Ohne Passagiere und Zwischenstopps ging alles schneller. Nach knapp zwanzig Minuten steuerte er zwischen einer Gruppe winziger Inselchen hinaus aufs anthrazitsilbrige Meer. Weit auseinander gezogene Wogen rollten trage herein. Er drosselte den Motor und fuhr mit verminderter Geschwindigkeit weiter. Wahrend sich das Zodiac im heraufdammernden Morgen von der Kuste entfernte, hielt er Ausschau und versuchte, der zur Gewohnheit gewordenen Mutlosigkeit keinen Raum zu geben. Definitiv waren Wale gesichtet worden. Keine Residents. Migranten aus Kalifornien und Hawaii.

Weiter drau?en stellte er den Motor ab. Sofort umfing ihn perfekte Stille. Er offnete eine Dose Eistee, trank sie aus und setzte sich mit dem Feldstecher in den Bug.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er etwas zu sehen glaubte, aber die dunkle Wolbung war sofort wieder verschwunden.

»Zeig dich«, flusterte er. »Ich wei?, dass du da bist.«

Angestrengt suchte er den Ozean ab. Minutenlang tat sich nichts. Dann hoben sich in einiger Entfernung nacheinander zwei flache Silhouetten aus dem Wasser. Gerausche wie von Flintenschussen hallten heruber. Uber den Buckeln stiegen wei?e Dampfwolken auf wie Mundungsqualm. Anawak starrte mit runden Augen hinaus.

Buckelwale.

Er begann zu lachen. Er lachte vor Gluck. Wie alle erfahrenen Cetologen konnte er die Art eines Wals an seinem Blas erkennen. Bei Gro?walen umfasste der Gaswechsel jedes Mal einige Kubikmeter. Die alte Lungenfullung wurde komprimiert und aus den engen Blaslochern regelrecht herausgeschossen. Im Freien dehnte sie sich aus, kuhlte zugleich ab und kondensierte zu einem sprayartigen Tropfchennebel. Form und Hohe des Blas konnten innerhalb einer Art differieren, je nach Tauchzeit und Gro?e des Tiers, und auch der Wind spielte eine Rolle. — Aber das hier waren eindeutig die charakteristischen buschigen Kondenswolken von Buckelwalen.

Anawak klappte den Laptop auf und startete das Programm. Er hatte die Steckbriefe hunderter Wale gespeichert, die regelma?ig hier vorbeizogen. Das wenige, was sie an der Oberflache zeigten, lieferte dem ungeubten Auge kaum Hinweise auf die Art, geschweige denn auf einzelne Individuen. Hinzu kam, dass die Sicht oft durch raue See, Dunst, Regen oder glei?endes Sonnenlicht erschwert wurde. Dennoch besa? jedes Tier seine Kennung. Der einfachste Weg, es zu identifizieren, war die Fluke. Beim Abtauchen reckte es sie oft weit aus dem Wasser. Keine Unterseite glich der anderen. Jede war mit einem charakteristischen Muster versehen und wich in Form und Struktur der Kante leicht bis deutlich ab. Viele der Fluken hatte Anawak im Kopf gespeichert, aber der Laptop mit seinem Fotoarchiv machte die Arbeit naturlich leichter.

Er war beinahe sicher, in den beiden Walen dort drau?en alte Bekannte gefunden zu haben.

Nach einer Weile tauchten die schwarzen Rucken wieder auf. Zuerst, kaum sichtbar, erschienen die kleinen Erhebungen mit den Blaslochern. Wieder das knallende Zischen, fast synchron hervorschie?ende Atemwolken. Diesmal lie?en sich die Tiere nicht gleich wieder unter Wasser sinken, sondern hoben ihre Buckel weit hinaus. Flache, abgestumpfte Ruckenfinnen wurden sichtbar, neigten sich trage nach vorn und schnitten wieder ins Wasser. Deutlich erkannte Anawak den vom Ruckgrat gezackten Hinterleib. Die Wale begannen abzutauchen, und jetzt endlich hoben sie gemachlich ihre Fluken aus dem Wasser.

Rasch setzte er den Feldstecher an die Augen und versuchte, einen Blick auf die Unterseiten zu erhaschen, aber es gelang ihm nicht. Egal. Sie waren dort. Die erste Tugend eines Walbeobachters hie? Geduld, und bis zum Eintreffen der Touristen blieb noch reichlich Zeit. Er offnete die zweite Dose Eistee und biss in seinen Riegel.

Schon nach kurzer Zeit wurde seine Geduld belohnt, als nicht weit vom Boot plotzlich funf Buckel durchs Wasser pflugten. Anawak fuhlte sein Herz schneller schlagen. Die Tiere waren nun sehr nahe. Voller Spannung wartete er auf die Fluken. So sehr nahm ihn das Schauspiel gelangen, dass er die monumentale Silhouette neben dem Boot zuerst nicht wahrnahm. Aber die Silhouette wuchs uber ihn hinaus, bis er schlie?lich den Kopf wandte — und zusammenzuckte.

Er verga? die funf Buckel und sperrte den Mund auf.

Der Schadel des Wals hatte sich nahezu lautlos aus den Fluten gehoben. Er war so nahe, dass er den Gummiwulst des Bootes fast beruhrte. Mehr als dreieinhalb Meter ragte er in die Hohe, das geschlossene, furchige Maul bewachsen mit Seepocken und knotigen Verdickungen. Uber dem herabgezogenen Mundwinkel starrte ein faustgro?es Auge den Insassen des Zodiacs an, beinahe auf Gesichtshohe. Die Ansatze der machtigen Brustflossen waren uber den Wellen zu sehen.

Reglos wie ein Felsen stach der Kopf heraus.

Es war das beeindruckendste Willkommen, das Anawak je widerfahren war. Mehr als einmal hatte er die Tiere aus unmittelbarer Nahe gesehen. Er hatte sich ihnen auf Tauchgangen genahert, sie beruhrt und sich an ihnen festgehalten. Er war auf ihnen geritten. Oft genug steckten Grauwale, Buckelwale oder Orcas den Kopf in unmittelbarer Nahe eines Bootes aus dem Wasser, um nach Landmarken Ausschau zu halten und Zodiacs zu begutachten.

Aber das hier war anders.

Fast kam es Anawak so vor, als beobachte nicht er den Wal, sondern der Wal ihn. Das Boot schien den Riesen nicht zu interessieren. Sein Auge, eingebettet in runzlige Lider wie das eines Elefanten, musterte ausschlie?lich die Person im Innern. So scharf der Wal unter Wasser sah, verdammte ihn die starke Wolbung seiner Linse zur Kurzsichtigkeit, sobald er sein angestammtes Element verlie?. Auf diese nahe Distanz jedoch musste er Anawak ebenso klar wahrnehmen wie dieser ihn.

Langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, streckte er die Hand aus und strich uber die glatte, feuchte Haut. Der Wal machte keine Anstalten, wieder abzutauchen. Sein Auge rollte leicht hin und her und heftete sich dann wieder auf Anawak. Es war eine Szene von beinahe grotesker Intimitat. So glucklich ihn der Augenblick machte, fragte sich Anawak, was das Tier mit einer derart langen Observierung bezweckte. Im Allgemeinen dauerten die Rundumblicke der Sauger nur wenige Sekunden. Es kostete sie Kraft, so lange senkrecht zu verharren.

»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragte er leise.

Ein kaum horbares Platschern erklang von der anderen Seite des Zodiacs. Anawak drehte sich um, gerade rechtzeitig, um einen weiteren Kopf in die Hohe wachsen zu sehen. Der zweite Wal war etwas kleiner, aber ebenso nahe. Auch er nahm Anawak mit seinem dunklen Auge ins Visier.

Er verga?, das andere Tier zu streicheln.

Was wollten sie?

Allmahlich begann er sich unwohl zu fuhlen. Diese starre Inaugenscheinnahme war ganz und gar ungewohnlich, um nicht zu sagen bizarr. Nie zuvor hatte Anawak etwas Gleichartiges erlebt. Dennoch buckte er sich zu seiner Tasche, zog schnell die kleine Digitalkamera hervor, hielt sie hoch und sagte: »Schon so bleiben.«

Vielleicht hatte er einen Fehler begangen. Wenn ja, war es das erste Mal in der Geschichte des Whale Watching, dass Buckelwale eine offensichtliche Aversion gegen Kameras an den Tag legten. Wie auf Kommando tauchten die beiden riesigen Kopfe ab. Zwei Inseln gleich versanken sie im Meer. Ein leises Gurgeln und Schmatzen, ein paar Blasen, und Anawak war wieder allein auf der schimmernden Weite.

Er sah sich um.

Uber der nahen Kuste ging die Sonne auf. Dunst hing zwischen den Bergen. Die flache Dunung des Meeres tonte sich blau.

Keine Wale.

Sto?artig lie? Anawak den Atem entweichen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sein Herz wie wild pochte. Er legte die Kamera zuruck in die geoffnete Tasche, nahm erneut den Feldstecher zur Hand und uberlegte es sich anders. Seine beiden neuen Freunde konnten nicht weit sein. Er holte den Rekorder hervor, setzte die Kopfhorer auf und lie? das Hydrophon langsam ins Wasser gleiten. Unterwassermikrophone waren so empfindlich, dass sie noch die Gerausche aufsteigender Luftblasen erfassten. Im Kopfhorer rauschte, pluckerte und drohnte es, aber nichts lie? auf Wale schlie?en. Anawak verharrte in Erwartung ihrer charakteristischen Laute, doch alles blieb ruhig.