Die langen, ruckwarts gerichteten Antennen zuckten. Schwach bewegten sich die zusammengebundenen Scheren. Sobald sie ihrem naturlichen Lebensraum entrissen wurden, neigten Hummer zu gro?er Tragheit. Jerome stupste das Tier leicht an und beugte sich tiefer daruber. Es bewegte die Beine, als wolle es davonkriechen, verharrte aber auf der Platte. Wo der segmentierte Schwanz in den Ruckenpanzer uberging, quoll etwas Transparentes hervor.
Was war das schon wieder?
Jerome ging in die Hocke. Er war nun ganz dicht an dem Tier, auf Augenhohe sozusagen.
Der Hummer richtete leicht den Oberkorper auf. Eine Sekunde schien er Jerome aus seinen schwarzen Augen anzusehen. Dann platzte er.
Der Auszubildende, den Jerome mit dem Schuppen von Fischen beauftragt hatte, war nur drei Meter entfernt, allerdings verstellte ihm ein schmales, deckenhohes Regal mit Arbeitsutensilien und Gewurzen die Sicht auf den Herd. Darum horte er zuerst Jeromes markerschutternden Schrei. Zu Tode erschrocken lie? er sein Messer fallen. Er sah Jerome vom Herd wegtaumeln, die Hande vors Gesicht gepresst, und sprang hinzu. Gemeinsam polterten sie gegen die dahinter liegende Arbeitsflache. Topfe schepperten, etwas fiel zu Boden und zerbrach gerauschvoll.
»Was ist passiert?«, schrie der Lehrling voller Panik. »Was ist geschehen?«
Andere Koche kamen hinzu. Die Kuche war in bestem Sinne eine Fabrik, in der jeder seine Aufgabe hatte. Einer war nur fur Wild zustandig, ein weiterer fur Saucen, ein dritter fur Farcen, wieder einer fur Salate und ein anderer fur die Patisserie, und so fort. Im Nu herrschte rund um den Herd das gro?te Durcheinander, bis Jerome die Hande herunternahm und zitternd auf die Arbeitsplatte neben dem Herd zeigte. Aus seinen Haaren tropfte klumpiges, durchsichtiges Zeug. Es hing brockenweise in seinem Gesicht und rann schmelzend in seinen Kragen.
»Er … er ist explodiert«, keuchte Jerome.
Der Lehrling trat naher an die Platte und starrte angewidert auf den zerborstenen Hummer. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gesehen. Intakt waren einzig die Beine. Die Scheren lagen auf dem Fu?boden, der Schwanz sah aus, als sei er mit Hochdruck abgesprengt worden, und der Ruckenpanzer klaffte in scharfkantigen Stucken auseinander.
»Was haben Sie denn mit dem gemacht?«, flusterte er.
»Gemacht? Gemacht?«, schrie Jerome, die Hande mit gespreizten Fingern erhoben, das Gesicht eine Fratze des Ekels. »Ich habe uberhaupt nichts gemacht! Er ist geplatzt, das ist er. Geplatzt!«
Sie brachten ihm Tucher, um sich zu reinigen, wahrend der Lehrling mit spitzen Fingern das Zeug beruhrte, das uberall verteilt war. Was er anfasste, war von enorm zaher, gummiartiger Konsistenz, aber es loste sich schnell auf und floss uber die Arbeitsplatte davon. Einem Impuls folgend nahm er ein fest verschraubbares Glas von einem Bord und schaufelte mit einem Essloffel Brocken der Gallerte hinein, strich noch etwas Flussigkeit zusammen und lie? sie dazutropfen. Dann verschloss er das Glas, so fest es ging.
Jerome zu beruhigen war gar nicht so einfach. Jemand brachte ihm schlie?lich ein Glas Champagner, und erst danach kriegte sich der Meister halbwegs wieder ein.
»Raumt das da weg«, befahl er mit erstickter Stimme. »Raumt um Gottes willen diese Sauerei weg. Ich gehe mich waschen.«
Und er ging. Die Kuchenhilfen machten sich unverzuglich daran, Jeromes Arbeitsplatz wiederherzustellen, sie putzten den Herd und alles drum herum, entsorgten die Uberreste, reinigten den Kessel, und naturlich kippten sie auch das Wasser in den Ausguss, in dem das Dutzend Hummer die Stunde vor seinem Ableben verbracht hatte. Es trat den Weg jeglichen Wassers in den Untergrund an, gluckerte in die Kanalisation und mischte sich dort mit allem, was eine Stadt abflie?en lasst, um es in recycelter Form wieder in sich aufzunehmen.
Das Glas mit der Gallerte nahm der Lehrling an sich. Er wusste noch nicht, was genau er damit anfangen sollte, also fragte er Jerome, als dieser mit gewaschenen Haaren und sauberer Kluft wieder in der Kuche auftauchte.
»Es war vielleicht gut, dass du was von dem Zeug aufbewahrt hast«, sagte Jerome duster. »Der Himmel wei?, was das ist.«
»Wollen Sie es sehen?«
»Bewahre, nein! Aber man sollte es untersuchen lassen. Wir schicken es irgendwohin, wo man so was macht. Aber bitte unter Auslassung der Begleitumstande, horst du? Das alles ist nie geschehen. So etwas geschieht nicht im Troisgros.«
Die Geschichte verlie? tatsachlich nicht die Kuche des Restaurants. Und das war gut so, denn es hatte ein falsches Licht auf das Troisgros geworfen. Auch wenn man hier nicht die geringste Schuld an dem Vorfall trug, hatte manch einer genusslich kolportiert, dass im Troisgros die Hummer in die Luft flogen und mit ominosem Gelee um sich spritzten. Nichts war schlimmer fur den Ruf eines Spitzenrestaurants als Zweifel an der Hygiene.
Der Lehrling beobachtete das Zeug im Glas sehr genau. Nachdem es sich ebenfalls aufzulosen begann, lie? er etwas Wasser hineinlaufen, weil er dachte, es konne nicht schaden. Die Substanz erinnerte ihn — falls uberhaupt an irgendetwas — an Quallen, und die uberdauerten ja nur im Wasser, weil sie selber aus nichts anderem bestanden. Offenbar war es eine gute Idee. Die Brocken blieben furs Erste stabil. Das Troisgros fuhrte einige hochst diskrete Telefonate, an deren Ende man das Glas zur Universitat ins nahe gelegene Lyon schickte, um den Inhalt untersuchen zu lassen.
Dort landete es auf dem Schreibtisch von Professor Bernard Roche in der Molekularbiologie. Inzwischen war der Zersetzungsprozess der Gallerte trotz Wasserzusatz weiter fortgeschritten, und kaum noch feste Substanz trieb in dem Glas. Das bisschen, was ubrig war, unterzog Roche augenblicklich verschiedenen Tests, jedoch zerflossen die allerletzten Klumpchen, bevor er sie eingehender untersuchen konnte. Roche gelang es lediglich, einige molekulare Verbindungen nachzuweisen, die ihn verblufften und irritierten. Unter anderem stie? er auf ein hochwirksames Neurotoxin, von dem er allerdings nicht wusste, ob es der Gallerte entstammte oder dem Wasser in dem Glas.
Dieses Wasser, so viel stand fest, war gesattigt mit organischer Materie und diversen Stoffen. Weil er vorlaufig nicht die Zeit hatte, es zu untersuchen, beschloss Roche, den verbliebenen Inhalt des Glases zu konservieren und in den nachsten Tagen einer eingehenderen Analyse zu unterziehen, und das Wasser wanderte in den Kuhlschrank.
Am selben Abend wurde Jerome krank. Es begann damit, dass er leichte Ubelkeit verspurte. Das Restaurant war voll besetzt. Er achtete nicht weiter darauf und folgte der Choreographie der Kuche wie gewohnt. Die zehn nicht geplatzten Hummer waren von einwandfreier Qualitat, und kein weiterer wurde benotigt. Trotz des unerfreulichen Vorfalls vom Vormittag lief alles wie am Schnurchen, eben wie man es vom Troisgros gewohnt war.
Gegen zehn nahm Jeromes Ubelkeit zu, und au?erdem stellte sich leichter Kopfschmerz ein. Kurz darauf bemerkte er an sich Konzentrationsschwachen. Er verga?, ein Gericht fertig zu stellen und einige Anweisungen zu geben, und der elegante, perfekte Ablauf geriet unmerklich ins Stocken.
Jean Jerome war Profi genug, um augenblicklich die Rei?leine zu ziehen. Er fuhlte sich nun wirklich elend, also legte er die Verantwortung fur alles Weitere in die Hande seiner Stellvertreterin, einer aufstrebenden, hoch talentierten Kochin, die ihre Lehrjahre in Paris beim ehrwurdigen Ducasse verbracht hatte, lie? sie wissen, dass er einen kleinen Spaziergang im Restaurantgarten machen wolle, und ging hinaus. Der Garten war direkt der Kuche angeschlossen. Er war von ausnehmender Schonheit. Bei mildem Wetter wurden die Gaste dort willkommen gehei?en, nahmen ihren Aperitif und die ersten Hors d’?uvres ein, um dann mitten durch die Kuche ins Restaurant gefuhrt zu werden, nicht ohne interessante Einblicke zu erhalten und hin und wieder eine kleine Demonstration. Jetzt lag der Garten verlassen da, dezent illuminiert.