»Wie bitte?«

»Es sind keine mehr da. Vor den betroffenen Kusten sind die gro?en Schwarme einfach verschwunden. Die Mannschaften von Trawlern behaupten, sie hatten ihre angestammten Gebiete verlassen und seien aufs offene Meer hinausgeschwommen.«

»Aber da finden sie keine Nahrung.«

»Vielleicht gehen sie auf Diat. Was wei? denn ich?«

»Und niemand hat eine Erklarung?«

»Uberall sind Krisenstabe eingerichtet worden«, sagte Olsen. »Aber du erfahrst nichts. Ich hab’s versucht.«

»Soll hei?en, es ist alles noch viel schlimmer.«

»Vielleicht.« Olsen zog ein Blatt aus dem Stapel. »Wenn du dir diese Liste ansiehst, findest du fett aufgemachte Pressemeldungen, die wenig spater einfach nicht mehr thematisiert werden. Quallen vor der westafrikanischen Kuste. Moglicherweise auch vor Japan, ganz sicher auf den Philippinen. Verdacht auf Todesfalle, dann Dementi, dann Schweigen im Walde. Aber pass auf. Jetzt wird’s erst richtig spannend. Es gibt da eine Alge, sie geistert schon seit einigen Jahren durch die Medien. Eine Killeralge, Pfiesteria piscicida. Kaum einzudammen, wenn du sie am Hals hast. Macht Menschen und Tiere krank. Bis heute wutete sie vorzugsweise jenseits des Atlantiks, aber neuerdings scheint Frankreich betroffen. Und zwar nicht zu knapp.«

»Tote?«

»Durchaus. Die Franzosen sprudeln nicht gerade uber, was Stellungnahmen angeht, aber offenbar ist die Alge mit Hummern ins Land gelangt. Da steht alles drin, ich hab’s dir rausgesucht.«

Er schob Johanson einen Teil des Packens hinuber.

»Dann das Verschwinden von Booten. Inzwischen gibt es eine Reihe aufgezeichneter Notrufe, aber die meisten ergeben keinen Sinn. Sie brechen zu fruh ab. Was immer passiert ist, muss sehr schnell gegangen sein.« Olsen wedelte mit einem weiteren Blatt. »Aber wer ware ich, wenn ich nicht mehr wusste als der Rest der Menschheit?

Drei dieser Notrufe gelangten ins Netz.«

»Und?«

»Irgendwas hat die Boote angegriffen.«

»Angegriffen?«

»In der Tat.« Olsen rieb sich die Nase. »Wasser auf die Muhle deiner Verschworungstheorie. Das Meer erhebt sich gegen den Menschen, wie unanstandig von dem lausigen Gewasser. Wo wir doch blo? ein bisschen Mull versenken und die Fische und die Wale ausrotten. Ach, apropos Wale — das Letzte, was ich horte, war, dass sie im Ostpazifik massiv auf Schiffe losgehen. Angeblich traut sich niemand mehr raus.«

»Wei? man …«

»Frag nicht so blode. Nein, man wei? nicht. Man wei? gar nichts. Gott, war ich flei?ig! Ebenfalls kein Aufschluss uber die Ursache der Kollisionen und Tankerkatastrophen. Totale Nachrichtensperre. Deine Theorie hat insofern was fur sich, als fast jedes Mal offen uber die Dinge berichtet wird, und mittendrin breitet jemand den Mantel des Schweigens daruber. Vielleicht doch Akte X?« Olsen runzelte die Stirn. »Jedenfalls zu viele Quallen, zu viele Fische, alles tritt irgendwie uberdimensioniert auf.«

»Und niemand hat eine Idee, woher es kommt?«

»Niemand versteigt sich offiziell zu der Annahme, es konne miteinander in Zusammenhang stehen, so wie du. Am Ende werden die Krisenstabe El Nino verantwortlich machen oder die Erderwarmung, und die Invasionsbiologie bekommt Aufwind, und sie veroffentlichen spekulative Artikel.«

»Die ublichen Verdachtigen.«

»Ja, aber es ergibt alles keinen Sinn. Quallen, Algen und ahnliches Viehzeug sind schon vor Jahren im Ballastwasser von Schiffen um die Welt gereist. Wir kennen die Phanomene.«

»Schon klar«, sagte Johanson. »Siehst du, darauf will ich hinaus. Wenn irgendwo Horden von Seewespen einfallen, ist das eine Sache. Wenn rund um den Globus die unwahrscheinlichsten Dinge gleichzeitig passieren, ist das ganz was anderes.«

Olsen legte die Fingerspitzen aufeinander und sah nachdenklich drein. »Also, wenn du unbedingt Zusammenhange herstellen willst, wurde ich nicht von biologischen Invasionen sprechen. Sondern eher von Verhaltensanomalien. Das sind Angriffsmuster. Und zwar solche, wie man sie bislang nicht kannte.«

»Sonst hast du nichts rausgefunden uber irgendwelche neuen Spezies?«

»Du lieber Gott. Reicht das nicht?«

»Ich frage ja nur.«

»Was schwebt dir denn vor?«, fragte Olsen gedehnt.

Wenn ich jetzt nach Wurmern frage, dachte Johanson, wei? er Bescheid. Er wei? zwar nicht, was er mit der Information anfangen soll, aber ihm wird augenblicklich klar sein, dass irgendwo auf der Welt Wurminvasionen stattfinden.

»Nichts Konkretes«, sagte er.

Olsen sah ihn scheel an. Dann reichte er ihm den restlichen Packen Papier hinuber. »Erzahlst du mir bei Gelegenheit, was du mir ganz offensichtlich nicht erzahlen willst?«

Johanson nahm die Ausdrucke und erhob sich. »Wir trinken einen drauf.«

»Klar doch. Wenn ich mal Zeit habe. Du wei?t, mit der Familie …«

»Danke, Knut.«

Olsen zuckte die Achseln. »Keine Ursache.«

Johanson trat hinaus auf den Flur. Aus einem Horsaal stromten Studenten an ihm vorbei, einige lachend und schwatzend, andere mit angestrengten Gesichtern.

Er blieb stehen und sah ihnen nach.

Plotzlich kam ihm die Idee, alles sei gesteuert, gar nicht mehr so abwegig vor.

Vor Svalbard, Spitsbergen, Gronlandische See

Auf dem Wasser lag das Mondlicht.

Es war ein Anblick, der die Mannschaft an Deck trieb, so atemberaubend schon prasentierte sich das Eismeer in dieser Nacht. Selten sah man es so, aber Lukas Bauer bekam nichts davon mit. Er sa? in seiner Kammer uber seinen Unterlagen und kam sich vor wie jemand, der die sprichwortliche Nadel im Heuhaufen sucht, nur dass der Heuhaufen die Gro?e zweier Meere besa?.

Karen Weaver hatte ihre Sache gut gemacht und ihn wirklich entlastet, aber vor zwei Tagen war sie im spitsbergischen Longyearby von Bord gegangen, um dort Recherchen anzustellen. Sie fuhrte ein unruhiges Leben, wie Bauer fand, obschon sein eigenes nicht eben ruhiger verlief. Als Wissenschaftsjournalistin hatte sie sich vor allem auf marine Themen verlegt. Bauer vermutete, dass Weavers Berufswahl einzig dem Umstand zu verdanken war, dass sie auf diese Weise kostenlos in die unwirtlichsten Regionen der Welt reisen konnte. Sie liebte das Extreme. Darin unterschied sie sich von ihm, der das Extreme von Herzen verabscheute, jedoch von solchem Forscherdrang besessen war, dass ihm Erkenntnis uber Bequemlichkeit ging. Viele Forscher waren so. Missverstanden als Abenteurer, nahmen sie das Abenteuer in Kauf, um in den Besitz von Wissen zu gelangen.

Bauer vermisste einen bequemen Sessel, Baume und Vogel und ein frisch gezapftes deutsches Bier. Vor allem aber vermisste er Weavers Gesellschaft. Er hatte das storrische Madchen ins Herz geschlossen, und au?erdem begann er, den Sinn und Zweck von Pressearbeit zu begreifen — dass man sich, wenn man eine breite Offentlichkeit fur die eigene Tatigkeit interessieren wollte, auf ein vielleicht nicht hoch prazises, dafur jedoch verstandliches Vokabular verlegen musste. Weaver hatte ihm klargemacht, dass viele Menschen seine Arbeit schon darum nicht verstehen wurden, weil sie gar nicht wussten, wie und wo der Golfstrom entsprang, um den sich alles drehte, was er in diesen Tagen unternahm. Er hatte das nicht glauben konnen. Er hatte auch nicht glauben konnen, dass keiner wusste, was ein Autarker Drifter war, bis Weaver ihn davon uberzeugte, dass es kaum jemand wissen konnte, weil Drifter viel zu neu und zu speziell waren. Das hatte er schlie?lich akzeptiert. Aber der Golfstrom! Was lernten die Kinder blo? in der Schule?

Doch Weaver hatte Recht. Schlie?lich wollte er die Offentlichkeit gewinnen, um sie teilhaben zu lassen an seiner Sorge, und um den Verantwortlichen Druck zu machen.

Und Bauer sorgte sich sehr.

Seine Sorge entsprang im Golf von Mexiko. Dorthin stromte entlang der sudamerikanischen Kuste und vom Suden Afrikas her warmes Oberflachenwasser. In der Karibik wurde es aufgeheizt und floss weiter nach Norden. Einladend warmes Wasser, zwar ziemlich salzig, aber weil es so warm war, blieb es an der Oberflache.