Sobald die Order quittiert war, segelte die Brigg mit beinahe unhoflicher Eile wieder ab. Das war ebenfalls merkwurdig. Das Land befand sich in einem immer wutender und grimmiger werdenden Krieg, und da war fur zwei Schiffe, die sich auf hoher See trafen, und fur deren Besatzungen, die bei jedem Wetter und unter schwierigsten Bedingungen nach dem Feind Ausschau halten mu?ten, jede, auch die gringfugigste Nachricht von hohem Wert. Die Brigg hatte sich der Euryalus sogar nur sehr vorsichtig genahert. Daran war Bolitho gewohnt, denn sie war ein Prisenschiff und sah noch so franzosisch aus, wie man es von einem erst vier Jahre alten Schiff nicht anders erwarten konnte.
Aber trotzdem — auch diese Einzelheit verstarkte Bolithos Gefuhl der Unsicherheit.»Sechs Faden!»
Er wandte sich um und befahl:»Lassen Sie mir das Lot bringen, Mr. Keverne; sie sollen aber unterdessen mit dem zweiten Lot weitermachen!»
Ein barfu?iger Matrose kam mit klatschenden Sohlen aufs Achterdeck und fuhrte gru?end die Handknochel an die Stirn. Dann hielt er Bo-litho das gro?e, tropfende Lot hin und sah interessiert zu, wie dieser mit dem Finger in die Hohlung fuhr: die Talgfullung war voll mattglanzender Korner, die wie rotlicher Korallenbruch aussahen.
Bolitho rieb die Kornchen in der Handflache auseinander und sagte zerstreut:»Die >Sechs Schweine<.»
Hinter ihm murmelte Partridge bewundernd:»Also, wenn ich's nicht gesehen hatte, ich wurd's nicht glauben.»
Bolitho sagte:»Fallen Sie einen Strich ab und lassen Sie >An die Brassen< pfeifen.»
Keverne hustelte und fragte leise:»Was bitte sind die >Sechs Schweine<, Sir?»
«Sandbanke, Mr. Keverne. Wir sind jetzt ungefahr zwei Meilen sudlich von St. Anthony's Head. «Doch auf einmal genierte er sich, weil er so tat, als konne er Wunder wirken, und erlauterte lachelnd:»So hei?en diese Sandbanke — warum, wei? ich auch nicht. Aber seit ich denken kann, bedecken dort diese kleinen Steine den Grund.»
Rasch wandte er sich um und sah, da? ein Streifen Sonnenlicht durch den Nebel drang und das Achterdeck wie ein bla?goldener Finger beruhrte. Partridge und die anderen wurden die Ehrfurcht vor seiner Navigationskunst sehr rasch verlieren, wenn er sich in seinen Berechnungen geirrt hatte. Vielleicht war es auch mehr Instinkt als Berechnung gewesen. Schon lange, bevor er als schlaksiger zwolfjahriger Midshipman zur See geschickt worden war, kannte er jede Bucht und Einfahrt in weitem Umkreise von Falmouth. Aber trotzdem konnte einem das Gedachtnis einen Streich spielen, und es ware weder fur den Admiral noch fur seine eigenen Beforderungsaussichten sehr erfreulich gewesen, hatte die Euryalus am fruhen Morgen, in Sichtweite seiner Heimatstadt, entmastet und aufgelaufen vor der Kuste gelegen.
Laut killten die gro?en Marssegel, das Deck krangte unter dem Andruck einer plotzlichen Brise, und wie ein fliehendes Geisterheer zog der Nebel durch die Takelage weg vom Schiff.
Bolitho unterbrach sein Auf- und Abgehen. Er starrte auf das sich standig erweiternde Panorama der grunen Kuste vor dem Bug. Sie wurde immer breiter, immer lebensvoller. Dort — es sah fast aus, als balanciere er auf dem Bugspriet — stand der Leuchtturm von St. Anthony, normalerweise der erste Gru? der Heimat an den heimkehrenden Seemann. Etwas nach Backbord hockte der graue Steinklotz von Pendennis Castle bedrohlich auf der Landzunge. Seine grauen Mauern trotzten der Sonne und ihrer Warme; seit Jahrhunderten bewachte die Festung die Hafeneinfahrt und die Stra?e ins Landesinnere.
Bolitho leckte sich die Lippen. Sie waren trocken, und das nicht nur von der Salzluft.
«Kurs auf die Reede, Mr. Partridge! Ich gehe inzwischen zum Ad-miral.»
Partridge starrte ihn an und fa?te dann an seinen zerbeulten Hut.»Aye, aye, Sir.»
Unter der Kampanje war es kuhl und dunkel nach der blendenden Helligkeit auf dem Huttendeck; und als Bolitho zum Niedergang schritt, der zur Wohnkajute des Admirals fuhrte, grubelte er immer noch daruber nach, was die Zukunft ihm und seinem Schiff wohl bringen wurde. Wahrend er leichtfu?ig den Niedergang hinabeilte, wurde ihm plotzlich wieder einmal klar, mit was fur gemischten Gefuhlen er damals das Kommando uber die Euryalus ubernommen hatte. Es war durchaus nichts Ungewohnliches, Prisenschiffe in die Flotte zu ubernehmen und gegen ihre fruheren Herren einzusetzen, und meistens lie? man ihnen auch den alten Namen. Viele Matrosen glaubten, den Schiffsnamen zu wechseln, bringe Ungluck; aber was Seeleute so daherredeten, beruhte meist nur auf alten Uberlieferungen und nicht auf Tatsachen.
Sie hatte vorher Tornade gehei?en und war das Flaggschiff des franzosischen Admirals Lequiller gewesen, der die britische Blockade durchbrochen hatte und in den Westatlantik bis zu den Kariben vorgesto?en war, wo er Tod und Verderben verbreitete;[5] doch schlie?lich hatte ihn ein relativ kleines britisches Geschwader in der Biskaya gestellt. Lequiller hatte vor Bolithos Schiff die Flagge streichen mussen, vor der alten Hyperion; aber er hatte den hochbetagten Zweidek-ker vorher so zusammengeschossen, da? er nur noch ein schwimmendes Wrack war.
Die Lords der Admiralitat hatten entschieden, da? Bolithos gro?e Prise umbenannt werden sollte, wohl hauptsachlich aus verletzter Eitelkeit, denn Lequiller hatte sie mit diesem Schiff mehr als einmal uberlistet. Komisch, dachte Bolitho damals, da? die Herren, die Seiner Majestat Kriegsflotte von den Hohen der Admiralitat aus leiteten, so wenig von Schiffen und Seeleuten verstanden, da? sie einen solchen Namenswechsel fur notig hielten.
Nur die neue Galionsfigur der Euryalus war englisch. Jethro Miller in St. Austeil, Grafschaft Cornwall, hatte sie geschnitzt, ein Geschenk der Burger von Falmouth fur einen der beruhmtesten Sohne ihrer Stadt. Miller war Schiffszimmermann auf der Hyperion gewesen und hatte in jener letzten furchtbaren Seeschlacht ein Bein verloren. Aber seine Kunstfertigkeit war ihm geblieben, und die Figur, die aus kalten blauen Augen nach vorn starrte, mit Schild und erhobenem Schwert, hatte das Wesen des Schiffes ein wenig verandert. Vielleicht sah sie dem Helden der Belagerung von Troja nicht sehr ahnlich, aber es reichte aus, um das Herz so manchen Feindes mit Furcht zu erfullen, der sie sah und ahnte, was auf ihn zukam. Denn der machtige Drei-decker reprasentierte eine Kampfkraft, mit der man rechnen mu?te. In Brest von einer der besten Werften Frankreichs erbaut, besa? er alle modernen Verfeinerungen und Verbesserungen in Bau und Besegelung, die sich ein Kommandant nur wunschen konnte.
Vom Vorsteven bis zur Heckreling ma? das Schiff 225 Fu?,[6] und in ihren zweitausend Tonnen Raum trug sie nicht nur hundert Geschutze, darunter die schweren Zweiunddrei?igpfunder[7] der Unterdeckbatterie, sondern auch uber achthundert Mann Besatzung — Offiziere, Matrosen und Marine-Infanteristen. Sie konnte, wenn sie richtig gefuhrt wurde, ein respektheischendes, ja vernichtendes Wort mitreden. Als sie in Dienst gestellt wurde, mu?te Bolitho jeden Mann nehmen, den er kriegen konnte, denn der rund um die Uhr gehende Schiffsdienst erforderte eine Menge Menschen. Bleiche Schuldner und Taschendiebe aus den Gefangnissen, ein paar ausgebildete Seeleute von anderen im Dock liegenden Schiffen, und die ubliche Mischung, die von den gefurchteten Pre?kommandos[8] eingebracht wurde. Denn die Zeiten waren hart, und die menschenhungrige Kriegsflotte hatte schon jeden Hafen, jedes Dorf durchsiebt und bejagt; und da man immer starker mit der Moglichkeit einer franzosischen Invasion rechnen mu?te, konnte es sich kein Kapitan leisten, noch gro? zu wahlen und auszusuchen, wenn er sein Schiff kampffahig machen wollte.