Johanson nippte an seinem Glas.

»Ja, es ware fatal. Alleine, was die christlichen Kirchen ihren Glaubigen zu erklaren hatten. Dass Gottes Schopfung ihren Hohepunkt am funften Tag hatte und nicht am siebten.«

»Darf ich Sie was Personliches fragen?«

»Sicher.«

»Wie kommen Sie eigentlich mit alldem hier klar?«

»Solange es ein paar seltene Bordeaux gibt, sehe ich keine nennenswerten Schwierigkeiten.«

»Empfinden Sie keine Wut?«

»Auf wen?«

»Auf die da unten.«

»Sollten wir dieses Problem mit Wut losen?«

»Keineswegs, o Sokrates!« Oliviera grinste schief. »Es interessiert mich wirklich. Ich meine, die haben Ihnen Ihr Zuhause genommen.«

»Ja. Einen Teil davon.«

»Vermissen Sie es nicht schrecklich? Ihr Haus in Trondheim.«

Johanson schwenkte den Inhalt seines Glases.

»Weniger, als ich dachte«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Sicher, es war ein wunderschones Haus, voller wunderbarer Sachen — aber es enthielt nicht mein Leben. Man ist verblufft, wie leicht man sich von so einem Weinkeller losen kann und von einer gut sortierten Bibliothek. Au?erdem, so merkwurdig es klingt, ich hatte beizeiten losgelassen. Am Tag, als ich auf die Shetlands flog, muss ich mich wohl von meinem Haus verabschiedet haben, irgendwie, ohne es zu merken. Ich hab die Ture geschlossen und bin weggefahren, und in meinem Kopf war ebenfalls etwas abgeschlossen. Ich dachte, wenn du jetzt sterben musstest, was wurdest du am meisten vermissen? — Und es war nicht das Haus. Nicht dieses.«

»Gibt es noch eines?«

»Ja.« Johanson trank. »An einem See im Hinterland. Wenn man dort auf der Veranda sitzt und aufs Wasser schaut, Sibelius oder Brahms im Ohr, ein Schluck von diesem Zeug hier … das ist ganz was anderes. Diesen Platz vermisse ich wirklich.«

»Klingt schon.«

»Wissen Sie, warum ich das alles hier heil uberstehen mochte? Um dorthin zuruckzukehren.« Johanson griff nach der Flasche und fullte ihre Glaser auf. »Sie mussen dort gewesen sein und den Abendstern gesehen haben, wie er sich im Wasser spiegelt. Das vergessen Sie nicht. Ihre ganze Existenz bundelt sich in diesem einsamen Funkeln. Das Universum wird nach beiden Seiten durchlassig. — Eine au?erordentliche Erfahrung, aber man kann sie nur alleine machen.«

»Sind Sie nochmal dort gewesen nach der Welle?«

»Nur in der Erinnerung.«

Oliviera trank.

»Ich hatte Gluck bis jetzt«, sagte sie. »Keine Verluste zu beklagen. Freunde und Familie wohlauf, alles steht noch.« Sie hielt inne und lachelte. »Dafur hab ich kein Haus am See.«

»Jeder hat ein Haus am See.«

Es schien ihr, als wolle Johanson noch etwas hinzufugen. Stattdessen lie? er einfach nur den Wein in seinem Glas kreisen. So sa?en sie da, tranken Bordeaux und sahen zu, wie der Dunst ubers Meer zog.

»Ich habe eine Freundin verloren«, sagte Johanson schlie?lich.

Oliviera schwieg.

»Sie war ein bisschen kompliziert. Hat alles im Laufschritt gemacht.« Er lachelte. »Komisch, eigentlich haben wir uns erst so richtig gefunden, nachdem wir einander aufgegeben hatten. Na ja. Lauf der Dinge.«

»Das tut mir Leid«, sagte Oliviera leise.

Johanson nickte. Er sah sie an und dann an ihr vorbei. Sein Blick bekam etwas Starres. Oliviera runzelte die Stirn und wandte den Kopf.

»Ist irgendwas?«

»Ich hab Rubin da gesehen.«

»Wo?«

»Da druben.« Johanson zeigte zur mittschiffs gelegenen Wand des Hangars. »Er ist da reingegangen.«

»Reingegangen? Da ist nichts, wo man reingehen konnte.«

Das Ende der Halle lag in dusterem Zwielicht. Eine mehrere Meter hohe Wand schottete den Hangar zu den dahinter liegenden Decks ab. Oliviera hatte Recht. Nirgendwo dort gab es eine Tur.

»Ist vielleicht was in dem Wein?«, frotzelte sie.

Johanson schuttelte den Kopf. »Ich konnte schworen, dass es Rubin war. Er tauchte kurz auf und war verschwunden.«

»Da sind Sie ganz sicher?«

»Ziemlich sicher.«

»Hat er uns gesehen?«

»Kaum. Wir sitzen hier im schattigen Eckchen. Er hatte schon sehr genau hinschauen mussen.«

»Fragen wir ihn doch einfach, wenn er wieder auf dem Damm ist.«

Johanson sah weiterhin zur Wand. Dann zuckte er die Achseln.

»Ja. Fragen wir ihn.«

Als sie zuruck ins Labor gingen, hatten sie die Flasche Bordeaux zur Halfte geleert, aber Oliviera fuhlte sich nicht im Mindesten betrunken. Irgendwie wirkte das Zeug nicht in der kalten Luft. Sie war nur wunderbar beschwingt und von dem Gedanken beseelt, phantastische Entdeckungen zu machen.

Und die machte sie auch.

Im Hochsicherheitslabor hatte die Maschine ihre Arbeit beendet. Sie lie?en sich das Ergebnis auf die Computerkonsole au?erhalb des Labors legen. Der Bildschirm zeigte eine Reihe von Basensequenzen. Olivieras Pupillen bewegten sich im Zickzack hin und her, wahrend sie die Zeilen von oben nach unten durchging, und mit jeder Zeile sackte ihr Unterkiefer ein weiteres Stuck nach unten.

»Das gibt’s doch nicht«, sagte sie leise.

»Was gibt’s nicht?« Johanson beugte sich uber ihre Schulter. Er las es. Zwischen seinen Brauen bildeten sich zwei steile Falten. »Sie sind alle unterschiedlich!«

»Ja.«

»Unmoglich! Identische Wesen haben identische DNA.«

»Wesen einer Spezies — ja.«

»Aber das sind Wesen einer Spezies.«

»Die naturliche Mutationsrate …«

»Vergessen Sie’s!« Johanson wirkte fassungslos. »Die ist weit uberschritten. Das da sind unterschiedliche Wesen, allesamt! Keine DNA ist exakt wie die andere.«

»Auf jeden Fall sind es keine normalen Amoben.«

»Nein. An denen ist uberhaupt nichts normal.«

»Was dann?«

Er starrte auf die Ergebnisse.

»Ich wei? es nicht.«

»Ich auch nicht.« Oliviera rieb sich die Augen. »Ich wei? nur eines. Dass in der Flasche noch was drin ist. Und dass ich es jetzt brauchen konnte.«

Johanson

Eine Weile surfte sie durch die Datenbanken, um die Sequenzanalyse der Gallert-DNA mit anderswo beschriebenen Analysen zu vergleichen. Direkt zu Anfang stie? Oliviera auf ihren eigenen Befund vom Tag, als sie das Zeug in den Walkopfen untersucht hatte. Damals hatte sie keine Unterschiede in der Abfolge der Basenpaare feststellen konnen.

»Ich hatte mehr von diesen Zellen untersuchen mussen«, fluchte sie.

Johanson schuttelte den Kopf.

»Vielleicht waren Sie auch dann nicht drauf gesto?en.«

»Dennoch!«

»Wie hatten Sie ahnen sollen, dass wir es mit Verschmelzungen von Einzellern zu tun haben. Kommen Sie, Sue, das ist mu?ig. Denken Sie vorwarts.«

Oliviera seufzte. »Ja, Sie haben Recht.«

Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Okay, Sigur. Gehen Sie schlafen. Es reicht, wenn sich einer die Nacht um die Ohren schlagt.«

»Und Sie?«

»Ich mache weiter. Ich will wissen, ob dieses DNA-Chaos schon anderswo beschrieben wurde.«

»Wir konnen uns die Arbeit teilen.«

»Auf keinen Fall.«

»Es macht mir nichts aus.«

»Wirklich, Sigur! Hauen Sie sich aufs Ohr. Sie brauchen Ihren Schonheitsschlaf, ich nicht. Als ich vierzig wurde, hat mir die Natur Falten und Tranensacke verpasst. Bei mir macht’s keinen Unterschied, ob ich wach oder mude aus der Wasche gucke. Gehen Sie, und nehmen Sie den Rest Ihres kostlichen Rotweins mit, bevor ich meine wissenschaftliche Objektivitat damit vertrinke.«

Johanson hatte den Eindruck, als wolle sie die Sache lieber allein durchfechten. Sie war unzufrieden mit sich selber. Naturlich hatte sie nicht die geringste Veranlassung, sich etwas vorzuwerfen, aber vermutlich tat er besser daran, sie in Ruhe zu lassen.

Er nahm die Flasche und verlie? das Labor.

Drau?en stellte er fest, dass er kein bisschen mude war. Jenseits des Polarkreises ging die Zeit verloren. Die vorherrschende Helligkeit dehnte den Tag zur Endlosschleife, unterbrochen von wenigen Stunden Dammerlicht. Soeben kroch die Sonne, den Blicken entzogen, dicht unter dem Horizont dahin. Mit etwas gutem Willen lie? sich das als Nacht bezeichnen. Psychologisch die beste Gelegenheit, schlafen zu gehen.