Die Presse hielt den Vorfall klein, schon aus Rucksicht auf das Restaurant, aber naturlich wurde daruber berichtet, und auch von anderswoher drangen Geruchte an Roches Ohr. Offenbar war das Troisgros bei weitem nicht allein betroffen. In Paris waren gleich mehrere Menschen gestorben, durch den Genuss verdorbenen Hummerfleischs, wie es hie?, aber Roche ahnte, dass dies nicht ganz den Tatsachen entsprach. Meldungen erreichten ihn aus Le Havre, Cherbourg, Caen, Rennes und Brest. Mittlerweile hatte er einen Assistenten darauf abgestellt, den Dingen hinterherzuforschen. Ein Bild begann sich abzuzeichnen, in dem bretonische Hummer eine unruhmliche Rolle spielten, sodass Roche schlie?lich alles andere beiseite schob und sich nur noch der Analyse der Wasserprobe widmete.
Wieder stie? er auf ungewohnliche Verbindungen, die ihm Ratsel aufgaben. Es war dringend erforderlich, an weitere Proben zu gelangen, und er lie? Kontakte herstellen in die betroffenen Stadte. Unglucklicherweise war bis dahin niemand auf die Idee gekommen, etwas von dem Zeug aufzubewahren. Es war auch nirgendwo ein Hummer explodiert wie in Roanne, allerdings war die Rede von ungenie?baren Tieren, deren Fleisch man weggeworfen habe, und anderen, die schon vor dem Kochen keinen guten Eindruck gemacht hatten, weil etwas aus ihnen hervorgequollen sei. Roche wunschte sich, jemand anderer ware so klug gewesen wie der Lehrling, aber Fischer, Gro?markthandler und Kuchenpersonal waren nun mal keine Laborarbeiter. So war er furs Erste auf Spekulationen angewiesen. Ihm schien, dass im Korper des Hummers nicht nur ein Organismus, sondern gleich zwei gelauert haben mussten. Zum einen die Gallerte. Sie hatte sich zersetzt und war offenbar vollstandig verschwunden.
Der andere Organismus hingegen lebte, trat in gro?er Dichte auf und kam Roche auf unheilvolle Weise bekannt vor.
Er starrte durch das Mikroskop.
Tausende transparente Kugeln wirbelten wie Tennisballe kreuz und quer durcheinander. Falls seine Vermutung zutraf, befand sich in ihrem Innern ein zusammengerollter Pedunculus, eine Art Russel.
Hatten diese Lebewesen Jean Jerome getotet?
Roche griff nach einer sterilisierten Glasnadel und stach sich rasch in die Daumenspitze. Ein kleiner Tropfen Blut trat aus. Vorsichtig injizierte er es in die Probe auf dem Objekttrager und sah wieder durch die Linsen des Mikroskops. Bei 700-facher Vergro?erung wirkten Roches Blutkorperchen wie rubinrote Blutenblatter. Sie taumelten im Wasser, jedes angefullt mit Hamoglobin. Sofort wurden die transparenten Kugeln aktiv. Sie stulpten ihre Russel aus und fielen blitzartig uber die menschlichen Zellen her. Die Pedunkel stachen wie Kanulen hinein. Langsam farbten sich die unheimlichen Mikroben rotlich, wahrend sie die Blutkorperchen aussaugten. Immer mehr von ihnen sturzten sich auf Roches Blut. War ein Blutkorperchen leer gesaugt, wechselten sie zum nachsten. Dabei schwollen sie an, exakt so, wie Roche es befurchtet hatte. Jedes der Wesen wurde bis zu zehn Blutkorperchen in sich aufnehmen. In spatestens einer Dreiviertelstunde wurden sie ihr Werk vollendet haben. Er sah weiterhin fasziniert zu und stellte fest, dass es sogar noch schneller ging, viel schneller, als er gedacht hatte.
Nach funfzehn Minuten hatte der Spuk ein Ende.
Roche sa? starr vor seinem Mikroskop. Dann notierte er: Vermutlich Pfiesteria piscicida.
Das ›vermutlich‹ stand fur letzte Reste von Zweifel, obschon Roche sicher war, soeben den Erreger klassifiziert zu haben, der fur die Krankheits— und Todesfalle verantwortlich war. Was ihn storte, war der Eindruck, es mit einer Monsterausgabe von Pfiesteria piscicida zu tun zu haben. Das barg den Superlativ im Superlativ, weil Pfiesteria vielen an sich schon als Monster galt. Ein Monster von eben mal einem hundertstel Millimeter Durchmesser. Eines der kleinsten Raubtiere der Welt. Und zugleich eines der gefahrlichsten.
Pfiesteria piscicida war ein Vampir.
Er hatte viel daruber gelesen. Die erste Begegnung der Wissenschaft mit Pfiesteria lag gar nicht so lange zuruck. Es hatte in den Achtzigern begonnen, mit dem Tod von 50 Laborfischen an der North Carolina State University. An der Qualitat des Wasser, in dem sie geschwommen waren, gab es augenscheinlich nichts zu beanstanden, sah man von Wolken winziger Einzeller ab, die sich im Aquarium tummelten. Man wechselte das Wasser und setzte neue Fische aus. Sie uberlebten keinen Tag. Irgendetwas mordete sie mit gro?er Effizienz dahin. Es totete Goldfische, Streifenbarsche, afrikanische Tilapias, oft binnen Stunden, manchmal in Minuten. Jedes Mal beobachteten die Wissenschaftler, wie sich die Opfer in Zuckungen wanden, bevor sie qualvoll krepierten. Jedes Mal tauchten aus dem Nichts die ratselhaften Mikroben auf, und ebenso schnell verschwanden sie wieder.
Allmahlich wurde das Bild klarer. Eine Botanikerin erkannte den unheimlichen Organismus als Gei?eltierchen einer bislang unbekannten Spezies. Ein Dinoflagellat, eine Alge. Davon gab es viele. Die meisten waren harmlos, aber einige hatten sich schon lange als regelrechte Giftschleudern geoutet. Sie verseuchten ganze Muschelfarmen. Andere Dinoflagellaten losten die weit gefahrlicheren ›Roten Tiden‹ aus, die das Meer blutrot oder braun farbten. Auch von ihnen wusste man, dass sie Schalentiere befielen. Dennoch nahmen sich solche Vertreter harmlos aus gegen den neu entdeckten Organismus.
Denn Pfiesteria piscicida unterschied sich von ihren Artgenossen. Sie griff aktiv an. In gewisser Weise erinnerte sie an Zecken. Nicht der Form halber, sondern weil sie sich durch ebensolche Geduld auswies. Scheinbar leblos lauerte sie auf dem Grund von Gewassern. Jeden einzelnen Organismus umgab eine Kapsel, eine Art Zyste, die ihn schutzte. Auf diese Weise konnte Pfiesteria jahrelang ohne Nahrung ausharren. Bis ein Schwarm Fische vorbeizog, deren Ausscheidungen zu Boden sanken und den Appetit des scheintoten Einzellers weckten.
Was nun geschah, lie? sich nur als Blitzangriff beschreiben. Zu Milliarden losten sich die Algen aus ihren Zysten und stiegen empor. Die beiden Gei?eln am Korperende dienten dabei als Antriebssystem. Die eine rotierte wie ein Propeller, die andere steuerte den Organismus in die gewunschte Richtung. Heftete sich Pfiesteria an den Korper eines Fisches, setzte sie ein Gift frei, das die Nerven lahmte und zugleich munzgro?e Locher in die Haut fra?. Dann schob sie ihren Saugrussel in die Wunden und nahm die Korpersafte der sterbenden Beute in sich auf. War sie gesattigt, lie? sie von ihrem Opfer ab und verzog sich wieder auf den Grund, um sich erneut einzukapseln.
An sich galten toxische Algen als normales Phanomen. Etwa so wie Pilze im Wald. Man wusste seit langem um die Giftstoffe mancher Algen, genau genommen seit biblischen Zeiten. Im Zweiten Buch Mose wurde ein Phanomen beschrieben, das mit verbluffender Genauigkeit auf eine ›Rote Tide‹ zu passen schien: Und alles Wasser wurde in Blut verwandelt. Die Fische starben, und der Strom stank, sodass die Agypter das Wasser aus dem Nil nicht trinken konnten. Es war also nichts Besonderes, wenn Einzeller Fische mordeten. Nur wie und mit welcher Brutalitat es geschah, war neu. Es schien, als habe eine Krankheit von den Gewassern der Welt Besitz ergriffen, deren spektakularstes Symptom vorerst den Namen Pfiesteria piscicida trug. Giftattacken auf Meerestiere, neuartige Korallenkrankheiten, infizierte Seegraswiesen, all das spiegelte den Zustand wider, in den die Weltmeere insgesamt geraten waren — geschwacht durch Strome von Schadstoffen, Uberfischung, die rucksichtslose Erschlie?ung der Kusten und die Folgen der globalen Klimaerwarmung. Man stritt, ob Invasionen von Killeralgen etwas Neues oder periodisch Auftretendes waren — fest stand, dass sie den Globus auf nie dagewesene Art vereinnahmten und dass sich die Natur als ausgesprochen kreativ erwies, was das Hervorbringen neuer Spezies anging. Wahrend die Europaer noch frohlockten, in ihren Breiten trete Pfiesteria nicht auf, starben vor Norwegen tausende von Fischen, und die norwegischen Lachszuchter gerieten an den Rand des Ruins. Diesmal hie? der Morder Chrysochromulina polylepis, eine Art eifriger kleiner Bruder von Pfiesteria, und niemand wagte vorherzusagen, womit man es noch zu tun bekommen wurde.