Bolitho bemuhte sich, seiner Gedanken, seines Zornes, seines Ekels, seines Abscheus wieder Herr zu werden.

«Mr. Keverne, der Midshipman der Wache soll folgendes Signal vorbereiten: >Alle Kommandanten an Bord des Flaggschiffs!»«

«Wann soll es gehi?t werden?«fragte Keverne. Die Frage schien ihm bedeutungsschwer.

Jemand sang aus:»Signal von der Valorous, Sir: >Gefangener bei Strafvollzug verstorben«.»

Mit einem langen Blick auf Keverne sagte Bolitho:»Jetzt.»

Damit drehte er sich kurz um und schritt nach achtern in seine Kajute.

V Ein schlechter Anfang

Punktlich um zwei Glasen der Vormittagswache kam Vizeadmiral Sir Lucius Broughton auf das Achterdeck der Euryalus, lie? sich von einem Midshipman ein Teleskop reichen und musterte, eins nach dem anderen, jedes Schiff seines Geschwaders.

Bolithos Auge schweifte rasch uber das Deck, wo Geschutzbedienungen exerzierten, die Mr. Meheux, der Zweite Offizier mit dem runden Gesicht, jetzt, da der Admiral an Deck war, besonders scharf herannahm.

Es war drei Tage her, da? sie in Falmouth Segel gesetzt hatten, drei lange und langsame Tage, in denen sie nur etwa vierhundert Meilen geschafft hatten. Bolitho fa?te die Achterdecksreling fester; er stand schrag geneigt auf dem stark krangenden Deck, denn die Euryalus segelte wie die anderen Schiffe schwer und langsam auf Backbordbug; die riesigen Rahen waren rundgebra?t, und die Marssegel hatten in der kraftigen Brise eisenharte Bauche.

Nicht da? schlechtes Segelwetter gewesen ware; ganz im Gegenteil. Am Rande der Biskaja zum Beispiel hatte Steuermann Partridge gesagt, er habe sie selten so zahm erlebt. Doch jetzt, unter dem auffrischenden Nordwest, sah man bis zur Kimm nichts als kabbelige, wei?kopfige Wellen — anscheinend war die beste Zeit vorbei. Bald wurde man reffen mussen.

Sobald sie klar von Land gewesen waren, hatte Broughton die Schiffe voll aussegeln lassen, damit ihre guten und schlechten Eigenschaften, die Starken und Schwachen seines neuen Geschwaders deutlich wurden.

Wieder blickte Bolitho rasch und verstohlen zum Admiral hin und fragte sich, was er jetzt nach dieser Musterung wieder auszusetzen oder anzuordnen haben wurde.

Auf jedem Flaggschiff war sich der Kommandant standig der Anwesenheit seines Admirals bewu?t, mu?te jede seiner Stimmungen oder Launen hinnehmen und daraus seinen eigenen Plan fur einen geordneten Dienstbetrieb entwickeln. Und doch wunderte sich Bolitho standig aufs neue daruber, da? er Broughton so gut wie gar nicht kannte. Sein Alltag schien, mit sehr geringen Abweichungen, nach der Uhr zu verlaufen: Fruhstuck um acht, Mittagessen um halb drei, Abendbrot um neun. Punkt neun Uhr kam er jeden Morgen an Deck und tat, was er jetzt tat. Allenfalls fiel eine gewisse Starre an ihm auf, und das nicht nur in seinen personlichen Gewohnheiten. Zum Beispiel hatte er gleich am ersten Tag seine Kampftaktik im Verband durchexerziert. Ganz ungebrauchlicherweise fuhr er die Euryalus an dritter Stelle der Gefechtslinie, mit nur einem einzigen Vierundsiebziger, der Valorous, hinter sich.

Wahrend die Schiffe im achterlich anlaufenden Seegang muhsam seinen kurzen Befehlen nachkamen und Kurs zu halten versuchten, hatte Broughton gesagt:»Man mu? die Kapitane ebenso studieren wie die Schiffe, die sie kommandieren.»

Bolitho hatte sofort verstanden, was er meinte, und fand es im Grunde richtig.

Unter Umstanden war es sinnlos, das kampfstarkste Schiff, besonders wenn es die Admiralsflagge fuhrte, gleich als erstes in die feindliche Gefechtslinie zu segeln. Es konnte manovrierunfahig werden und gerade dann nutzlos sein, wenn es am notigsten gebraucht wurde. Besser war es, wenn der Admiral mehr Zeit gewann und Informationen uber die Absichten des Feindes sammeln konnte.

Auch ohne Glas konnte Bolitho die vordersten Schiffe gut beobachten. Sie hielten die Stationen, die Broughton gleich anfangs befohlen hatte. An der Spitze der Gefechtslinie, von den schwellenden Marssegeln und der Fock des zweiten Schiffes fast verdeckt, fuhr der Zweidecker Zeus. Das war ein alterer Vierundsiebziger, ein Veteran des >Glorreichen Ersten Juni«, der Seeschlacht von St. Vincent und mehrerer kleinerer Aktionen. Kapitan Robert Rattray kommandierte sie seit drei Jahren und war wegen seiner ebenso aggressiven wie hartnackigen Gefechtsfuhrung bekannt, ein bulldoggenhafter Charakterzug, der sich deutlich auf seinem breiten, verwitterten Gesicht abzeichnete. Genau der richtige Kommandant, um, wenn man die Starke des Feindes prufen wollte, die erste krachende Breitseite hinzunehmen. Ein ausgekochter Berufsseemann, der jedoch au?er sturer Pflichterfullung und brennender Kampfgier nicht sehr viel im Kopfe hatte.

Kapitan Falcon von der Tanais, dem zweiten Vierundsiebziger, war ganz das Gegenteil. Ein melancholischer, nachlassig gekleideter Mann mit schwerlidrigen, nachdenklichen Augen, der jeden Befehl ohne zu fragen ausfuhrte, daruber hinaus jedoch sowohl seine Phantasie als auch sein beachtliches Konnen einsetzte, um aus Rattrays erstem Ansturmen etwas zu machen.

Etwa eine Meile achteraus der Euryalus stand das letzte Linienschiff, die Valorous. Kapitan Rodney Fourneaux kommandierte sie, ein dunnlippiger, hochmutiger Autokrat. Sie hatte sich unter fast allen Bedingungen als schnelles, gut manovierbares Schiff erwiesen; und vorausgesetzt, da? sie ihre Station halten konnte, war sie dort gut plaziert, um das Flaggschiff zu decken oder um vorzusto?en und einem Schiff des Geschwaders zu helfen, das in Schwierigkeiten geraten war.

Bolitho horte, wie das Glas mit dem gewohnten Schnappen zusammengeschoben wurde, wandte sich um und fa?te an den Hut, denn jetzt kam Broughton auf ihn zu.

Dienstlich meldete er:»Wind immer noch aus Nordost, Sir, frischt auf. Neuer Kurs Sud zu West. «Broughtons Augen glitten lassig die Reihe der an den Kanonen schwitzenden Matrosen entlang; er bestatigte Bolithos Meldung zunachst nur mit einem kurzen Grunzen, sagte aber dann:»Gut. Ihre Geschutzbedienungen scheinen ja halbwegs in Ordnung zu sein.»

Das war auch etwas, das Bolitho schon kannte. Broughton eroffnete meistens den Tag mit einem solchen Kommentar: eine Art Sporenstich oder eine wohlberechnete Krankung.

«Klarschiff zum Gefecht in zehn Minuten oder darunter, Sir«, erwiderte Bolitho kuhl,»und dann drei Breitseiten alle zwei Minuten.»

Nachdenklich musterte ihn Broughton.»Das ist Ihr Standard, nicht wahr?»

«Jawohl, Sir.»

«Ich habe Verschiedenes uber Ihre Standards gehort. «Broughton stutzte die Hande in die Huften und spahte zum Gro?mast hinauf, wo Marine-Infanteristen an einem Schwenkgeschutz ubten.

«Ich hoffe, unsere Leute werden zu gegebener Zeit daran denken.»

Bolitho wartete. Da wurde noch mehr kommen. Wie geistesabwesend sprach der Admiral weiter:»Als ich bei Ihrem Schwager speiste, erzahlte er mir einiges uber Ihre Familie. «Er wandte sich um und starrte Bolitho an.»Ich wu?te naturlich schon von dem — ah — Mi?geschick Ihres Bruders. «Er machte eine Pause, um das wirken zu lassen.»Da? er aus der Flotte desertierte. «Wieder machte er eine Pause und legte den Kopf etwas schief.

Kalt starrte Bolitho zuruck.»Er ist in Amerika ums Leben gekommen, Sir. «Merkwurdig, wie leicht ihm die Luge von den Lippen ging. Aber die Krankung war so stark wie eh und je; er hatte plotzlich den irren Wunsch, etwas Schockierendes zu sagen und Broughton von seinem Thron zu sto?en. Was hatte er zum Beispiel gesagt, wenn er erfuhre, da? Hugh eben dort an derselben Stelle, wo Sir Lucius jetzt stand, im Seegefecht gefallen war? Aber wenigstens hatte Broughtons Stichelei bewirkt, da? Bolitho ohne viel Reue und Trauer an Hughs Tod denken konnte. Wenn er jetzt uber Broughtons Schulter zu dem breiten, sauberen Deck, dem gro?en Doppelrad mit den aufmerksamen Rudergasten und dem Steuermann hinblickte, war es schwer, sich das blutige Tohuwabohu vorzustellen, das damals, als Hugh gefallen war, dort geherrscht hatte. Mit dem eigenen Korper hatte er, im Kampfeslarm und inmitten brullender, sterbender Manner, seinen Sohn Adam gedeckt, der immer noch keine Ahnung hatte, da? Hugh sein Vater war.