Was konnte er Au?ergewohnliches tun?
Wie hatte Ford gesagt? Er solle ein paar Nootka-Hauptlinge interviewen.
Die Indianer wissen bestimmt was.
Wussten sie wirklich etwas? Die Indianer Kanadas hatten uber Generationen ihr Wissen aneinander weitergegeben, bis der Indian Act 1885 die Kette der mundlichen Weitergabe durchbrach. Man begann, ihnen ihre Identitat abzukaufen, indem man sie dazu brachte, ihre Heimat zu verlassen und ihre Kinder auf die Residential School zu schicken, um sie — wie es hie? — in die Gemeinschaft der Wei?en zu integrieren. Der Indian Act war eine Schlange gewesen, doppelzungig: Integration in etwas Fremdes, eine gro?zugig ausgestreckte Hand, obwohl man doch integriert war, namlich in die eigene Gemeinschaft, aber die war der Schlange unlieb gewesen. Immer noch wirkte der Alptraum des Indian Act nach. Seit einigen Jahrzehnten hatten die Indianer zunehmend wieder die Kontrolle uber ihr Leben ergriffen. Viele knupften das Band der Uberlieferungen dort an, wo es fast 100 Jahre zuvor zerschnitten worden war, wahrend sich die kanadische Regierung um Wiedergutmachung bemuhte, aber von einer Wiederherstellung ihrer Kultur konnte keine Rede sein. Immer weniger Indianer kannten die alten Uberlieferungen.
Wen konnte er fragen?
Die Alten.
Anawak humpelte auf die Veranda und sah die Hauptstra?e entlang.
Er pflegte so gut wie keinerlei Kontakt zu den Nootka, den Nuuchah-nulth, wie sie sich selber nannten: Die entlang der Berge leben. Neben den Tsimshian, Gitskan, Skeena, Haida, Kwagiulth und Coast Salish waren die Nootka einer der Hauptclans, welche die Westkuste British Columbias bewohnten. Die unterschiedlichen Clans, Stamme und Sprachfamilien ins richtige Verhaltnis zu setzen war einem Laien so gut wie unmoglich. Schon hier scheiterten die meisten am Einstieg in die sogenannte indianische Kultur, womit sie ins Reich der regionalen Dialekte und Lebensweisen noch gar nicht vorgesto?en waren, die von Bucht zu Bucht differierten.
Man konnte Fords Hinweis nur als Scherz auffassen. Eine nette Idee fur einen Spielfilm, in dem geheimnisvolle Uberlieferungen zur Losung des Ratsels fuhrten. Das Problem war, dass es die Indianer nicht gab. Um etwas uber den Pazifik vor Vancouver Island zu erfahren, machte es grundsatzlich Sinn, sich an die Nootka zu halten, die Indianer des Inselwestens. Vielleicht wurde man fundig. Vielleicht verstrickte man sich aber auch in den Mythen der diversen Stamme, aus denen sich die Nootka zusammensetzten. Jeder dieser Stamme besiedelte sein eigenes Territorium. Dass die Traditionen der Nootka eng mit der Landschaft Vancouver Islands verbunden waren und die Mythologie tief in der Natur wurzelte, war der Hut, unter den sich alles bringen lie?. Ab da wurde es vertrackt. Grundsatzlich erzahlte man sich bei den Nootka Schopfungsgeschichten, in denen die Figur des Transformers, des Gestaltwandlers, die Hauptrolle spielte. Speziell im Stamm der Dididath kam Wolfen eine gro?e Bedeutung zu, aber es gab naturlich auch Geschichten uber Orcas. Wer allerdings im Bemuhen, etwas uber Orcas zu erfahren, die Wolfsgeschichten au?er Acht lie?, beging schon den ersten gro?en Fehler, weil im Transformer-Zyklus Menschen und Tiere geistig miteinander verbunden waren. Als Folge verfugten nicht nur alle Kreaturen uber die Moglichkeit der Transformation in andere Wesen, manche waren zu allem Uberfluss auch noch mit einer Doppelnatur ausgestattet: Ging ein Wolf ins Wasser, verwandelte er sich naturlich in einen Killerwal, kam ein Killerwal an Land, wurde er zum Wolf. Orcas und Wolfe waren ein und dieselbe Wesenheit, und Geschichten uber Orcas zu erzahlen, ohne dabei an Wolfe zu denken, war in den Augen eines Nootka volliger Blodsinn.
Weil die Nootka aus alter Tradition Walfanger waren, hatten sie unzahlige Geschichten uber Wale in petto. Aber noch lange nicht jeder Stamm erzahlte die gleichen Geschichten, und die gleichen wurden etwas anders erzahlt, je nachdem, wohin man kam. Zu den Nootka gehorten im Ubrigen auch die Makah — oder auch nicht, wie einige meinten, zumindest sprachen beide Wakashan — , die neben den Eskimos als einziger Stamm Nordamerikas ein vertragliches Recht auf Walfang hatten und derzeit fur Diskussionsstoff sorgten, weil sie nach fast einem Jahrhundert Fangabstinenz wieder davon Gebrauch machen wollten. Die Makah lebten nicht auf Vancouver Island, sondern auf dem gegenuberliegenden nordwestlichen Zipfel des Staates Washington. In ihren Mythen gab es diverse Geschichten uber Wale, die sich auch bei den Nootka auf der Insel fanden. Was hingegen die Beweggrunde eines Wals anging, sein Denken und Fuhlen, seine Absichten, hatte jeder seine eigene Betrachtungsweise. Wie auch anders bei einem Wesen, das man nicht einfach als Wal kannte, sondern als iihtuup, als ›Gro?es Mysterium‹.
Tu etwas Au?ergewohnliches.
Nun, au?ergewohnlich war es allemal, die Indianer zu Rate zu ziehen. Ob es au?ergewohnlich viel brachte, wurde sich zeigen.
Anawak grinste sauerlich. Ausgerechnet er.
Fur jemanden, der seit zwei Jahrzehnten in der Gegend von Vancouver lebte, wusste er wenig uber die hiesigen Indianer, weil er im Grunde nichts wissen wollte. Nur hin und wieder uberkam ihn eine unbestimmte Sehnsucht nach ihrer Welt. Das Gefuhl war ihm jedes Mal peinlich, sodass er es niederkampfte, bevor es an Gro?e gewinnen konnte. Unterm Strich war er, den Delaware fur einen Makah hielt, denkbar ungeeignet, sich in einheimische Mythen zu versenken.
Und Greywolf war es noch viel weniger.
Greywolf ist jammerlich, dachte er voller Erbitterung. Kein Indianer lauft heute noch mit einem lappischen Wildwest-Nachnamen herum. Die Chiefs der Stamme hie?en Norman George oder Walter Michael oder George Frank. Keiner nannte sich John Two Feathers oder Lawrence Swimming Whale. Nur ein hirnloser Angeber wie Jack O’Bannon leistete sich diese Kinderbuchromantik. Ausgerechnet Jack, der das Wort Indianer auf der Stirn stehen hatte, war zu blode, wenigstens wie ein richtiger Indianer zu hei?en.
Greywolf war ein Ignorant!
Und er selber?
Wir schenken uns nichts, dachte er verdrossen. Der eine sieht aus wie ein Indianer und weist alles Indianische von sich. Der andere ist keiner und versucht mit aller Gewalt, einer zu sein. Wir sind beide Ignoranten.
Jeder eine lacherliche Figur. Zwei Versehrte.
Dieses verdammte Knie! Es machte ihn nachdenklich. Er wollte nicht nachdenken! Er brauchte keine Alicia Delaware, die ihn mit altkluger Studentenmiene den Weg zuruckstie?, den er gekommen war.
Wen konnte er fragen?
George Frank!
Das war einer der Chiefs, die er kannte. Man war ja nicht aus der Welt. Weder Wei?e noch Indianer pflegten au?erhalb der offiziellen Zusammenkunfte im Job und bei einem gelegentlichen Bier ausgiebigen Kontakt, aber man hatte auch nichts gegeneinander. Es herrschte Koexistenz, Zwei Welten, die einander in Frieden lie?en. Dennoch entstanden hin und wieder Freundschaften. George Frank war weniger als ein Freund, aber immerhin eine Bekanntschaft: ein netter Kerl und au?erdem taayii hawil der Tla-o-qui-aht, eines Nootka-Stammes auf dem Gebiet um Wickaninnish. Ein hawil war ein Chief, ein Hauptling, der taayii hawil sogar noch etwas mehr, der oberste Chief sozusagen. Mit den taayii hawiih war es ein bisschen wie mit dem englischen Konigshaus. Ihr Rang war durch die Erbfolge festgelegt. Im Alltag wurden die meisten Stamme mittlerweile von gewahlten Chiefs regiert, aber die Erbhauptlinge erfreuten sich dennoch hochster Achtung.
Anawak uberlegte. Im Norden der Insel nannten sie die obersten Chiefs taayii hawiih, im Suden taayii chaachaabat. Er wollte sich nicht lacherlich machen. Wahrscheinlich war George Frank eher taayii chaachaabat, aber wer zum Teufel sollte sich das merken?
Besser, indianische Ausdrucke zu meiden.