Sein Reisewecker riss ihn aus dem Schlaf.
Als er vor die Polar Lodge trat, stand die Sonne deutlich tiefer, aber sie schien immer noch hell und freundlich. Uber die Eisflachen des Inlet sah er Mallikjuaq zum Greifen nahe. Die Lodge lag im au?ersten Nordosten von Cape Dorset, der Friedhof auf der entgegengesetzten Seite des Orts. Anawak sah auf die Uhr. Reichlich Zeit. Er hatte mit Akesuk vereinbart, dass ihn der Onkel in seinem Pickup mitnahm. Gleich neben der Lodge an der Stra?e, die zum Strand fuhrte, lag der Polar Supply Store. Bei naherem Hinsehen fiel Anawak auf, dass der Laden zugleich ortliche Paketauslieferung, Fahrzeugverleih und Autoreparaturwerkstatt war. Das Gebaude war ihm von fruher in Erinnerung, aber das Schild war neu, und als Anawak eintrat, kamen ihm die zwei Manner hinter der Theke fremd vor. Sie waren beide keine Inuit. Er stoberte ein bisschen herum. Es war gemutlich und ramschig im Innern, und es gab fast alles, von getrockneten Karibu-Wursten bis zu warmen Stiefeln. Im hinteren Teil stapelten sich Lithographien und Skulpturen.
Nicht seine Welt.
Er ging und schlenderte die Stra?e entlang in Richtung Zentrum. Vor einem Haus sa? ein alter Mann an einem fu?hohen Lattengestell und bearbeitete die Statuette eines Seetauchers, ein Stuck weiter war eine Frau damit befasst, einen Falken aus wei?em Marmor zu schleifen. Beide gru?ten ihn, und Anawak gru?te im Weitergehen zuruck. Er spurte, wie ihre Blicke ihm folgten. Seine Ankunft musste wie ein Lauffeuer durch den Ort gegangen sein. Ihn vorzustellen ware gar nicht notig gewesen. Jeder wusste, dass der Sohn des verstorbenen Manumee Anawak in Cape Dorset eingetroffen war, und vermutlich zerfetzten sie sich bereits die Mauler daruber, warum er im Hotel wohnte und nicht unter dem Dach seines Onkels.
Akesuk wartete vor dem Haus auf ihn. Sie fuhren die paar hundert Meter zur anglikanischen Kirche, vor der sich bereits eine ziemliche Menschenmenge versammelt hatte.
Anawak fragte, ob sie alle seines Vaters wegen da waren.
Akesuk sah ihn verwundert an. »Naturlich. Was dachtest du denn?«
»Ich wusste nicht, dass er so viele … Freunde hat.«
»Es sind die Menschen, mit denen er lebte. Ob Freunde oder nicht, was spielt das fur eine Rolle? Wenn jemand stirbt, geht er von allen, und alle gehen das letzte Stuck mit ihm.«
Die Beisetzung war kurz und unsentimental. Anawak hatte im Vorfeld viele Hande zu schutteln. Leute, die er nie zuvor gesehen hatte, kamen auf ihn zu und umarmten ihn. Ein Reverend las aus der Bibel und sprach ein Gebet, dann wurde der Sarg in eine flache Grube gelassen, eben tief genug, um ihn aufzunehmen, und mit blauer Kunststofffolie abgedeckt. Manner begannen Steine darauf zu schichten. Das Kreuz am Ende der Grube sa? windschief im harten Boden wie alle Kreuze auf dem Friedhof. Akesuk druckte Anawak eine kleine Holzkiste mit verglastem Deckel in die Hand, in der ein paar verschossene Kunstblumen nebst einem Packchen Zigaretten und dem in Metall gefassten Zahn eines Baren lagen. Er stupste ihn an, und gehorsam trottete Anawak zum Grab und legte die Kiste unter das Kreuz.
Akesuk hatte wissen wollen, ob er seinen Vater noch einmal zu sehen wunsche, aber Anawak hatte abgelehnt. Wahrend der Reverend sprach, versuchte er sich vorzustellen, wer der Mann war, der in dem Sarg lag, und dass uberhaupt jemand darin lag. Plotzlich wurde ihm bewusst, dass der Tote keinen weiteren Fehler mehr begehen konnte. Sein Vater hatte sich endgultig in die Nichtexistenz verabschiedet und damit in ein Stadium jenseits aller Schuld und Unschuld. Was immer er zu Lebzeiten getan oder versaumt hatte, verlor jede Bedeutung angesichts des schmucklosen Sarges in der kalten Erde. Schon zuvor hatte es keine Rolle mehr gespielt. Fur Anawak war der alte Mann vor so vielen Jahren gestorben, dass ihm die Beisetzung lediglich als uberfalliges Zeremoniell erschien.
Er gab sich keine Muhe, etwas zu empfinden. Er wunschte nur, so schnell wie moglich von hier fortzukommen.
Zuruck nach Hause.
Wo war das?
Mit einem Mal, wahrend die Gemeinde um ihn herum ein Lied anstimmte, beschlich ihn ein eisiges Gefuhl von Verlassenheit und Panik. Es lag nicht an der arktischen Kalte, dass es ihn zu schutteln begann. Er hatte an Vancouver und Tofino gedacht, aber da war kein Zuhause.
Anawak blickte in ein schwarzes Loch.
Sein Gesichtsfeld begann sich einzuengen, Spiralen drehten sich vor seinen Augen. Die Schwarze kam uber ihn wie eine Woge, gewaltig und unabwendbar. Wie ein Tier sa? er in der Falle, ohne Ausweg, und musste mit ansehen, wie sie sich auf ihn herabsenkte.
»Leon.«
Rasende Angst durchfuhr ihn.
»Leon!«
Akesuk hatte ihn am Arm gepackt. Anawak sah verwirrt in das faltige Gesicht mit dem silberfarbenen Schnurrbart.
»Ist alles in Ordnung, Junge?«
»Ja, sicher«, murmelte er.
»Guter Gott! Kannst dich ja kaum auf den Beinen halten«, sagte Akesuk mitleidig. Viele der Trauergaste schauten heruber.
»Es geht schon. Danke, Iji. Es geht.«
Er sah den Leuten an, was sie dachten, und sie lagen meilenweit daneben. Aus ihren Blicken sprach Trauerroutine. An Grabern geliebter Menschen bricht man eben zusammen. Auch wenn man ein Inuk ist und stolz darauf, vor nichts und niemandem zu kapitulieren.
Au?er vielleicht vor Alkohol und Drogen.
Anawak fuhlte, wie ihm ubel wurde.
Er wandte sich ab und verlie? den Friedhof mit schnellen Schritten. Sein Onkel hielt ihn nicht zuruck. Vor der Kirche, als er das fest gestampfte Erdreich der Stra?e unter seinen Fu?en spurte, uberkam ihn der Drang wegzulaufen, aber er lief nicht. Er ging ein paar Schritte hierhin, dorthin, mit wild schlagendem Herzen. Er wusste nicht, wohin er hatte laufen sollen. Keine Richtung war fur ihn bestimmt.
Er nahm ein fruhes Abendessen in der Polar Lodge ein. Mary-Ann hatte etwas vorbereitet, aber Anawak erklarte seinem Onkel, er wolle allein sein. Der Alte nickte nur knapp und fuhr ihn zum Hotel. Er sah traurig aus und nicht so, als kaufe er Anawak den Wunsch nach stiller Einkehr mit sich und seinem Vater ab.
Stundenlang lag Anawak auf einem der beiden Einzelbetten in seinem Zimmer und starrte in den laufenden Fernseher. Er fragte sich, wie er einen weiteren Tag in Cape Dorset uberstehen und sich zugleich die Erinnerungen vom Leib halten sollte. Er hatte sich fur zwei Nachte eingebucht, weil damit zu rechnen war, dass es einen Nachlass und irgendwelche Formalitaten zu regeln gab, aber Akesuk hatte sich bereits um alles gekummert. Im Grunde war er nutzlos. Ebenso gut konnte er sofort wieder abreisen.
Er beschloss, die zweite Nacht zu canceln. Ein Ruckflug nach Iqaluit wurde sich kurzfristig einrichten lassen. Mit etwas Gluck ergatterte er einen Platz in der Boeing, die ihn zuruck nach Montreal flog. Einmal dort, war es ihm egal, wie lange er auf den Anschlussflug zu warten hatte. Montreal war sehenswert und vor allen Dingen weit weg von diesem schrecklichen Ende der Welt namens Cape Dorset.
Schlie?lich uberkam ihn der Schlaf.
Anawak schlief, aber sein Geist versuchte weiterhin, Nunavut zu entrinnen. Er sah sich im Flugzeug sitzen und uber Vancouver kreisen. Unablassig kreisten und kreisten sie und warteten auf die Erlaubnis, tiefer gehen zu durfen, aber der Tower verweigerte die Landung. Der Pilot drehte sich zu Anawak um und sagte: »Wir durfen hier nicht landen. Sie konnen nicht nach Vancouver, und nach Tofino konnen Sie auch nicht.«
»Warum?«, rief Anawak. »Warum konnen wir nicht landen?«
»Die Bodenkontrolle meint, es sei Ihretwegen. Die sagen, Sie sind hier nicht zu Hause.«
»Aber ich lebe in Vancouver. Ich wohne in Tofino auf einem Schiff.«
»Wir haben nachgefragt. Sie wohnen nirgendwo dort. Kein Leon Anawak ist da unten bekannt. Die Bodenkontrolle sagt, ich soll Sie nach Hause bringen, also wohin soll ich fliegen?«
»Ich wei? es nicht.«
»Sie mussen doch wissen, wo Sie zu Hause sind.«