Nun postuliert die Wissenschaft Tausende und Abertausende fremder Zivilisationen im All. Die Galaxien ausschlie?lich von Musterknaben bevolkert zu finden, mutet denn doch ein bisschen unwahrscheinlich an, also durfen wir glauben, dass wenigstens einige der anderen Rassen schuldig wurden, was wiederum einen Erloser erforderlich macht. In der Religion geht es in solchen Fallen nicht um Nuancierungen, sondern um Dogmen und Prinzipien, das hei?t, es spielt keine Rolle, wie viel Schuld jemand auf sich ladt, sondern dass er es tut. Anders gesagt — Gott lasst nicht mit sich feilschen. Vertrauensbruch ist Vertrauensbruch. Bestrafung ist Bestrafung und Erlosung ist Erlosung.

Die Erlosergeschichte hatte sich demzufolge mehrfach zugetragen. Aber konnte man sicher sein, ob Gott nicht anderswo andere Wege gefunden hatte, die Verfehlungen Seiner Schopfung zu suhnen? Ohne Seinen Sohn sterben zu lassen! Schon tat sich ein neues Problem auf: Christi Tod war schmerzlich gewesen, aber unumganglich, weil der gottliche und damit einzige Weg. Im Angesicht von Alternativen jedoch: War es dann immer noch der einzig richtige Weg? Wie stellte sich Gottes Unfehlbarkeit dar, wenn Er zur Reinwaschung Seiner Schopfung hier Seinen Sohn sterben lie?, dort aber nicht? War es ein Fehler gewesen, ihn zu opfern, den Er auf anderen Welten keinesfalls wiederholen wollte? Und welchen Sinn sollte es haben, zu einem Gott zu beten, der die Dinge nicht verlasslich im Griff hatte?

Streng genommen konnte das Christentum also nur Intelligenzen akzeptieren, die eine Passionsgeschichte vorzuweisen hatten. Andernfalls schnitt entweder die Menschheit schlecht ab oder Gott. Aber selbst die Huter der christlichen Doktrin konnten kein Universum voller Passionsgeschichten voraussetzen, also was blieb?

Unsere Einzigartigkeit auf Erden.

Fur uns hat Gott diese Welt bestimmt. Wir sind die gottliche Rasse mit dem Auftrag, uns die Erde Untertan zu machen. Daran andern Bewohner anderer Welten nichts, selbst wenn sie uns besuchen kamen. Dieser Planet ist unser Platz, und die anderen haben ihren. Auf seiner Welt ist jeder Gottes gewollte Rasse.

Doch die Bastion ist gefallen. Die Yrr haben den letzten fundamentalen Anspruch des Christentums zunichte gemacht. Nicht nur die menschliche Vorherrschaft ist in Frage gestellt, sondern auch Gottes Plan. Schlimmer noch: Selbst wenn man sich damit abfande, dass Gott zwei gleichwertige Rassen auf Erden schuf, mussten die Yrr entweder eine Passionsgeschichte aufzubieten haben oder streng nach Seinen Geboten leben. Andernfalls hatten sie sich versundigt, aber dann wiederum stellt sich die Frage, warum Gott sie in Seinem Zorn nicht langst gestraft hat.

Und die Yrr leben nicht nach Seinen Geboten. Allein, das funfte Gebot zu befolgen, schlie?t ihre Biochemie aus. Was nur hei?en kann, dass Gott a) nicht existiert, b) nicht die Kontrolle hat oder c) das Tun der Yrr guthei?t. Dann hatten wir uns einem Irrtum hingegeben, der so alt ist wie die Menschheit. Wir sind gar nicht gemeint gewesen!

In solchen und ahnlichen Krampfen winden sich die gro?en Religionen, verzehren sich Christentum, Islam und Judentum. Wahrend sie noch definieren, analysieren und deuten, sind ihre Strukturen weitestgehend in sich zusammengebrochen, und mit ihnen die ohnehin maroden Borsen, die von Gottes finanzgewaltigem Wort abhangiger waren, als wir alle glaubten. Buddhismus und Hinduismus hingegen, die andere Lebensformen akzeptieren, erhalten beispiellosen Zulauf. Esoterische Zirkel haben Hochkonjunktur, neue Bewegungen entstehen, archaische Naturreligionen erleben ihre Renaissance. Von den alten Sekten schlagen sich die Mormonen noch am wackersten, deren Gott sagt: Ich habe unzahlige Welten erschaffen! Aber warum Er im selben Spielzimmer zwei Kinder gro?gezogen hat, konnen auch die Mormonen nicht beantworten.

Das Letzte, was ich horte, war, dass ein katholischer Bischof mit einer Delegation aus Rom die Ozeane rauf— und runterfahrt, Weihwasser in die Wellen sprenkelt und dem Teufel befiehlt, sich davonzumachen. Bemerkenswert. Als Spezies, die es gewohnt war, Gottes Grundsatze zu verhohnen und seine Schopfung zu schanden, entsenden wir nun einen seiner angeblichen Vertreter, um den Feind zur Rason zu bringen. Wir haben die Stirn, uns als Anwalt eines Schopfers zu gebarden, dessen Auftrag wir verspielt haben. Es ist, als wollten wir Gott das Evangelium predigen, um ihn davon abzubringen, uns zu strafen.

Die Welt verfallt. Inzwischen hat die UNO den Vereinigten Staaten von Amerika das Fuhrungsmandat entzogen. Ein weiterer Akt der Hilflosigkeit. In vielen Staaten ist die offentliche Ordnung zusammengebrochen. Wohin man schaut, durchstreifen marodierende Horden das Land. Allerorts kommt es zu bewaffneten Konflikten. Der Schwache uberfallt den Schwacheren, weil Menschen nun mal ihrem Wesen nach nicht hilfsbereit, sondern dem animalischen Erbe verhaftet sind. Wer am Boden liegt, wird zur Beute, und zu plundern gibt es reichlich. Die Yrr haben nicht nur unsere Stadte zerstort, sie haben uns auch innerlich verwustet. Glaubenslos irren wir umher, versto?ene, grausame Kinder, die sich rapide zruckentwickeln auf der Suche nach einem neuen Anfang. Aber es gibt auch Hoffnung, erste Anzeichen fur ein Umdenken, welche Rolle wir auf unserem Planeten spielen. Viele versuchen in diesen Tagen, die biologische Vielfalt zu verstehen, um die wahren vereinheitlichenden Prinzipien zu begreifen und das, was uns letztlich verbindet, fernab jeder Hierarchie. Denn es ist das Verbindende, das unser Uberleben sichert. Hat der Mensch sich je gefragt, wie es sich auf die Psyche seiner Nachkommen auswirkt, wenn er ihnen einen verarmten Planeten hinterlasst? Wer wollte den Wert einer Tierart fur den menschlichen Geist wirklich beurteilen? Wir wunschen uns Walder und Korallenriffe und fischreiche Meere, saubere Luft, klare Flusse und Seen. Wenn wir die Erde weiterhin beschadigen und die Vielfalt der Lebensformen vernichten, zerstoren wir eine Komplexitat, die wir nicht verstehen, und schon gar nicht konnen wir sie ersetzen. Was wir auseinander rei?en, bleibt zerrissen. Wer will entscheiden, auf welchen Teil der Natur im gro?en Geflecht wir verzichten konnen? Das Geheimnis der Vernetzung offenbart sich nur intakt. Einmal sind wir zu weit gegangen, und das Netz hat beschlossen, sich unserer zu entledigen. Einstweilen herrscht Waffenruhe. Zu welchen Schlussen die Yrr auch gelangen mogen, wir taten gut daran, ihnen die Entscheidung so leicht wie moglich zu machen. Denn ein zweites Mal wird Karens Trick nicht ziehen.

Heute, am Jahrestag des Untergangs, schlage ich eine Zeitung auf und lese: Die Yrr haben die Welt fur alle Zeiten verandert.

Haben sie das?

Ma?geblichen Einfluss haben sie auf unser Schicksal genommen, und doch wissen wir so gut wie nichts uber sie. Wir glauben, ihre Biochemie zu kennen, aber ist das Wissen? Seit damals haben wir sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Nur ihre Signale hallen durchs Meer, unverstandlich, weil nicht fur uns gedacht. Wie erzeugt ein Gallertklumpen Gerausche? Wie nimmt er sie auf? Zwei von Millionen Fragen, die zu stellen mu?ig ist. Die Antworten liegen bei uns. Nur bei uns.

Vielleicht ist eine weitere Menschheitsrevolution fallig, um endlich unsere alten genetischen Zwange und unsere Hoherentwicklung unter einen Hut zu bringen. Wenn wir uns des Geschenks, das die Erde immer noch ist, als wurdig erweisen wollen, sollten wir nicht die Yrr erforschen, sondern endlich uns selber. Erst die Kenntnis unserer Herkunft, die wir zwischen Wolkenkratzern und Computern zu leugnen gelernt haben, wird uns den Weg in eine bessere Zukunft weisen.

Nein, die Yrr haben die Welt nicht verandert. Sie haben uns die Welt gezeigt, wie sie ist.

Nichts ist mehr, wie es war. — Doch, eines: Ich rauche noch.

Was waren wir ohne Konstanten?