»Wo ist Arviat?«, wollte Greywolf wissen.

»Arviat ist die sudlichste Siedlung von Nunavut«, erwiderte Anawak. »War der Name des Madchens Talilayuk?«

»Oh ja, sie hie? Talilayuk, so hie? sie«, fuhr Delaware mit einigem Pathos fort. »Sie hatte schones Haar, und viele Manner zeigten gro?es Interesse an Talilayuk, aber erst ein Hundemann konnte ihr Herz gewinnen. Talilayuk wurde schwanger und gebar Inuit und Nicht-Inuit, alles durcheinander. Bis eines Tages, als der Hundemann gerade Fleisch holen war, ein unglaublich gut aussehender Sturmvogelmann in einem Kajak vor Talilayuks Camp erschien. Er lud sie ein, zu ihm ins Boot zu steigen, und wie das so geht — sie brannten miteinander durch.«

»Das Ubliche.« Greywolf inspizierte das Objektiv einer Kamera. »Und wann kommen die Wale ins Spiel?«

»Langsam. — Irgendwann erscheint Talilayuks Vater auf Besuch, aber seine Tochter ist verschwunden, und der Hundemann heult rum. Der Alte rudert auf dem Meer umher, bis er zum Camp des Sturmvogelmannes kommt. Da sieht er sie schon von weitem vor dem Zelt sitzen und macht ein Riesentheater, sie solle sich auf der Stelle nach Hause scheren. Talilayuk steigt folgsam zu Papa ins Boot, und sie paddeln heimwarts. Nach einiger Zeit bemerken sie plotzlich, wie das Meer zu wogen beginnt. Die Wellen werden immer hoher, und plotzlich bricht ein gewaltiger Sturm los! Weit und breit kein Land in Sicht. Brecher schlagen ins Boot, und der Alte bekommt es mit der Angst zu tun, sie konnten sinken. Es ist die Rache des Sturmvogels, die uber sie gekommen ist, und Papa denkt, deswegen will ich nicht ersaufen. Und weil er ohnehin einen Rochus hat auf seine Tochter, die an dem ganzen Schlamassel schuld ist, packt er Talilayuk und sturzt sie uber Bord. Das Madchen klammert sich verzweifelt an den Bootsrand. Der Alte schreit, lass los, aber Talilayuk klammert sich nur noch fester an die Reling. Da packt ihn der Wahnsinn, er greift zum Beil, holt aus und schlagt ihr die vorderen Fingerglieder ab! Aber kaum beruhren die das Wasser, was glaubst du? Sie verwandeln sich in Narwale und die Fingernagel in Narwalsto?zahne. Talilayuk will nicht loslassen, also haut der Alte ihr auch noch die mittleren Fingerglieder ab, und sie werden zu Wei?walen, zu Belugas. Immer noch hangt das Madchen an der Reling. Die letzten Fingerglieder mussen dran glauben, und es entstehen lauter Robben daraus. Talilayuk gibt nicht auf. Selbst mit ihren Handstumpfen bringt sie es irgendwie noch fertig, sich ans Boot zu klammern, und es beginnt voll zu laufen. Da packt den Alten das Grauen! Er sto?t ihr das Paddel mitten ins Gesicht, haut ihr das linke Auge raus, und endlich lasst sie los und versinkt in den Wellen.«

»Rude Sitten.«

»Aber Talilayuk stirbt nicht, jedenfalls nicht richtig. Sie verwandelt sich in die Meeresgottin Sedna und herrscht seitdem uber die Tiere des Meeres. Einaugig gleitet sie durchs Wasser, die Armstumpfe von sich gestreckt, und sie hat immer noch sehr schones Haar, das sie ohne Hande leider nicht kammen kann. Darum ist es oft durcheinander, woran man sieht, dass sie zurnt. — Doch wer es schafft, ihr Haar zu kammen und zu einem Zopf zu flechten, der kann Sedna besanftigen, und dem gibt sie ihre Meerestiere zur Jagd frei.«

»Als ich klein war, in den langen Winternachten, ist diese Geschichte oft erzahlt worden, immer ein bisschen anders«, sagte Anawak leise.

»Hat sie dir gefallen?«

»Es hat mir gefallen, dass du sie erzahlt hast.«

Sie lachelte zufrieden. Anawak fragte sich, was sie auf die Idee gebracht hatte, die alte Legende von Sedna fur ihn auszugraben. Ihm schien mehr dahinter zu stecken als ein zufalliger Fund im Internet. Sie hatte nach so etwas gesucht. Es war tatsachlich ein Geschenk an ihn. Ein Beweis ihrer Freundschaft.

Irgendwie war er geruhrt.

»Blodsinn.« Greywolf pfiff den letzten Delphin heran, der noch nicht mit Kamera und Hydrophonen ausgestattet war. »Leon ist ein Mann der Wissenschaft. Dem kannst du mit Meeresgottinnen nicht kommen.«

»Euer damlicher Kleinkrieg«, sagte Delaware kopfschuttelnd.

»Au?erdem stimmt die Geschichte nicht. Wollt ihr wissen, wie wirklich alles entstanden ist? Es gab kein Land. Es gab nur einen Hauptling, der unter Wasser eine Hutte bewohnte. Er war ein fauler Sack, weil er niemals aufstand, sondern immer nur mit dem Rucken zum Feuer lag, in dem irgendwelche Kristalle verbrannten. Er lebte ganz alleine da unten, und sein Name war ›Der Wunderbare Macher‹. Eines Tages kam sein Gehilfe hereingeplatzt und meinte, die Geister und ubernaturlichen Wesen fanden kein Land, um sich darauf niederzulassen, und er solle seinem Namen gerecht werden und was dagegen machen. Als Antwort hob der Hauptling zwei Steine vom Boden und gab seinem Gehilfen beide mit der Anweisung, er solle sie ins Wasser werfen. Der tat, wie ihm gehei?en, und die Steine wuchsen und formten die Queen Charlotte Islands und das ganze Festland.«

»Danke«, grinste Anawak. »Endlich mal eine streng wissenschaftliche Erklarung.«

»Die Erzahlung stammt aus einem alten Haida-Zyklus: Hoya Kaganas, die Reisen des Raben«, sagte Greywolf. »Bei den Nootka gibt es ahnliche Geschichten. Viele drehen sich um das Meer. Entweder du entstammst ihm, oder es vernichtet dich.«

»Vielleicht sollten wir besser hinhoren«, meinte Delaware. »Falls wir mit der Wissenschaft nicht weiterkommen.«

»Seit wann interessierst du dich fur Mythen?«, wunderte sich Anawak.

»Es macht Spa?.«

»Du bist doch noch empirischer als ich.«

»Na und? Jedenfalls sagen die Mythen ziemlich klar, wie man friedlich mit der Natur zusammenlebt. Wen interessiert’s, ob ein Wort davon wahr ist? Du nimmst was und gibst was zuruck. Das ist die ganze Wahrheit.«

Greywolf grinste und tatschelte den Delphin. »Dann hatten wir die Probleme ja im Griff, was, Licia? Du musst einfach ein bisschen mehr Korpereinsatz zeigen.«

»Wieso denn das?«

»Ich kenne zufallig ein paar alte Brauche aus der Beringsee. Die haben es wie folgt gemacht: Bevor die Jager in See stachen, musste der Harpunenwerfer mit der Tochter des Kapitans schlafen, um ihren Vaginalgeruch anzunehmen. Nur der zog den Wal in die Nahe des Boots und besanftigte ihn, sodass er sich toten lie?.«

»Auf so was konnen wirklich nur Manner kommen«, sagte Delaware.

»Manner, Frauen, Wale …«, lachte Greywolf. »Hishuk ish ts’awalk — Alles ist eins.«

»Okay«, rief Delaware. »Tauchen wir zum Meeresgrund, suchen Sedna und kammen ihre Haare.« Alles ist eins, echote es in Anawaks Kopf. Akesuk hatte gesagt: Dieses Problem konnt ihr nicht mit Wissenschaft losen. Ein Schamane wurde dir sagen, dass ihr es mit Geistern zu tun bekommen habt, den Geistern der belebten Welt, die in den Wesen wandern. Die Quallunaat haben begonnen, das Leben zu vernichten. Sie haben die Geister gegen sich aufgebracht, die Meeresgottin Sedna. Wer immer deine Wesen im Meer sind, ihr werdet nichts erreichen, wenn ihr versucht, gegen sie vorzugehen. Vernichtet sie, und ihr vernichtet euch selber. Begreift sie als Teil von euch, und ihr teilt dieselbe Welt. Der Kampf um die Herrschaft lasst sich nicht gewinnen.

Hier schwammen sie mit Delphinen, wahrend Roscovitz und Browning ein Stuck weiter das Deepflight reparierten, und erzahlten einander alte Legenden von Geistern und Meeresgottinnen. Lachend paddelten sie umher, und ganz allmahlich, unmerklich, verloren ihre Korper die Warme an das Meerwasser, trotz Temperierung und schutzender Anzuge.

Wie sollten sie das Haar der Meeresgottin kammen? Bis heute hatten die Menschen nur Toxide und Atommull nach Sedna geworfen. Eine Olpest nach der anderen verklebte ihr Haar. Ohne zu fragen, hatten sie ihre Tiere gejagt und viele davon ausgerottet. Anawak spurte sein Herz klopfen im eisigen Wasser. Ihn frostelte. Etwas sagte ihm, dass dieser Moment des Glucks von kurzer Dauer sein wurde. Er hatte seinen Frieden mit so vielem gemacht, hatte Freunde gewonnen, fuhlte sich befreit vom Ballast falsch verstandenen Daseins.