Wenn wir nirgendwo anecken, komplett.« In vierhundert Metern Tiefe vollzog sich eine elegante Metamorphose. Das Bundel entfaltete sich zu einer filigranen Konstruktion. Als die Gestange keinen Widerstand fanden, klappte die Insel weiter auseinander, bis ein gitterartiges Element von den Ausma?en eines halben Fu?ballfeldes in der Tiefe hing.
»Einsatzbereit«, meldete der Pilot.
Frost warf einen Blick auf die Instrumente. »Wir mussten dicht vor einer Wand sein.«
»Beleuchtung und Kameras«, befahl van Maarten.
An der Konstruktion flammten Reihen um Reihen starker Halogenlampen auf. Zugleich nahmen die acht Kameras ihre Arbeit auf und ubertrugen ein trubes Panorama auf den Monitor. Plankton trieb durchs Bild.
»Naher ran«, sagte van Maarten.
Das Flutlichtelement ruckte, von kleinen, schwenkbaren Propellern angetrieben, langsam vor. Nach wenigen Minuten schalte sich eine schartige Struktur aus der Dunkelheit. Im Naherkommen wurde sie zu einer schwarzen, bizarr geformten Lavawand.
»Runter.«
Die Insel sank weiter. Der Pilot navigierte mit au?erster Vorsicht, bis das Sonar einen terrassenformigen Vorsprung anzeigte. Ubergangslos tauchte zum Greifen nah ein breiter Grat auf. Die Oberflache war ubersat mit zuckenden Leibern. Bohrmann starrte auf die acht Monitore und fuhlte Mutlosigkeit in sich aufsteigen. Hier begegnete er dem Alptraum wieder, der ihn seit dem Kollaps des norwegischen Kontinentalhangs begleitete. Wenn es uberall so aussah wie auf diesen 40 Metern, die das Lichtelement der Dunkelheit abtrotzte, konnten sie ebenso gut wieder fahren.
»Miese kleine Dreckswurmer«, knurrte Frost.
Wir sind zu spat gekommen, dachte Bohrmann.
Dann schamte er sich seiner Angst. Es war nicht gesagt, dass die Wurmer ihre Bakterienfracht schon vollstandig entladen hatten und ob es uberhaupt genug waren. Au?erdem gab es da noch diesen ratselhaften Faktor, der die Rutschung letztendlich ausgelost hatte. Es war nicht zu spat. Sie wurden sich nur furchterlich beeilen mussen.
»Na schon«, sagte Frost. »Kippen wir die Insel um 45 Grad und heben sie ein Stuck an, um bessere Draufsicht zu erhalten. Und dann runter mit dem Russel. Ich hoffe, das Ding hat ordentlich Appetit.«
»Es hat einen Mordshunger«, sagte van Maarten.
Voll ausgefahren, reichte der Saugrussel einen halben Kilometer in die Tiefe, ein segmentiertes, kautschukisoliertes Ungetum von drei Metern Durchmesser, das in einem schlundartigen Maul endete. Rings um das Maul waren Scheinwerfer, zwei Kameras und mehrere schwenkbare Propeller angebracht. Per Fernsteuerung konnte das Ende des Russels hoch und runter, vorwarts, ruckwarts und seitwarts navigiert werden. Im Pilotenstand liefen die Kamerabilder von Lichtinsel und Russel zusammen und boten einen gro?zugigen Blick auf Panorama und Details. Ungeachtet der guten Sicht erforderte die Arbeit mit den Joysticks Fingerspitzengefuhl und einen Copiloten, der aufpasste, dass der Steuermann nichts ubersah.
Eine ganze Weile fiel der Russel durch undurchdringliches Dunkel. Die Scheinwerfer blieben ausgeschaltet. Dann kam das Flutlichtelement in Sicht. Erst nur ein Schimmer im Schwarz der tiefen See, ergluhte es immer starker, nahm seine rechteckige Form an und arbeitete schlie?lich die Hangterrasse heraus. Es war so gro?, dass Bohrmann sich an eine Raumstation erinnert fuhlte. Weiter sank der Schlauch und naherte sich dem Gewimmel der Wurmer, bis sie geschlossen die Monitore uberzogen. Jeder der borstigen Korper war deutlich und in allen Einzelheiten zu erkennen. Huschend, sich windend, mit ausgestulpten, hakenbewehrten Kiefern.
Im Kontrollraum herrschte atemlose Stille.
»Phantastisch«, flusterte van Maarten.
»Die Putzfrau wird sich doch wohl nicht vom Hausstaub faszinieren lassen.« Frost schuttelte grimmig den Kopf. »Werfen Sie endlich Ihren Staubsauger an, und putzen Sie die Meute weg.«
Der Saugrussel war genauer gesagt eine Saugpumpe, die Unterdruck erzeugte und dadurch alles, was ihr vor den Schlund geriet, in sich hineinschlang. Als sie zu arbeiten begann, passierte jedoch erst mal gar nichts. Offenbar brauchte die Pumpe eine Weile, um in Fahrt zu kommen. Zumindest hoffte Bohrmann, dass es so war. Weiterhin gingen die Wurmer ihrer zerstorerischen Tatigkeit nach, ohne dass etwas geschah. Im Kontrollraum breitete sich langsam aber sicher Enttauschung aus. Obwohl niemand etwas sagte, war sie mit Handen greifbar. Bohrmann sah unverwandt auf die beiden Monitore der Russelkameras und fuhlte die Hoffnungslosigkeit zuruckkehren.
Woran lag es? War die Konstruktion zu lang? Die Pumpe zu schwach?
Wahrend er noch daruber nachgrubelte, vollzog sich auf den Monitoren eine Veranderung. Etwas schien an den Tieren zu zerren. Ihre Hinterteile hoben sich, ragten senkrecht empor, zitterten …
Plotzlich rasten sie auf die Kameras zu und daran vorbei.
»Es klappt!« Bohrmann reckte die Fauste. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schrie er. Am liebsten ware er quer durch den Raum getanzt und hatte ein Rad geschlagen.
»Halleluja!« Frost nickte heftig. »Das ist ein wunderbares Spielzeug! Oh Herr, lass uns die Welt vom Bosen reinigen! Schei?e aber auch!« Er riss seine Baseballkappe vom Kopf, fuhr sich durch die Locken und setzte sie wieder auf. »Damit machen wir sie fertig!«
Mehr Wurmer folgten. Sie wurden derart schnell und zu so vielen in den Schlauch gesaugt, dass auf den Bildschirmen bald nur noch verwaschenes Flackern zu sehen war. Auch die Kameras der Lichtinsel zeigten deutlich, was sich am unteren Ende des Saugrussels abspielte. Sediment wurde mit angesaugt und wirbelte hoch.
»Weiter nach links«, sagte Bohrmann. »Oder nach rechts. Egal, einfach weitermachen.«
»Wir gehen zu einer langsamen Zickzackbewegung uber«, schlug van Maarten vor. »Von einem Ende der erleuchteten Zone bis zum anderen. Sobald wir den sichtbaren Bereich leer geraumt haben, fahren wir mit Insel und Russel weiter und nehmen uns die nachsten 40 Meter vor.«
»Sehr gut! Tun Sie das.«
Der Sauger begab sich auf Wanderschaft, wahrend er unablassig Wurmkorper in sein Inneres riss. Wo er gewutet hatte, war das Wasser so trube, dass man den Untergrund nicht erkennen konnte.
»Erfolge werden wir erst sehen, wenn sich die Bruhe geklart hat«, meinte van Maarten. Er wirkte ungeheuer erleichtert. Mit einem tiefen Seufzer wich die Anspannung von Wochen, und er lehnte sich beinahe gelassen zuruck.
»Aber ich schatze, wir werden alle au?erordentlich zufrieden sein.«
Donnnggg!
Trondheims Glocken an einem Sonntagvormittag. Der Kirchturm in der Kirkegata. Sonnenbeschienen reckt er sich gen Himmel, kleiner selbstbewusster Turm, wirft seinen Schatten auf das ockerfarbene Giebeldachhauschen mit der wei? gestrichenen Vortreppe, beansprucht Gehor.
Dingdong, heile Welt. Aufstehen.
Kissen uber den Kopf. Wer lasst sich von einer Kirche vorschreiben, wann er aufzustehen hat. Er doch nicht. Verdammte Kirche! Gestern zu viel getrunken mit Kollegen und Studenten? Kann ja nur so sein.
Donnnggg!
»Es ist acht Uhr.«
Das Durchsagesystem.
Es gab keine zeitentruckte Kirkegata mehr, keine selbstbewusste kleine Kirche, kein ockerfarbenes Haus. In seinem Schadel hammerten nicht Trondheims Glocken, sondern unseliger Kopfschmerz.
Was war los?
Johanson schlug die Augen auf und fand sich in zerwuhlten Laken auf einem fremden Bett liegen. Weitere Betten standen drum herum, alle leer. Der Raum war gro?, mit Apparaturen voll gestopft, fensterlos, und wirkte antiseptisch. Ein Krankenzimmer.
Was um Himmels willen tat er in einem Krankenzimmer?
Sein Kopf kam hoch und fiel zuruck aufs Kissen. Die Augen schlossen sich von selber wieder. Alles war besser als das Drohnen in seinem Schadel. Und schlecht war ihm auch.