»Ja. Das glaube ich.«
»Wenn das so ist«, fragte Peak, »warum haben wir bis heute nie etwas von dieser Rasse gehort oder gesehen?« »Weil es sie nicht gibt«, sagte Vanderbilt murrisch. »Falsch.« Johanson schuttelte energisch den Kopf. »Es gibt mindestens drei Grunde. Erstens, das Gesetz vom unsichtbaren Fisch.« »Das was?«
»Die meisten Lebewesen der Tiefsee sehen im herkommlichen Sinne nicht mehr als wir, aber sie haben andere Sinnesorgane ausgebildet, die das Sehen ersetzen. Sie reagieren auf leichteste Druckveranderungen. Schallwellen erreichen sie uber Hunderte und Tausende von Kilometern. Jedes Unterwasserfahrzeug wird wahrgenommen, lange bevor seine Insassen selber etwas sehen. In einer Region konnen theoretisch Millionen Fische einer bestimmten Art leben, aber wenn sie sich in der Dunkelheit halten, bekommen wir sie nicht zu Gesicht.
Und hier haben wir es mit intelligenten Wesen zu tun! Wir werden sie nie beobachten konnen, solange sie es nicht wollen. — Der zweite Grund ist, dass wir keine Vorstellung davon haben, wie diese Wesen aussehen. Wir haben einige ratselhafte Phanomene auf Video gebannt, die blaue Wolke, die blitzartigen Entladungen, das Ding am norwegischen Kontinentalhang. Sind sie Ausdruck einer fremden Intelligenz? Was ist diese Gallerte? Was sind das fur Gerausche, die Murray Shankar nicht zuordnen kann?
— Und es gibt einen dritten Grund. Fruher dachte man, nur die obere, sonnendurchflutete Schicht der Meere sei bewohnbar. Inzwischen wissen wir, dass es in allen Schichten von Leben wimmelt. Noch in elftausend Metern Tiefe herrscht Leben. Fur viele Organismen gibt es nicht den geringsten Grund, sich weiter oben anzusiedeln. Die meisten konnten es gar nicht, weil ihnen das Wasser zu warm ware, der Druck zu gering, weil ihnen nicht die Nahrung zur Verfugung stunde, die sie benotigen. Wir wiederum haben die oberen Wasserschichten erkundet, aber tief unten waren eben mal ein paar Menschen in gepanzerten Tauchbooten und einige Roboter. Wenn wir diese gelegentlichen Ausfluge mit den beruhmten Stecknadeln vergleichen, mussen wir uns einen Heuhaufen von der Gro?e unseres Planeten vorstellen. — Es ist, als wurden Au?erirdische in einem Raumschiff Kameras zur Erde hinunterlassen, deren Objektive nur abbilden konnen, was im Umkreis weniger Meter zu sehen ist. Eine dieser Kameras filmt ein Stuckchen mongolische Steppe. Eine andere macht Momentaufnahmen aus der Kalahari, und eine dritte wird uber der Antarktis heruntergelassen. Eine weitere schafft es tatsachlich in eine Gro?stadt, sagen wir in den New Yorker Central Park, wo sie ein paar Quadratmeter Grunzeug aufnimmt und einen Hund, der einen Baum anpinkelt. Zu welchem Schluss wurden die Au?erirdischen gelangen? — Ein unbesiedelter Planet, auf dem sporadisch primitive Lebensformen anzutreffen sind.«
»Was ist mit ihrer Technologie«, fragte Oliviera. »Sie mussen uber eine Technologie verfugen, um das alles zu bewerkstelligen.«
»Auch daruber habe ich mir Gedanken gemacht«, erwiderte Johanson. »Ich glaube, dass es eine Alternative zu einer Technologie wie der unseren gibt. Wir verarbeiten tote Materie zu technischen Geratschaften, zu Hausern, Fortbewegungsmitteln, Radio, Kleidung und so weiter. Aber Meerwasser ist ungleich aggressiver als Luft. Da unten zahlt nur eines: die optimale Anpassung. Und optimal angepasst sind in der Regel Lebensformen, also konnten wir uns eine reine Biotechnologie vorstellen. Wenn wir von einer hohen Intelligenz ausgehen, werden wir auch ein hohes Ma? an Kreativitat voraussetzen konnen und eine genaue Kenntnis der Biologie mariner Organismen. — Ich meine, was tun denn wir? Menschen machen sich seit Jahrtausenden andere Lebewesen zunutze. Pferde sind lebende Motorrader. Hannibal zog mit biologischen Schwerlastern uber die Alpen. Immer schon wurden Tiere abgerichtet. Heute werden sie genetisch verandert. Wir klonen Schafe und bauen genveranderten Mais an. Was, wenn wir diesen Gedanken weiterentwickeln? Hin zu einer Rasse, die ihre Kultur und Technologie ausschlie?lich auf biologischer Basis errichtet hat! Sie zuchten einfach, was sie brauchen. Fur das tagliche Leben, zur Fortbewegung, zur Kriegsfuhrung.«
»Du lieber Himmel«, stohnte Vanderbilt.
»Wir zuchten Ebola— und Pesterreger und experimentieren mit Pocken herum«, fuhr Johanson fort, ohne den CIA-Mann zu beachten. »Also mit Lebewesen. Noch packen wir sie in Sprengkopfe, aber das ist umstandlich, und eine Rakete, selbst wenn sie satellitengesteuert ist, kommt nicht unbedingt ins Ziel. Wurden wir Hunde abrichten, die solche Erreger in sich tragen, ware das vielleicht der effizientere Weg, Schaden anzurichten. Oder Vogel. Insekten meinetwegen! Was wollen Sie gegen einen virenverseuchten Muckenschwarm oder kontaminierte Ameisen ausrichten? Oder gegen Millionen Krabben, die Killeralgen transportieren?« Er machte eine Pause. »Diese Wurmer am Kontinentalhang wurden gezuchtet. Kein Wunder, dass wir sie nie zuvor gesehen haben. Es hat sie nicht gegeben. Ihr Zweck besteht darin, Bakterien ins Eis zu transportieren, also haben wir es gewisserma?en mit Cruise Missiles aus der Familie der Polychaten zu tun. Mit Biowaffen, die von jemandem entwickelt wurden, dessen gesamte Kultur auf der Manipulation organischen Lebens beruht. — Und schon erhalten wir auf einen Schlag die Erklarung fur samtliche Mutationen! Einige Tiere wurden nur geringfugig verandert, andere stellen etwas vollig Neues dar. Diese Gallerte beispielsweise: Sie ist ein biologisches, hochst wandelbares Produkt, aber ganz bestimmt kein Ergebnis naturlicher Auslese. Auch sie erfullt einen Zweck. Sie steuert andere Lebewesen, indem sie ihre neuronalen Netze befallt. Irgendwie verandert sie das Verhalten der Wale. — Die Krabben und Hummer hingegen wurden von Anfang an auf ihre blo?en mechanischen Funktionen reduziert. Leere Hullen mit Resten von Nervenmasse. Die Gallerte steuert sie, und als Fracht sind Killeralgen mit an Bord. Wahrscheinlich haben diese Krabben nie wirklich gelebt. Sie wurden als organische Raumanzuge gezuchtet, um in den Outer Space vorsto?en zu konnen, in unsere Welt.«
»Dieses Zeug, diese Gallerte«, sagte Rubin, »konnte die nicht ebenso gut ein Mensch gezuchtet haben?«
»Kaum.« Anawak mischte sich ein. »Was Dr. Johanson sagt, ergibt fur mich mehr Sinn. Wenn ein Mensch dahinter steckt, warum wahlt er dann den Umweg durch die Tiefsee, um Stadte zu verseuchen?«
»Weil Killeralgen im Meer vorkommen.«
»Warum probiert er’s nicht mit was anderem? Wer Killeralgen zuchten kann, die giftiger als Pfiesteria sind, wird doch irgendeinen Erreger finden, der nicht erst durchs Wasser muss. Wozu zuchtet er Krabben, wenn er es mit Ameisen oder Vogeln oder meinethalben Ratten schaffen konnte?«
»Mit Ratten erzeugt er keine Tsunamis.«
»Das Zeug kommt aus einem menschlichen Labor«, beharrte Vanderbilt. »Es ist eine synthetische Substanz …«
»Das glaube ich nicht«, rief Anawak. »Nicht mal der Navy traue ich so was zu, und die ist wei? Gott fit darin, Meeressauger zu verbiegen.«
Vanderbilt schuttelte den Kopf, als sei er von der Parkinson’schen Krankheit befallen.
»Was reden Sie da?«
»Ich rede von Experimenten, die unter dem Begriff MKO durchgefuhrt wurden.«
»Nie gehort.«
»Wollen Sie abstreiten, dass die Navy seit Jahren versucht, die Gehirnstrome von Delphinen und anderen Meeressaugern zu manipulieren, indem man Elektroden in die Schadeldecke einfuhrt und …«
»So ein Quatsch!«
»Was aber bislang nicht klappte. Jedenfalls nicht wie gewunscht, also studiert man die Arbeit von Ray Kurzweil …«
»Kurzweil?«
»Eine der Koryphaen auf dem Gebiet der Neuroinformatik«, warf Fenwick ein, und plotzlich erhellten sich seine Zuge. »Und Kurzweil hat eine Vision entwickelt, die uber den heutigen Stand der Hirnforschung weit hinausgeht. Wenn man wissen will, wozu Menschen diesbezuglich in der Lage sind … nein, mehr noch, seine Arbeit konnte Aufschluss daruber geben, wie eine fremde Intelligenz vorgehen wurde!« Fenwick geriet sichtlich in Wallung. »Kurzweils Neuronencomputer! Das ist in der Tat eine Moglichkeit.«