Wissenschaftler der University of California in Santa Cruz fanden schlie?lich die Losung in Form wenige Gramm schwerer, druckfester Unterwasserkameras. Sie befestigten die Gerate nacheinander an einem Blauwal, einem See-Elefanten, einigen Weddellrobben und schlie?lich auch an einem Delphin. Innerhalb kurzester Zeit wurden erstaunliche Phanomene offenbar. Wenige Wochen reichten, um das Wissen uber Meeressauger enorm zu erweitern. Alles ware wunderbar gewesen, hatte man Wale und Delphine so einfach besonden konnen wie andere Tiere, doch eben dies gestaltete sich schwierig bis unmoglich. Darum lagen langst nicht so viele Aufzeichnungen uber den Lebensraum der Wale vor, wie Anawak sich in diesen Stunden gewunscht hatte, und andererseits mehr als genug. Da niemand zu sagen wusste, wonach man Ausschau halten musste, war jede Aufzeichnung wichtig — und damit Tausende Stunden Bild— und Tonmaterial, Messungen, Analysen und Statistiken.
Projekt Sisyphos, wie John Ford es nannte.
Wenigstens uber Mangel an Zeit konnte sich Anawak nicht beklagen. Davies Whaling Station war rehabilitiert — und geschlossen. Nur noch sehr gro?e Schiffe befuhren das Kustengebiet des kanadischen und nordamerikanischen Westens. Das Desaster vor Vancouver Island hatte sich beinahe zeitgleich von San Francisco bis hinauf nach Alaska abgespielt. Im Verlauf der ersten Angriffswelle waren uber hundert kleinere Schiffe und Boote entweder gesunken oder schwer beschadigt worden. Am Wochenende schlie?lich sank die Zahl der Angriffe, weil sich nun uberhaupt niemand mehr hinauswagte, sofern er nicht wenigstens den Kiel einer gro?en Fahre oder eines Frachters unter sich wusste. Immer noch jagten widerspruchliche Meldungen einander. Auch uber die Zahl der Todesopfer gab es kaum verlassliche Angaben. Verschiedene Kommissionen und Krisenstabe unter nationalem Management hatten ihre Arbeit aufgenommen, was eine geradezu invasive Prasenz von Fluggerat zur Folge hatte — allenthalben knatterten Helikopter die Kuste entlang, aus denen Soldaten, zusammengepfercht mit Wissenschaftlern und Politikern, aufs Meer starrten und sich an Ratlosigkeit gegenseitig uberboten.
Der Natur solcher Stabe folgend hatten die Dezernatsleiter des Regierungsteams begonnen, externe Spezialisten hinzuzuziehen. Das Vancouver Aquarium mit Ford an der Spitze wurde als wissenschaftliches Lagezentrum rekrutiert, in dem samtliche relevanten Daten zusammenliefen. Angeschlossen waren nahezu jedes Institut und jede Forschungseinrichtung, die sich mit marinem Leben befasste. Fur Ford eine erdruckende Burde. Er nahm eine Arbeit auf, von der er nicht wusste, worin sie eigentlich bestand. Vom Jahrhundertbeben bis zur nuklearen Terrorattacke existierten Schubladen voller Szenarien, aber nicht hierfur. Ford zogerte nicht lange und schlug seinerseits Anawak als Berater vor, der von allen Wissenschaftlern Nordamerikas und Kanadas vermutlich mehr als jeder andere wusste, was einem Wal im Kopf herumging. Denn nur dort konnte die Antwort liegen: Wenn Wale uber Intelligenz verfugten — hatten sie dann noch alle Tassen im Schrank? Und wenn nicht, was war mit ihnen passiert?
Aber auch Anawak, in den man so gro?e Hoffnungen setzte, wusste die Antwort nicht. Er hatte samtliches verfugbare telemetrische Material angefordert, das seit Jahresbeginn vor der Pazifikkuste gesammelt worden war. Seit vierundzwanzig Stunden werteten er und Alicia Delaware nun Videosequenzen aus, unterstutzt von Mitarbeitern des Aquariums. Sie studierten Positionsdaten, lauschten von Hydrophonen aufgenommenen Gerauschen, ohne zu brauchbaren Resultaten zu gelangen. Kaum einer der Wale hatte telemetrisches Gerat getragen, als sie ihre Wanderungen von Hawaii und Baja California hinauf zur Arktis begonnen hatten, bis auf zwei Buckelwale, deren Fahrtenschreiber kurz nach Verlassen der Baja abgefallen waren. Tatsachlich entstammte die einzige Erkenntnis nach wie vor dem Video, das die Frau an Bord der Blue Shark gemacht hatte. Sie hatten es mehrfach in Davies Whaling Station studiert, zusammen mit anderen Skippern, die geubt in der Identifizierung von Walfluken waren. Nach diversen Durchlaufen und Bildvergro?erungen hatten sie schlie?lich zwei Buckelwale, einen Grauwal und einige Orcas wieder erkannt.
Delaware hatte Recht gehabt. Das Video war eine Spur.
Anawaks Wut auf die Studentin war ziemlich rasch verflogen. Sie mochte eine vorlaute Klappe haben und schneller reden, als sie dachte, aber hinter der forschen Art erkannte er einen hochintelligenten, analytischen Verstand. Au?erdem hatte sie Zeit. Ihre Eltern lebten in den British Properties, Vancouvers elitarem Wohnviertel fur die Reichen. Sie boten Alicia ein Leben im Uberfluss, ohne sich je blicken zu lassen. Anawak schatzte, dass sie den eklatanten Mangel an Interesse und gemeinsam verbrachter Zeit mit Geld ausglichen, was ihre Tochter nicht sonderlich zu bekummern schien — versetzte es sie doch in die Lage, einen Haufen davon auszugeben und ansonsten eigene Wege zu gehen. Im Grunde hatte es besser nicht kommen konnen. Delaware sah die unverhoffte Zusammenarbeit als Chance, ihr Biologiestudium mit Praxis zu unterfuttern, und Anawak brauchte eine Assistentin, nachdem Susan Stringer tot war.
Stringer …
Jedes Mal, wenn er an die Skipperin dachte, uberkamen ihn Scham und Schuldgefuhle, weil er sie nicht hatte retten konnen. Regelma?ig sagte er sich, dass nichts und niemand auf der Welt Stringer hatte retten konnen, nachdem der Orca sie gepackt hatte. Ebenso regelma?ig stellten sich nagende Zweifel ein. Was wusste er, der Elaborate und Traktate uber das Selbstbewusstsein von Tummlern veroffentlicht hatte, denn wirklich uber die Gedankengange eines Wals? Wie uberzeugte man einen Orca, von seinem Opfer abzulassen? Welchen Argumenten war ein intelligenter Verstand zuganglich, der anders funktionierte als der menschliche?
Hatte es doch einen Weg gegeben?
Dann wieder sagte er sich, dass Orcas Tiere waren. Hochintelligent zwar, aber Tiere. Und Beute war Beute.
Andererseits gehorten Menschen eindeutig nicht ins Beuteschema von Schwertwalen. Hatten die Orcas die im Wasser treibenden Passagiere also uberhaupt gefressen?
Oder einfach nur getotet?
Ermordet.
Konnte man einen Orca des Mordes bezichtigen?
Anawak seufzte. Er drehte sich im Kreis. Seine Augen brannten mit jeder Minute schlimmer. Lustlos griff er nach einer weiteren CD mit digitalen Bilddaten, drehte sie unentschlossen hin und her und legte sie wieder weg. Seine Konzentration war am Ende. Den ganzen Tag hatte er im Aquarium verbracht. Standig hatte er sich mit irgendjemandem besprochen oder in der Gegend herumtelefoniert, ohne dass sich Fortschritte einstellen wollten. Er fuhlte sich ausgelaugt und leer. Mude schaltete er den Bildschirm aus und sah auf die Uhr. Sieben durch. Er stand auf und ging John Ford suchen. Der Direktor war in einer Besprechung, also schaute er bei Delaware vorbei. Sie sa? in einem umfunktionierten Besprechungsraum uber Fernschreiberdaten.
»Lust auf ein saftiges Pottwalsteak?«, fragte er sauerlich.
Sie schaute auf und zwinkerte. Die blaue Brille hatte sie mit Kontaktlinsen vertauscht, die ebenfalls verdachtig blau wirkten. Wenn man versuchte, die Hasenzahne zu ignorieren, sah sie richtig gut aus.
»Klar. Wohin?«
»Es gibt einen ganz manierlichen Imbiss um die Ecke.«
»Quatsch, Imbiss!«, rief sie vergnugt. »Ich lad dich ein.«
»Das ist nicht notig.«
»Ins Cardero’s.«
»Ach du meine Gute.«
»Es ist gut !«
»Ich wei?, dass es gut ist. Aber erstens musst du mich nicht einladen, und zweitens finde ich Cardero’s … na ja, wie soll ich sagen …«
»Ich find’s klasse!«
Cardero’s Restaurant und Bar lagen inmitten des Yachthafens Coal Harbour, gro? und luftig, mit hohen Decken und Fenstern. Ein ziemlich angesagter Ort. Man genoss einen herrlichen Blick auf die Umgebung und bekam ordentliche West-Coast-Kuche vorgesetzt. In der angrenzenden Bar flossen reichlich Drinks, die von jungen Menschen in gut sitzender Garderobe hinuntergespult wurden. Anawak wusste, dass er mit seinen ausgefransten Jeans und dem verschossenen Pullover denkbar unpassend gekleidet war, und au?erdem fuhlte er sich in angesagten Lokalen unbehaglich und fehl am Platze. Delaware hingegen war fur Cardero’s, wie er zugeben musste, nachgerade pradestiniert.