ging uber den Vorplatz zum Hotel. Eine Frau begleitete ihn, klein, breitschultrig und braun gebrannt, Jeans und Lederjacke. Anawak schatzte sie auf Ende zwanzig. Kastanienfarbene Locken ringelten sich uber Schulter und Rucken. Beide Ankommlinge trugen Gepack, das ihnen soeben von Bediensteten des Hotels abgenommen wurde. Die Frau sprach kurz mit dem Bartigen, sah sich um und heftete ihren Blick fur eine Sekunde auf Anawak. Sie strich sich die Locken aus der Stirn und verschwand in der Lobby.
Gedankenverloren starrte Anawak auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Dann legte er den Kopf in den Nacken, schirmte die Augen mit der Hand gegen das schrag einfallende Sonnenlicht ab und lie? seinen Blick die neoklassizistische Fassade des Chateaus erwandern.
Das Luxushotel lag inmitten des Traums, den jeder irgendwann von Kanada traumte. Nahm man den Highway 99 entlang der Horseshoe Bay, gelangte man von Vancouver in die Berge und fand das riesige Hotel eingebettet in sanft ansteigende Walder und gekront von machtigen Bergen, deren Gipfel auch in den Sommermonaten wei? schimmerten. Das Blackcomb— und Whistler-Massiv galt als eines der schonsten Skigebiete der Welt. Jetzt im Mai kamen die Gaste vorwiegend, um Golf zu spielen oder zu wandern. Ringsum lagen verschwiegene Seen. Man konnte die Gegend mit dem Mountainbike erkunden oder sich mit dem Helikopter in den ewigen Schnee fliegen lassen. Das Chateau selber verfugte uber einige hervorragende Restaurants und bot jede nur erdenkliche Annehmlichkeit.
Alles hatte man an diesem Platz fernab der Welt erwartet. Nur nicht ein Dutzend Militarhubschrauber.
Anawak war schon vor zwei Tagen eingetroffen. Er hatte bei den Vorbereitungen fur Lis Prasentation geholfen, zusammen mit Ford, der seit achtundvierzig Stunden zwischen dem Vancouver Aquarium, Nanaimo und dem Chateau hin— und herflog, um Material zu sichten, Daten auszuwerten und letzte Erkenntnisse zusammenzutragen. Sein Knie schmerzte immer noch, aber er humpelte nicht mehr. Die klare Bergluft hatte auch sein Denken irgendwie geklart, und die Mutlosigkeit nach dem Flugzeugabsturz war nervosem Tatendrang gewichen.
Mittlerweile war so viel passiert, dass seine Festnahme durch die Militarpatrouille in unendlich weiter Ferne zu liegen schien. Dabei war er Li vor nicht einmal zwei Wochen erstmals begegnet — unter peinlichen Umstanden, wie er sich eingestehen musste. Sie war amusiert gewesen uber den Dilettantismus, mit dem er seine nachtliche Aktion ausgefuhrt hatte, denn naturlich hatte man ihn bereits registriert, als er noch im Auto gesessen und die Docks entlanggefahren war. Sie hatten ihn einfach eine Weile beobachtet, um herauszufinden, was er eigentlich wollte. Dann hatten sie zugegriffen, und Anawak war sich vorgekommen wie der sprichwortliche Mann, der nie wieder auftaucht.