Der Helikopter sank der Landeplattform uber dem Wohntrakt entgegen. Uberraschend sanft setzte der Pilot auf. Lund gahnte, streckte die Glieder, soweit es die Enge zulie?, und wartete, bis die Rotoren zum Stillstand gekommen waren.
»Das war doch ganz angenehm«, sagte sie.
Jemand lachte. Die Ausstiegsluke wurde geoffnet, und sie kletterten ins Freie. Johanson trat an den Rand der Landeflache und sah hinunter. Knapp hundertfunfzig Meter unter ihm schaumten die Wellen. Ein schneidender Wind blahte seinen Overall.
»Gibt es eigentlich irgendwas, das so ein Ding umwerfen kann?«
»Es gibt nichts, was man nicht umwerfen kann. Komm. Schlag keine Wurzeln.« Lund packte ihn am Arm und zog ihn den anderen Passagieren des Helikopters hinterher, die jenseits der Landeflache verschwanden. Ein kleiner, stammiger Mann mit gewaltigem wei?em Schnurrbart stand am Absatz der Stahltreppe und winkte ihnen zu.
»Tina«, rief er. »Sehnsucht nach Ol?«
»Das ist Lars Jorensen«, sagte Lund. »Er hat die Verantwortung fur die Uberwachung des Hubschrauber-und Schiffverkehrs auf Gullfaks C. Du wirst ihn mogen, er ist ein ausgezeichneter Schachspieler.«
Jorensen kam ihnen entgegen. Er trug ein Statoil-T-Shirt und wirkte auf Johanson eher wie ein Tankwart.
»Ich hatte Sehnsucht nach dir«, lachte Lund.
Jorensen grinste. Er druckte sie an seine Brust, was dazu fuhrte, dass sein wei?er Haarschopf unter ihrem Kinn verschwand. Dann schuttelte er Johanson die Hand.
»Ihr habt euch einen ungemutlichen Tag ausgesucht«, sagte er. »Bei schonem Wetter sieht man den ganzen Stolz der norwegischen Olindustrie. Insel an Insel.«
»Ist viel los im Moment?«, fragte Johanson, wahrend sie die gewundene Treppe nach unten stiegen.
Jorensen schuttelte den Kopf.
»Nicht mehr als sonst. Warst du schon mal auf einer Plattform?« Wie die meisten Skandinavier ging auch Jorensen schnell zum Du uber.
»Ist was her. Wie viel holt ihr raus?«
»Immer weniger, furchte ich. Auf Gullfaks ist die Menge seit geraumer Zeit stabil, rund 200000 Barrels aus einundzwanzig Bohrlochern. Eigentlich konnten wir zufrieden sein. Sind’s aber nicht. Das Ende ist absehbar.« Er zeigte hinaus aufs Meer. In einigen hundert Metern Entfernung sah Johanson einen Tanker angedockt an einer Boje liegen. »Wir machen ihn gerade voll. Einer kommt noch, das war’s fur heute. Irgendwann werden es immer weniger sein. Das Zeug geht langsam aus, da macht keiner was dran.«
Die Forderstellen lagen nicht direkt unter der Plattform, sondern in weitem Umkreis drum herum. Wenn das Ol hochkam, wurde es von Salz und Wasser gereinigt, vom Gas getrennt und in die Tanks rund um die Beine der Plattform gelagert. Von dort pumpte man es durch Pipelines in die Bojen. Rund um die Plattform herrschte eine Sicherheitszone von 500 Metern, die kein Fahrzeug passieren durfte, ausgenommen plattformeigene Reparaturschiffe.
Johanson spahte uber das eiserne Gelander. »Sollte hier nicht irgendwo die Thorvaldson liegen?«, fragte er. »Andere Boje. Ihr konnt sie von hier nicht sehen.« »Nicht mal Forschungsschiffe durfen naher ran?« »Nein, sie gehort nicht zu Gullfaks und ist zu gro? fur unseren Geschmack. Basta! Es reicht, den Fischern standig erklaren zu mussen, dass sie ihren verdammten Arsch woanders hinpacken sollen.«
»Habt ihr viel Arger mit den Fischern?«
»Geht so. Letzte Woche haben wir ein paar hopsgenommen, die einem Schwarm bis unter die Plattform gefolgt waren. Kommt immer mal wieder vor. Auf Gullfaks A war’s neulich kritischer. Kleiner Tanker mit Maschinenschaden. Trieb drauf zu. Wir haben ein paar von unseren Leuten rubergeschickt, um ihn wegzudrangen, aber dann haben sie das Ding von selber wieder unter Kontrolle gebracht.«
Was Jorensen da so gleichmutig erzahlte, beschrieb in Wirklichkeit die potenzielle Katastrophe, vor der jeder Angst hatte. Dass sich ein randvoller Tanker losriss und auf die Plattform zutrieb. Eine Kollision konnte kleinere Inseln ins Wanken bringen, viel gro?er aber war die Explosionsgefahr. Auch wenn die gesamte Plattform mit einem Sprinklersystem ausgestattet war, das beim kleinsten Anzeichen eines Feuers Tonnen von Wasser freisetzte, bedeutete eine Tankerexplosion das Ende. Allerdings geschahen solche Unglucke selten und eher vor Sudamerika, wo die Sicherheitsbestimmungen laxer gehandhabt wurden. Im Nordmeer hielt man die Vorschriften ein. Wenn der Wind zu sehr blies, wurden Tanker gar nicht erst beladen.
»Schlank bist du geworden«, meinte Lund, wahrend ihr Jorensen eine Tur aufhielt. Sie traten ins Innere der Wohneinheit und durchschritten einen Gang, von dessen Seiten identisch aussehende Turen in die Quartiere fuhrten. »Bekochen sie euch nicht gut?«
»Zu gut«, kicherte Jorensen. »Der Koch ist wirklich toll. Du solltest unseren Speisesaal sehen«, fuhr er zu Johanson gewandt fort. »Das Ritz ist ‘ne Strandbude dagegen. Nein, unser Plattformchef hat was gegen Nordseebauche, er hat Order gegeben, alle uberflussigen Kilos runterzutrainieren, ansonsten gibt’s Sperre.«
»Im Ernst?«
»Direktive von Statoil. Wei? nicht, ob die wirklich so weit gehen wurden. Aber die Drohung wirkt. Keiner hier will den Job verlieren.«
Sie erreichten ein enges Treppenhaus und stiegen nach unten. Olarbeiter kamen ihnen entgegen. Jorensen gru?te sie, wahrend sie dem Boden der Plattform zustrebten. Ihre Schritte hallten in dem stahlernen Schacht wider.
»So, Endstation. Ihr habt die Wahl. Nach links hei?t, noch ein halbes Stundchen quatschen und zusammen einen Kaffee trinken. Nach rechts geht’s zum Boot.«
»Ich wurde gerne einen Kaffee …«, begann Johanson.
»Danke«, fuhr ihm Lund dazwischen. »Das wird zu knapp.«
»Die Thorvaldson legt schon nicht ohne euch ab«, maulte Jorensen. »Du konntest ruhig …«
»Ich will nicht auf den letzten Drucker an Bord. Nachstes Mal nehme ich mir Zeit, versprochen. Und ich bringe Sigur wieder mit. Es wird Zeit, dass dich mal einer an die Wand spielt.«
Jorensen lachte und trat achselzuckend nach drau?en. Lund und Johanson folgten ihm. Der Wind fegte ihnen ins Gesicht. Sie befanden sich am unteren seitlichen Rand des Wohnblocks. Der Boden des Laufgangs, uber den sie weitergingen, war aus dicken Stahlgittern geschwei?t. Durch die Maschen sah man auf die wogende See. Hier war es um einiges lauter als auf der Landeflache des Helikopters. Bestandiges Zischen und Drohnen erfullte die Luft. Jorensen brachte sie zu einer kurzen Gangway. Ein orangefarbenes, geschlossenes Kunststoffboot hing dort an einem Kran.
»Was macht ihr denn auf der Thorvaldson?«, fragte er beilaufig. »Hab gehort, Statoil will weiter drau?en bauen.«
»Moglich«, erwiderte Lund.
»Eine Plattform?«
»Ist nicht gesagt. Vielleicht auch ein SWOP.«
SWOP war die Abkurzung fur Single Well Offshore Production System. Ab einer Bohrtiefe von 350 Metern wurden solche SWOPs eingesetzt, riesigen Oltankern ahnliche Schiffe mit eigenem Fordersystem. Sie waren uber einen flexiblen Bohrstrang mit dem Bohrlochkopf verbunden. Damit pumpten sie das Rohol aus dem Meeresboden und dienten zugleich als Zwischenlager.
Jorensen tatschelte Lund die Wange.
»Dann werd mir mal nicht seekrank, Kleines.«
Sie bestiegen das Boot. Es war gro? und geraumig, mit Hartschalenwanden und Reihen von Sitzbanken. Au?er ihnen war nur der Steuermann an Bord. Ein leichtes Ruckeln ging durch den Rumpf, als sich die Kranwinde in Bewegung setzte und das Boot absenkte. In den Seitenfenstern zog die rissig graue Flache von Beton vorbei. Dann schaukelten sie plotzlich auf den Wellen. Die Haken der Winde entkoppelten sich, und sie fuhren unter der Plattform hervor.
Johanson trat hinter den Steuermann. Er hatte einige Muhe, auf den Fu?en zu bleiben. Jetzt konnte er die Thorvaldson sehen. Das Heck des Forschungsschiffs war durch den charakteristischen Ausleger gekennzeichnet, mit dem Tauchboote und Forschungsgerat ins Meer abgelassen wurden. Der Steuermann drehte bei. Sie legten an und erstiegen eine stahlerne, rundum gesicherte Sprossenleiter. Kurz, wahrend er sich mit seinem Gepack abqualte, dachte Johanson, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, den halben Kleiderschrank einzupacken.