Anawak verga? alles um sich herum.

Er schaute die bizarre Schonheit der hohen Arktis. Riesige, schneewei?e Kristallgebilde ragten aus der wei?en Ebene des Sound hervor. Eisberge, die festgefroren waren. Unter ihnen liefen winzig zwei Polarbaren dahin, wie gejagt vom Schatten der Turbo-Prop auf der Eisoberflache. Schimmernde Punkte stoben auf, Mowen. Ein ganzes Stuck weiter erhoben sich die gewaltigen Steilhange und Gletscher der Insel Bylot. Dann hielten sie tiefer gehend auf ein neues Ufer zu, braun marmorierte Landschaft kam naher, Hauser einer Siedlung, eine Landepiste — Pond Inlet, Mittimatalik in der Sprache der Inuit, Wo Mittimata sich befindet.

Grell stand die Sonne uber dem nordwestlichen Horizont. Sie wurde nicht untergehen um diese Jahreszeit, nur gegen zwei Uhr morgens fur wenige Minuten den Horizont beruhren. Es war neun Uhr abends, als sie ihr Ziel erreichten, aber Anawak hatte jegliches Zeitgefuhl verloren. Er sah auf die Platze seiner Kindheit, und etwas Schweres schien von seiner Brust genommen.

Akesuk hatte Recht gehabt. Sein Onkel hatte geschafft, was Anawak noch vor vierundzwanzig Stunden fur unmoglich gehalten hatte.

Er hatte ihn heimgebracht.

Pond Inlet war von ahnlicher Gro?e und Einwohnerzahl wie Cape Dorset und dennoch ganz anders als der Suden. Seit uber 4000 Jahren war die Region ununterbrochen besiedelt gewesen. Niemand hier hatte sich zu architektonischen Wagnissen verstiegen wie in Iqaluit. Akesuk erklarte, dass die Inuit in diesem Teil Nunavuts wesentlich mehr Wert auf Traditionen legten als irgendwo sonst. Vorsichtig fugte er hinzu, dass hier oben auch der Schamanismus noch eine gewisse Rolle spiele, obwohl naturlich alle glaubige Christen seien! Als Anawak nicht darauf einging, lie? er das Thema fallen und begann, eine Reihe von Dingen aufzuzahlen, die sie tags drauf in den Supermarkten des Ortes zu erstehen hatten.

Sie blieben die Nacht uber im Hotel. Fruh morgens weckte ihn Akesuk, und sie gingen zum Ufer hinunter. Der Onkel sah witternd hinaus und meinte, sie wurden das gute Wetter behalten und einer ordentlichen Jagd entgegensehen.

»Der Fruhling hat nicht lange auf sich warten lassen«, stellte er befriedigt fest. »Im Hotel sagen sie, bis zur Packeisgrenze ist es ein halber Tag— Vielleicht einer, je nachdem.«

»Je nach was?«

Akesuk zuckte die Achseln.

»Alles Mogliche kann passieren. Je nachdem halt. Du wirst eine Menge Tiere zu sehen bekommen, Wale, Robben, Polarbaren. Der Eisaufbruch ist in diesem Jahr fruher gekommen als sonst.«

Das wundert mich nicht, dachte Anawak, bei dem, was augenblicklich geschieht.

Die Gruppe umfasste zwolf Leute. Einige kannte Anawak aus dem Flugzeug, andere lernte er in Pond Inlet kennen. Akesuk besprach sich mit den beiden Fuhrern. Sie stellten das Gepack fur die Tour zusammen und deponierten im Lagerraum des Hotels, was sie nicht unmittelbar brauchten. Inzwischen standen vier Qamutiks bereit, die fur die Reise vorbereitet worden waren. In Anawaks Erinnerung waren die traditionellen Schlitten von Hunden gezogen worden, jetzt hatte man Schneemobile, Skidoos, mit Doppelseilen vorgespannt. Die Qamutiks selber sahen aus wie fruher: Vier Meter lang, mit zwei holzernen, hoch gebogenen Kufen und einer Vielzahl stramm verknupfter Querlatten, wiesen sie nirgendwo eine einzige Schraube oder einen Nagel auf. Der komplette Schlitten wurde von Seilen und Riemen zusammengehalten, was Reparaturen erheblich vereinfachte. Auf drei Qamutiks waren holzerne, nach oben offene Kabinen als Wetterschutz montiert, der Vierte diente als Packschlitten.

»Du bist nicht warm genug angezogen«, gab Akesuk mit Blick auf Anawaks Anorak zu verstehen.

»Wieso? Ich hab aufs Thermometer gesehen. Es sind sechs Grad uber null.«

»Du vergisst den Fahrtwind. Hast du zwei Paar Socken in deinen Stiefeln? Wir sind hier nicht in Vancouver.«

Er hatte tatsachlich so vieles vergessen. Das Gefuhl dafur, wie es war, in die Kalte hinauszufahren, stellte sich erst allmahlich wieder ein. Es war beinahe beschamend. Naturlich waren kalte Fu?e das Hauptproblem, sie waren es immer gewesen. Er streifte ein zweites Paar Socken uber und einen weiteren Pullover, bis er sich vorkam wie eine wandelnde Tonne. Alle Teilnehmer der Reise hatten etwas von Astronauten mit ihrer Schutzkleidung und den Schneebrillen.

Akesuk ging mit den Fuhrern ein letztes Mal die Ausrustung durch.

»Schlafsacke, Karibufelle …«

Seine Augen glanzten. Der dunne, graue Schnurrbart schien sich zu strauben vor Vergnugen. Anawak sah ihm zu, wie er geschaftig von Schlitten zu Schlitten lief. Ijitsiaq Akesuk war ganz anders als sein Vater. In seiner Gesellschaft kam den Inuit und ihrer Lebensweise plotzlich wieder Bedeutung zu.

Seine Gedanken wanderten zu der Macht tief unten im Meer.

Mit dem Beginn ihrer Reise ubers Eis wurden sie einzig den Regeln der Natur folgen. Um hier drau?en zu bestehen, brauchte man eine gewisse pantheistische Grundhaltung. Man durfte sich nicht wichtig nehmen. Man war nicht wichtig, sondern Bestandteil der beseelten Welt, die sich in Tieren, Pflanzen und im Eis manifestierte und gelegentlich auch in Menschen.

Und in den Yrr, dachte er. Wer immer sie sind, wie immer sie aussehen, wie und wo immer sie leben.

Es gab einen leichten Ruck, als das Schneemobil anfuhr, in dessen Schlitten Anawak, Akesuk und seine Frau Platz gefunden hatten, und sie glitten uber das vereiste und verschneite Meer. Vereinzelt waren breite Wasserlachen zu sehen. Der Schmelzprozess hatte schon hier und da eingesetzt, aber er beschrankte sich auf die oberen Schichten. Sie umrundeten den Uferhugel von Pond Inlet und hielten weiter auf Nordosten zu, bis sie einige Kilometer Abstand zwischen sich und die Kuste Baffin Islands gebracht hatten, die sudlich aus der Eisflache wuchs. Auf der gegenuberliegenden Seite reckten sich die Felsen von Bylot Island in den Himmel, umgeben von Eisbergen. Eine gewaltige Gletscherzunge erstreckte sich aus den Gipfeln hinunter zum Ufer. Anawak machte sich klar, dass sie nicht Land, sondern die gefrorene Kruste des Meeres uberquerten. Unter ihnen schwammen Fische. Hin und wieder hoben die Kufen des Qamutik ab, wenn sie uber Unebenheiten rumpelten und knallten hart wieder auf, aber der Schlitten federte den Aufprall ab.

Nach einer Weile anderten die beiden Inuit in dem zuvorderst fahrenden Qamutik die Fahrtrichtung, und der Tross folgte. Einen Moment war Anawak verwirrt, dann sah er, dass sie eine klaffende Eisspalte umfuhren, die zu gro? war, als dass man sie mit den Schlitten hatte uberqueren konnen. Jenseits der blaulichen Kante war schwarzes, unergrundliches Meerwasser zu erkennen.

»Das kann ein bisschen dauern«, meinte Akesuk.

»Ja, es kostet Zeit«, nickte Anawak, der sich erinnerte, wie oft sie an solchen Spalten entlanggefahren waren.

Akesuk krauste die Nase.

»Nein. Warum sollte es welche kosten? Wir opfern keine Zeit. Wir behalten sie, ob wir nun direkt nach Osten fahren oder erst ein Stuck weiter nordlich. Hast du alles vergessen? Hier oben ist nicht wichtig, wie schnell du ankommst. Wenn du einen Umweg fahrst, findet dein Leben trotzdem statt. Keine Zeit ist verloren.«

Anawak schwieg.

»Vielleicht«, fugte sein Onkel lachelnd hinzu, »war das unser gro?tes Problem im vergangenen Jahrhundert, dass uns die Quallunaaq die Zeit gebracht haben. Wir mussten lernen, dass es auch vergeudete Zeit gibt. Die Quallunaaq denken, Warten sei verlorene Zeit und damit verlorene Lebenszeit. Ich schatze, als du klein warst, haben wir das alle geglaubt. Auch dein Vater hat es geglaubt, und weil er keine Moglichkeit sah, etwas Sinnvolles und Wertvolles zu tun, kam er zu der Uberzeugung, sein Leben sei wertlos, weil es aus ungenutzter, vergeudeter Zeit bestand. Wertlose Lebenszeit. Ein wertloses Leben.«

Anawak sah ihn an. »Du solltest nicht ihn bedauern, sondern meine Mutter«, sagte er.