»Tauschen Sie sich nicht«, sagte er. »Hier ist jede Menge los.«
Sein Haar, das unordentlich unter der Kappe hervorkringelte, zitterte im kuhlen Passatwind. Der Himmel spiegelte sich in seiner getonten Brille. Er glich wie ublich einer Mischung aus Fred Feuerstein und Terminator, wie er da stand, und seine Stimme donnerte mitten hinein in die Stille des Hangs mit seinen friedlichen Kiefernhainen, als wolle er die nachsten zehn Gebote verteilen.
»Wir stehen hier, weil der Vulkanismus die Kanaren vor zwei Millionen Jahren ins Meer gespien hat. Alles hier macht einen sehr idyllischen Eindruck, aber das tauscht. Unten in Tijarafe — hubsches kleines Nest ubrigens, kostliche quesos de almendras! — feiern sie am 8. September das Teufelsfest, und der Teufel rennt krachend und Feuer spuckend uber den Dorfplatz. Warum tut er das? Weil die Inselbewohner ihren Cumbre kennen. Weil Krachen und Feuerspucken zum Alltag gehoren. Die Intelligenz, der wir das Gewurm verdanken, wei? es ebenfalls. Sie wei?, wie die Insel entstanden ist. — Und wer solche Dinge wei?, kennt im Allgemeinen auch die Schwachstellen.«
Frost ging ein paar Schritte zur Kante des Hangs. Das brockelige Lavagestein knirschte unter seinen Doc-Martens-Stiefeln. Tief unter ihnen brachen sich glitzernd die Atlantikwellen.
»1949 ist der Cumbre Vieja nochmal so richtig schon zum Leben erwacht, der alte, schlafende Hund, genauer gesagt einer seiner Krater, der Vulkan von San Juan. Mit blo?em Auge ist es kaum auszumachen, aber seitdem durchzieht ein mehrere Kilometer langer Riss den Westhang zu unseren Fu?en. Moglicherweise reicht er bis in die untere Struktur La Palmas. Teile des Cumbre Vieja sind damals etwa vier Meter in Richtung Meer abgesackt. Ich habe das Gebiet in den letzten Jahren oft vermessen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Westflanke mit der nachsten Eruption vollends wegbricht, weil einige Gesteinsschichten enorm viel Wasser enthalten. Sobald neue, hei?e Magma im Vulkanschlot hochsteigt, wird sich dieses Wasser sto?artig ausdehnen und verdampfen. Der entstehende Druck konnte die instabile Seite muhelos absprengen, au?erdem drucken die Ost— und die Sudflanke dagegen. Als Folge wurden rund 500 Kubikkilometer Gestein abrutschen und ins Meer sturzen.«
»Davon habe ich gelesen«, sagte van Maarten. »Offizielle Vertreter der Kanaren halten die Theorie fur fragwurdig.«
»Fragwurdig«, donnerte Frost wie die Posaunen von Jericho, »ist hochstens, dass sie sich in allen offiziellen Verlautbarungen um eine klare Stellungnahme drucken, um keine Touristen zu verschrecken. Der Menschheit wird dieses Kapitel nicht erspart bleiben. Ein paar kleinere Beispiele hat es schon gegeben. 1741 explodierte in Japan der Oshima-Oshima und erzeugte 30 Meter hohe Wellen. Ahnlich hoch waren sie, als 1888 auf Neu Guinea Ritter Island kollabierte, und der damals abgesturzte Fels betrug gerade mal ein Prozent dessen, was wir hier zu erwarten hatten! Der Kilauea auf Hawaii wird schon seit Jahren durch ein Netz von GPS-Stationen uberwacht, die jede kleinste Bewegung registrieren, und er bewegt sich! Die Sudostflanke rutscht zehn Zentimeter pro Jahr zu Tal, und wehe, wenn sie Fahrt aufnimmt. Das mag sich keiner von uns vorstellen. Nahezu jeder Inselvulkan neigt dazu, mit zunehmendem Alter immer steiler zu werden. Wenn er zu steil wird, bricht ein Teil von ihm ab. Die Regierung von La Palma stellt sich blind und taub. Die Frage ist nicht, dass es passiert, sondern wann es passiert. In hundert Jahren? In tausend? Einzig das wissen wir nicht. Die hiesigen Vulkanausbruche pflegen sich nicht anzukundigen.«
»Was geschieht, wenn der halbe Berg ins Meer sturzt?«, fragte die Reprasentantin.
»Die Gesteinsmasse wird Unmengen von Wasser verdrangen«, sagte Bohrmann, »die sich immer hoher aufturmen. Der Aufprall erfolgt mit schatzungsweise 350 Stundenkilometern. Das Geroll wurde 60 Kilometer weit ins offene Meer hineinreichen, wodurch das Wasser nicht einfach uber das Gestein zuruckfluten kann. Es kommt zur Bildung einer riesigen Luftblase, die noch weit mehr Wasser verdrangt als der absturzende Fels. Was nun geschieht, daruber gehen die Meinungen tatsachlich ein bisschen auseinander, allerdings gibt keine der Varianten Anlass zu guter Laune. In unmittelbarer Nahe von La Palma wird der Abbruch eine Riesenwelle erzeugen, deren Hohe zwischen 600 und 900 Metern liegen durfte. Sie rast mit etwa 1000 Stundenkilometern los. Im Gegensatz zu Erdbeben sind Bergsturze und Erdrutsche Punktereignisse. Die Wellen werden sich radial uber den Atlantik ausbreiten und ihre Energie verteilen. Je weiter sie sich vom Ausgangspunkt entfernen, desto flacher werden sie.«
»Klingt trostlich«, murmelte der Technische Leiter.
»Nur bedingt. Die Kanarischen Inseln werden im selben Augenblick ausgeloscht. Eine Stunde nach dem Abbruch trifft ein 100 Meter hoher Tsunami auf die afrikanische West-Sahara-Kuste. Zum Vergleich: Der in Nordeuropa hat in den Fjorden 40 Meter erreicht, und das Ergebnis ist bekannt. Sechs bis acht Stunden spater uberrollt eine 50 Meter hohe Welle die Karibik, verwustet die Antillen und uberschwemmt die Ostkuste der USA zwischen New York und Miami. Unmittelbar darauf prallt sie mit gleicher Wucht gegen Brasilien. Kleinere Wellen erreichen Spanien, Portugal und die Britischen Inseln. Die Auswirkungen waren verheerend, auch fur Zentraleuropa, wo die komplette Okonomie zusammenbrechen wurde.«
Die De-Beers-Leute wurden blass. Frost grinste in die Runde. »Hat zufallig jemand Deep Impact gesehen?«
»Den Film? Diese Welle war aber doch viel hoher«, sagte die Reprasentantin. »Mehrere hundert Meter.«
»Um New York auszuloschen, reichen 50 Meter. Beim Aufprall wird so viel Energie freigesetzt, wie die gesamten Vereinigten Staaten in einem Jahr verbrauchen. Die Hohe der Hauser mussen Sie in Ihrer Betrachtung vernachlassigen, ein Tsunami ist ein Problem fur die Fundamente. Der Rest sturzt einfach ein, wie hoch er auch gebaut sein mag. Und keiner von uns ist Bruce Willis, wenn ich das hinzufugen darf.« Er machte eine Pause und zeigte den Hang hinab. »Um die hiesige Westflanke zu destabilisieren, brauchen Sie entweder einen Ausbruch des Cumbre Vieja oder eine unterseeische Rutschung. Daran arbeiten die Wurmer. Sozusagen an einer Miniausgabe dessen, was sie in Nordeuropa angerichtet haben, aber es durfte reichen, um einen Teil der untermeerischen Vulkansaule abrutschen und in die Tiefe sturzen zu lassen. Die Folge ware ein kleines Erdbeben, genug, um die Statik des Cumbre durcheinander zu bringen. Moglicherweise fuhrt dieses Erdbeben sogar zu einer Eruption, auf alle Falle wird der Westhang seinen Halt verlieren. So oder so, es wird rappeln. Die Katastrophe wird eintreten. Vor Norwegen haben die Wurmer ein paar Wochen gebraucht, hier konnte es schneller gehen.«
»Wie viel Zeit bleibt uns?«
»So gut wie keine. Die raffinierten kleinen Biester haben sich Stellen im Ozean gesucht, auf die man nicht gleich kommt. Sie nutzen die Fortpflanzungsfahigkeit von Impulswellen im offenen Meer. Die Nordsee war ein Treffer, aber so richtig dreckig geht’s der menschlichen Zivilisation erst, wenn am anderen Ende der Welt ein harmlos aussehendes kleines Inselchen kollabiert.«
Van Maarten rieb sich das Kinn.
»Wir haben einen Prototyp des Russels gebaut, der auf 300 Meter runtergehen kann. Er funktioniert. Mit gro?eren Tiefen haben wir bis jetzt keine Erfahrungen gemacht, aber …«
»Wir konnten den Russel verlangern«, schlug die Reprasentantin vor.
»Das mussten wir praktisch aus dem Hut zaubern. Aber gut, wenn wir alles andere stoppen … Was mir eher Sorgen bereitet, ist das dazugehorige Schiff.«
»Ich glaube kaum, dass Sie mit einem Schiff auskommen werden«, sagte Bohrmann. »Ein paar Milliarden Wurmer ergeben eine gewaltige Biomasse. Die mussen Sie irgendwohin pumpen.«
»Das ist nicht unser Problem. Wir konnen einen Pendelverkehr einrichten. Ich meine das Schiff, von dem aus wir den Russel steuern. Wenn wir ihn auf 400 oder 500 Meter verlangern, mussen wir ihn irgendwo lagern. Das ist ein halber Kilometer Schlauch! Bleischwer und um einiges dicker als ein Tiefseekabel, das Sie einfach in einem Schiffsbauch zusammenrollen konnen. Au?erdem, wenn der Russel bewegt wird, muss das Schiff stabil genug sein, um diese Bewegungen auszugleichen. Angriffe sollten uns nicht weiter angstigen, aber die Hydrostatik birgt ihre Tucken. Sie konnen den Schlauch nicht einfach backbord oder steuerbord raushangen lassen, ohne die Schwimmstabilitat zu gefahrden.«