Ja, warum, dachte Johanson.

Weil ich es gerne hatte. Nur moglichst so, dass es nichts kaputtmacht. Er fuhlte sich Kare Sverdrup gegenuber nicht im Mindesten verpflichtet. Aber Lunds plotzliche Bereitschaft, mit ihm zum See zu fahren, irritierte ihn. Vor Wochen noch hatte er sich keine Gedanken daruber gemacht. Sporadische Unternehmungen, Verabredungen zum Essen, all das war Teil ihres selbstironisch inszenierten Dauerflirts, ohne dass jemals etwas folgte. Das hier gehorte nicht zum Flirt.

Mit einem Mal wusste er, was ihn storte. Im selben Moment wurde ihm auch klar, was Lund in den letzten Tagen so sehr beschaftigt haben musste.

»Wenn ihr beide Arger habt«, sagte er, »lass mich aus dem Spiel. Einverstanden? Du kannst mitkommen, aber ich bin nicht da, um Kare unter Druck zu setzen.«

»Du interpretierst ein bisschen viel rein in die Sache.« Lund zuckte die Achseln. »Also gut. Vielleicht hast du Recht. Lassen wir’s.«

»Ja.«

»Besser so. Ich muss einfach ein bisschen nachdenken.«

»Mach das.«

Sie standen weiterhin unentschlossen in der Diele herum.

»Also dann«, sagte Johanson. Er beugte sich vor, gab ihr einen fluchtigen Kuss auf die Wange und schob sie sanft nach drau?en auf die Stra?e. Dann schloss er die Hausture hinter ihnen ab. Allmahlich wurde es dammrig. Es nieselte bestandig. Er wurde den gro?ten Teil der Strecke im Dunkeln zurucklegen, aber es war ihm beinahe recht so. Er wurde Sibelius’ Finlandia-Symphonie horen. Sibelius und die Dunkelheit. Das war gut.

»Montag bist du wieder da?«, fragte Lund, wahrend sie mit ihm zum Wagen ging.

»Ich schatze, schon Sonntag Nachmittag.«

»Wir konnen ja telefonieren.«

»Sicher. Was hast du so vor?«

Sie zuckte die Achseln. »Arbeit hatte ich genug.«

Er verkniff sich eine weitere Frage nach Kare Sverdrup.

Im selben Moment sagte Lund: »Kare ist ubers Wochenende verreist. Zu seinen Eltern.«

Johanson offnete die Fahrertur und verharrte. »Du musst ja nicht immer nur arbeiten«, sagte er.

Sie lachelte. »Nein. Naturlich nicht.«

»Au?erdem … konntest du gar nicht mitfahren. Du hast nichts dabei fur ein Wochenende am See.«

»Was braucht man denn?«

»Gutes Schuhwerk vor allen Dingen. Und was Warmes zum Anziehen.«

Lund sah an sich herunter. Sie trug Schnurstiefel mit dicken Sohlen. »Was braucht man noch?«, fragte sie. »Na ja. Wie gesagt, einen Pullover …« Johanson fuhr sich uber den Bart »Einiges habe ich auch im Haus.«

»Mhm. Weil man ja nie wei?.«

»Richtig. Man wei? ja nie.«

Er sah sie an. Dann musste er lachen.

»Okay, Frau Kompliziert. Letzte Mitfahrgelegenheit.«

»Ich und kompliziert?« Lund riss die Beifahrertur auf und grinste. »Das werden wir auf der Fahrt ausdiskutieren.«

Als sie den unbefestigten Weg zur Hutte erreichten, war es bereits dunkel, und der Jeep rumpelte unter den Scherenschnitten der Baume hindurch zum Ufer. Vor ihnen lag der See wie ein zweiter, in Walder gebetteter Himmel. Die Oberflache war voller Sterne, wo die Wolken sich auseinander geschoben hatten, wahrend es unten in Trondheim wahrscheinlich immer noch regnete.

Johanson brachte den Koffer ins Haus und trat neben Lund auf die Veranda. Die Bohlen knarrten leise. Jedes Mal aufs Neue fuhlte er sich ergriffen von der Stille, die umso offenbarer wurde, weil sie voller Gerausche war: Rascheln, Zirpen und leises Knacken, der ferne Schrei eines Vogels, Bewegungen im Unterholz, Undeutbares. Eine kurze Verandatreppe fuhrte auf eine Wiese, die zum Wasser hin sanft abfiel. Von dort erstreckte sich ein windschiefer Landungssteg. Das Boot am Ende, mit dem er manchmal zum Angeln hinausfuhr, lag reglos da.

Lund sah hinaus. »Und das hast du alles fur dich alleine?«, fragte sie.

»Meistens.«

Sie schwieg eine Weile. »Du musst ziemlich gut mit dir selber klarkommen, schatze ich.«

Johanson lachte leise. »Wieso glaubst du das?«

»Wenn du hier niemanden findest au?er dich selber … ich meine, deine Gesellschaft muss dir angenehm sein.«

»Oh ja. Ich kann hier drau?en mit mir umspringen, wie ich will. Mich mogen, mich verabscheuen …«

Sie wandte ihm den Kopf zu.

»So was kommt vor? Dass du dich verabscheust?«

»Selten. Und wenn, verabscheue ich mich dafur. Komm rein. Ich mache uns einen Risotto.«

Sie gingen hinein.

Johanson schnitt Zwiebeln in der kleinen Kuche, dunstete sie in Olivenol an und gab Riso di Carnaroli dazu, den venezianischen Risottoreis. Er wendete die Reiskorner mit einem Holzloffel, bis sie samtlich von Ol uberzogen waren, goss kochenden Geflugelfond an und ruhrte weiter, damit die Masse nicht anbrannte. Zwischendurch schnitt er Steinpilze in Streifen, erhitzte sie in Butter und lie? sie auf kleiner Flamme brutzeln.

Lund sah fasziniert zu. Johanson wusste, dass sie nicht kochen konnte. Sie brachte die Geduld nicht auf. Er entkorkte eine Flasche Rotwein, dekantierte ihn und fullte zwei Glaser. Das ubliche Procedere. Es funktionierte immer. Es wurde gegessen, getrunken, geredet, zusammengeruckt. Es folgte, was eben folgte, wenn ein alternder Bohemien und eine junge Frau an einen einsamen, romantischen Ort fuhren.

Verdammte Automatismen!

Warum zum Teufel hatte sie mitkommen wollen?

Er hatte einiges darum gegeben, den Dingen an diesem Abend einfach ihren Lauf zu lassen. Lund sa? am Kuchenblock, trug einen seiner Pullover und wirkte so entspannt wie seit langem nicht mehr. Ihre Gesichtszuge hatten etwas ungewohnt Weiches angenommen. Johanson war irritiert. Er hatte sich oft einzureden versucht, dass sie eigentlich nicht sein Typ war, zu hektisch, zu nordisch mit ihren glatten, wei?blonden Haaren und Augenbrauen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass nichts von alledem zutraf.

Du hattest ein schones, ruhiges Wochenende verbringen konnen, dachte er. Aber du wolltest es ja unbedingt kompliziert haben, Idiot.

Sie a?en in der Kuche. Lund wurde mit jedem Glas ausgelassener. Sie alberten herum und offneten eine weitere Flasche.

Um Mitternacht sagte Johanson: »Es ist nicht wirklich kalt drau?en. Lust auf eine Bootstour?«

Sie stutzte das Kinn in die Hande und grinste ihn an. »Mit Schwimmen?«

»Wurde ich an deiner Stelle bleiben lassen. Vielleicht in ein bis zwei Monaten. Dann ist es hier warmer. Nein, wir fahren in die Mitte des Sees, nehmen die Flasche mit und …«

Er machte eine Pause.

»Und?«

»Gucken uns die Sterne an.«

Ihre Blicke blieben aneinander hangen. Jeder auf seiner Seite des Kuchenblocks, die Arme aufgestutzt, sahen sie einander an, und Johanson fuhlte, wie sein innerer Widerstand zusammenbrach. Er horte sich Dinge sagen, die er nicht hatte sagen wollen, sah sich samtliche Register ziehen und die notwendigen Hebel und Schalter betatigen, um die Maschinerie in Gang zu setzen. Er weckte Erwartungen, bestarkte sich und Lund darin, zu tun, weswegen man nun mal gemeinsam an einen verlassenen See fuhr, wunschte sie zuruck nach Trondheim und zugleich in seine Arme, ruckte ihr naher, bis er ihren Atem auf seinem Gesicht spuren konnte, verfluchte den Lauf des Geschicks und konnte es zugleich kaum erwarten.

»Gut. Dann mal los.«

Drau?en war es windstill. Sie liefen den Steg entlang und sprangen ins Boot, Es geriet ins Schaukeln, und Johanson ergriff ihren Arm. Er hatte laut auflachen konnen! Wie im Film, schoss es ihm durch den Kopf. Wie in einem gottverdammten Kitschfilm mit Meg Ryan. Beim Stolpern kommt man sich naher. Du liebe Gute.

Es war ein kleines Holzboot, das ihm der ehemalige Besitzer des Hauses mitverkauft hatte. Der Bug war uberplankt, um Stauraum zu schaffen. Lund setzte sich im Schneidersitz darauf, wahrend Johanson den Au?enborder startete. Das Motorengerausch storte den Frieden keineswegs. Es fugte sich harmonisch ein in die wundersam belebte Nacht der Walder, ein Tuckern und tiefes Brummen wie von einer uberdimensionalen Hummel.

Wahrend der kurzen Fahrt fiel kein Wort. Schlie?lich drosselte Johanson den Motor und stellte ihn aus. Sie trieben ein gutes Stuck vom Haus entfernt. Er hatte die Verandabeleuchtung angelassen, und sie spiegelte sich im ufernahen Wasser als krauseliger Streifen. Hier und da erklang leises Platschern, wenn ein Fisch an die Oberflache schoss, um nach Insekten zu schnappen. Johanson balancierte zu Lund hinuber, in der Rechten die halb volle Flasche. Das Boot schaukelte sacht.